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Sektion 1: Sakrale Räume im Wandel - Perspektiven der Orgeldenkmalpflege
Erfassung und Dokumentation von Orgeln
Martin Kuhnt
Das Thema systematisch erstellter Bestandsaufnahmen
und Dokumentationen von Orgeln beschäftigt alle daran
Beteiligten seit annähernd 50 Jahren - seien es die
Orgelsachverständigen, Organologen, Musiker und
nicht zuletzt die Orgelbauer selbst. Ohne Zweifel könn-
te man diesen Bogen weiterspannen und beispielsweise
den handschriftlichen Nachlass des Orgelmachers
Johann Andreas Silbermann (1712-1783) und dessen
Aufzeichnungen über zahlreiche elsässische und aus-
wärtige Orgeln im so genannten Silbermann-Archiv1 als
Fokussierung des mitteleuropäischen Orgelbaus bis
zum Ende des 18. Jahrhunderts betrachten. In der hier
vorgelegten Darstellung soll es aber um das Individuum
Orgel und die Frage gehen, welche Struktur eine
Bestandsaufnahme und Dokumentation aufweisen soll-
te. Auf der Tagung der Orgeldenkmalpfleger vom 23. bis
27. April 1957 in Weilheim/Teck hatte man versucht,
den Begriff der „denkmalwerten Orgel“ zu definieren
und die Struktur einer Bestandsaufnahme im so
genannten Weilheimer Regulativ zu formulieren. Die
Bestandsaufnahme aus damaligem Verständnis kommt
einer Inventarisierung des vorgefundenen Orgelbestan-
des gleich, ein durchaus probates Mittel, wenn es um die
reine Bestandsanalyse geht. Wesentlich bei den Über-
legungen der Orgeldenkmalpfleger war damals, dass die
Bestandsaufnahme nur bei solchen Instrumenten durch-
zuführen war, die bestimmte Voraussetzungen wie
Tonkanzellen, mechanische Traktur und den originalen
Pfeifenbestand aufweisen konnten.
Klangliche Denkmaleigenschaften waren einer
Orgel auch dann zuzugestehen, wenn sie nur einen Teil
dieser Voraussetzungen erfüllte. Instrumente ohne Ton-
kanzellen und mechanische Traktur mussten dagegen
ihre besondere, für die Erbauungszeit klangtypische
Eigenart nachweisen. Hier lässt sich leicht erkennen,
wie sehr der Faktor Klang und dessen vermeintliche
Authentizität im Zentrum der Überlegungen stand, was
gerade für die Orgeln im mittel- und süddeutschen
Raum mit der in den sechziger Jahren des 20. Jahr-
hunderts beginnenden Restaurierungswelle zum Teil
fatale Folgen hatte.
Ein namhaftes Beispiel ist hier die Holzhey-Orgel in
der ehemaligen Prämonstratenser-Klosterkirche in
Obermarchtal. Die weitgehend erhaltenen Trakturen
und die Spieleinrichtung wurden im Zuge einer Res-
taurierung 1958-62 fast gänzlich erneuert2 (Abb. 1).
Heute, fast ein halbes Jahrhundert später, werden
Bestandsaufnahmen nicht nur zur Beurteilung einer
Orgel im denkmalpflegerischen Sinn durchgeführt. Das
Spektrum reicht von der Darstellung einzelner Instru-
mente innerhalb von Orgellandschaften bis hin zu
Schadensaufnahmen in Versicherungsfällen bei Brand
oder Vandalismus. Der Anlass bestimmt daher den
Umfang der Bestandsaufnahme, wie auch deren
Systematik. Aus den Ansätzen von 1957 lassen sich fünf
Eckpfeiler einer Orgelbestandsaufnahme für die heutige
Praxis herausarbeiten:
1. Orgelbestand,
2. Erfassung,
3. Analyse,
4. Konzeption
und
5. Maßnahmen.
Betrachtet man zunächst den Orgel bestand, so
unterscheidet man zwischen Gesamt- und Teilbestand.
Ersterer ist beispielsweise für die Beurteilung als
Denkmal, bei Restaurierungs- sowie Sanierungsmaß-
nahmen unerlässlich. Bei einem in jüngster Zeit
häufiger auftretenden Befall von Schimmelpilzen wird
meist nur ein Teilbestand aufgenommen. Klammert man
die Bestandsaufnahmen bei Versicherungsschäden aus,
so ist es in der Regel unerlässlich, alle verfügbaren
Quellen sowie das politische und kulturhistorische
Umfeld mit einzubeziehen.
Die wenigsten Orgeln sind in ihrem ursprünglichen
Zustand überliefert. Möchte man Erst- bzw. Vorzustän-
de wie Disposition oder Balgmaße eruieren, sind die
entsprechenden früheren Angebote oder Verträge von
großer Bedeutung. Ohne Rechnungsbücher lassen sich
Veränderungen am Objekt nicht immer zweifelsfrei
verifizieren bzw. datieren. Die Notwendigkeit der Ein-
beziehung des kulturpolitischen Umfeldes zwingt sich
am Beispiel der Säkularisation und dem damit verbun-
denen Umbruch der klösterlichen Kultur am prägnan-
testen auf. Man denke hier nur an die breit angelegte
Musikpflege, innerhalb deren die Orgel eine wesent-
liche Rolle spielte und die nach 1803 fast gänzlich zum
Erliegen kam.
Die Erfassung des Orgelbestands kann im Rahmen
dieser Abhandlung nur angerissen werden. Sie erfolgt in
der Regel schriftlich, zeichnerisch und fotografisch. Als
besonders hilfreich haben sich das computergestützte
Zeichnen sowie die Fotogrammetrie erwiesen. Die
Fotogrammetrie ist in der Lage, komplexe Gehäuse und
Gebäudezusammenhänge detailliert zu erfassen und
darzustellen. Die hohe Maßgenauigkeit und der dafür
niedrige zeitliche Aufwand sind bei einem kon-
ventionellen Aufmaß nicht zu erreichen. Die Kom-
bination aus Gehäusefotogrammetrie und computer-
gestützt gezeichnetem Innenaufbau der Orgel gleicht
Konstruktionszeichnungen und stellt bei Res-
taurierungs- und Rekonstruktionsvorhaben eine wesent-
liche Voraussetzung dar (Abb. 2). Für die Bestandsauf-
nahme des Pfeifenwerks und des Klanges stehen
Mensurprogramme in Verbindung mit digitalen Mess-
instrumenten und Frequenzmessverfahren zur Ver-
fügung.
In den meisten Fällen begleitet die Analyse bereits
den Vorgang der Bestandserfassung. Immer wieder
muss die Frage beantwortet werden, was ist aus welcher
Zeit und in welchem Zustand vorhanden. Darüber
hinaus sind vergleichende Studien zu Werken des Orgel-
bauers, zu Werken einer Orgelschule oder innerhalb
einer Orgellandschaft zweckmäßig und hilfreich. Und
nicht zuletzt gilt es Bezüge herzustellen: einerseits
innerhalb des Orgelwerkes und seiner Beziehung zum
Sektion 1: Sakrale Räume im Wandel - Perspektiven der Orgeldenkmalpflege
Erfassung und Dokumentation von Orgeln
Martin Kuhnt
Das Thema systematisch erstellter Bestandsaufnahmen
und Dokumentationen von Orgeln beschäftigt alle daran
Beteiligten seit annähernd 50 Jahren - seien es die
Orgelsachverständigen, Organologen, Musiker und
nicht zuletzt die Orgelbauer selbst. Ohne Zweifel könn-
te man diesen Bogen weiterspannen und beispielsweise
den handschriftlichen Nachlass des Orgelmachers
Johann Andreas Silbermann (1712-1783) und dessen
Aufzeichnungen über zahlreiche elsässische und aus-
wärtige Orgeln im so genannten Silbermann-Archiv1 als
Fokussierung des mitteleuropäischen Orgelbaus bis
zum Ende des 18. Jahrhunderts betrachten. In der hier
vorgelegten Darstellung soll es aber um das Individuum
Orgel und die Frage gehen, welche Struktur eine
Bestandsaufnahme und Dokumentation aufweisen soll-
te. Auf der Tagung der Orgeldenkmalpfleger vom 23. bis
27. April 1957 in Weilheim/Teck hatte man versucht,
den Begriff der „denkmalwerten Orgel“ zu definieren
und die Struktur einer Bestandsaufnahme im so
genannten Weilheimer Regulativ zu formulieren. Die
Bestandsaufnahme aus damaligem Verständnis kommt
einer Inventarisierung des vorgefundenen Orgelbestan-
des gleich, ein durchaus probates Mittel, wenn es um die
reine Bestandsanalyse geht. Wesentlich bei den Über-
legungen der Orgeldenkmalpfleger war damals, dass die
Bestandsaufnahme nur bei solchen Instrumenten durch-
zuführen war, die bestimmte Voraussetzungen wie
Tonkanzellen, mechanische Traktur und den originalen
Pfeifenbestand aufweisen konnten.
Klangliche Denkmaleigenschaften waren einer
Orgel auch dann zuzugestehen, wenn sie nur einen Teil
dieser Voraussetzungen erfüllte. Instrumente ohne Ton-
kanzellen und mechanische Traktur mussten dagegen
ihre besondere, für die Erbauungszeit klangtypische
Eigenart nachweisen. Hier lässt sich leicht erkennen,
wie sehr der Faktor Klang und dessen vermeintliche
Authentizität im Zentrum der Überlegungen stand, was
gerade für die Orgeln im mittel- und süddeutschen
Raum mit der in den sechziger Jahren des 20. Jahr-
hunderts beginnenden Restaurierungswelle zum Teil
fatale Folgen hatte.
Ein namhaftes Beispiel ist hier die Holzhey-Orgel in
der ehemaligen Prämonstratenser-Klosterkirche in
Obermarchtal. Die weitgehend erhaltenen Trakturen
und die Spieleinrichtung wurden im Zuge einer Res-
taurierung 1958-62 fast gänzlich erneuert2 (Abb. 1).
Heute, fast ein halbes Jahrhundert später, werden
Bestandsaufnahmen nicht nur zur Beurteilung einer
Orgel im denkmalpflegerischen Sinn durchgeführt. Das
Spektrum reicht von der Darstellung einzelner Instru-
mente innerhalb von Orgellandschaften bis hin zu
Schadensaufnahmen in Versicherungsfällen bei Brand
oder Vandalismus. Der Anlass bestimmt daher den
Umfang der Bestandsaufnahme, wie auch deren
Systematik. Aus den Ansätzen von 1957 lassen sich fünf
Eckpfeiler einer Orgelbestandsaufnahme für die heutige
Praxis herausarbeiten:
1. Orgelbestand,
2. Erfassung,
3. Analyse,
4. Konzeption
und
5. Maßnahmen.
Betrachtet man zunächst den Orgel bestand, so
unterscheidet man zwischen Gesamt- und Teilbestand.
Ersterer ist beispielsweise für die Beurteilung als
Denkmal, bei Restaurierungs- sowie Sanierungsmaß-
nahmen unerlässlich. Bei einem in jüngster Zeit
häufiger auftretenden Befall von Schimmelpilzen wird
meist nur ein Teilbestand aufgenommen. Klammert man
die Bestandsaufnahmen bei Versicherungsschäden aus,
so ist es in der Regel unerlässlich, alle verfügbaren
Quellen sowie das politische und kulturhistorische
Umfeld mit einzubeziehen.
Die wenigsten Orgeln sind in ihrem ursprünglichen
Zustand überliefert. Möchte man Erst- bzw. Vorzustän-
de wie Disposition oder Balgmaße eruieren, sind die
entsprechenden früheren Angebote oder Verträge von
großer Bedeutung. Ohne Rechnungsbücher lassen sich
Veränderungen am Objekt nicht immer zweifelsfrei
verifizieren bzw. datieren. Die Notwendigkeit der Ein-
beziehung des kulturpolitischen Umfeldes zwingt sich
am Beispiel der Säkularisation und dem damit verbun-
denen Umbruch der klösterlichen Kultur am prägnan-
testen auf. Man denke hier nur an die breit angelegte
Musikpflege, innerhalb deren die Orgel eine wesent-
liche Rolle spielte und die nach 1803 fast gänzlich zum
Erliegen kam.
Die Erfassung des Orgelbestands kann im Rahmen
dieser Abhandlung nur angerissen werden. Sie erfolgt in
der Regel schriftlich, zeichnerisch und fotografisch. Als
besonders hilfreich haben sich das computergestützte
Zeichnen sowie die Fotogrammetrie erwiesen. Die
Fotogrammetrie ist in der Lage, komplexe Gehäuse und
Gebäudezusammenhänge detailliert zu erfassen und
darzustellen. Die hohe Maßgenauigkeit und der dafür
niedrige zeitliche Aufwand sind bei einem kon-
ventionellen Aufmaß nicht zu erreichen. Die Kom-
bination aus Gehäusefotogrammetrie und computer-
gestützt gezeichnetem Innenaufbau der Orgel gleicht
Konstruktionszeichnungen und stellt bei Res-
taurierungs- und Rekonstruktionsvorhaben eine wesent-
liche Voraussetzung dar (Abb. 2). Für die Bestandsauf-
nahme des Pfeifenwerks und des Klanges stehen
Mensurprogramme in Verbindung mit digitalen Mess-
instrumenten und Frequenzmessverfahren zur Ver-
fügung.
In den meisten Fällen begleitet die Analyse bereits
den Vorgang der Bestandserfassung. Immer wieder
muss die Frage beantwortet werden, was ist aus welcher
Zeit und in welchem Zustand vorhanden. Darüber
hinaus sind vergleichende Studien zu Werken des Orgel-
bauers, zu Werken einer Orgelschule oder innerhalb
einer Orgellandschaft zweckmäßig und hilfreich. Und
nicht zuletzt gilt es Bezüge herzustellen: einerseits
innerhalb des Orgelwerkes und seiner Beziehung zum