Die Siedlungen der Zwanziger Jahre,
ihre historische Bedeutung und ihre aktuelle Gefährdung
Kristiana Hartmann
Die Siedlungen der Zwanziger Jahre, Dokumente einer
engagierten staatlichen und kommunalen Sozialpolitik,
werden seit einigen Jahren als schützenswerte Ensembles
in die Listen der Denkmalämter aufgenommen. Der primär
wohnungswirtschaftliche Umgang mit diesem historischen
Baubestand, getragen vom Wunsch, Wohnungen für
Bewohner mit bescheidenerem Einkommen zu sichern,
erhält damit eine neue Dimension. Die architektonischen
Qualitäten und die zeitgenössischen, sozialpolitischen
Ziele, der künstlerische und der historische Wert der Sied-
lungen werden vermessen und dokumentiert. Wirtschaft-
lichkeitsberechnungen und Kulturpolitik geraten dadurch
scheinbar in eine antithetische Polarisierung. Allerdings
zeigen Ausstellungsaktivitäten und Publikationskam-
pagnen in Berlin, Frankfurt und Hamburg - den ausdrucks-
stärksten Städten für den Siedlungsbau der Zwanziger
Jahre -, daß der Wunsch nach einem behutsamen, werks-
und nutzungsgerechten Umgang mit diesen Baubereichen
in eine tatkräftige Strategie umgesetzt werden kann.
Ein für Mai 1985 vom Deutschen Nationalkomitee für Denk-
malschutz geplantes Symposium zum Thema „Siedlungs-
bau der Zwanziger Jahre“ verleiht diesen regionalen An-
sätzen eine übergeordnete politische Bedeutung. Die bis-
lang von Liebhabern und Spezialisten erkannten Qualitäten
sollen einer breiten Akzeptanz zugeführt werden. Die Er-
haltung, die behutsame Erneuerung — auf der Grundlage
einer sorgfältigen Bestandsanalyse - ist vielerorts als eine
Aufgabe der Gesellschafts- und Kulturpolitik von hohem
Rang anerkannt worden. Die Anstrengungen der verschie-
denen Denkmalämter, einzelne Siedlungen möglichst
umfangreich und historisch weitgehend originär zu doku-
mentieren, sind vor dem Hintergrund der aktuellen Gefähr-
dung ihres Wohnwertes vor allem aber ihres Geschichts-
und Gestaltwertes zu sehen.
In diesen Diskussionszusammenhang stellt sich die vor-
liegende Dokumentation, die sich exemplarischen Sied-
lungen des niedersächsischen Raumes widmet. Die Arbeit
versucht, die weniger bekannten Anlagen aus ihrem Dorn-
röschenschlaf zu wecken. Die kommunalen, meist von
gemeinnützigen Trägern oder Selbsthilfeorganisationen
erbrachten Bau- und Planungsergebnisse kleinerer Ge-
meinden, die als wohnungswirtschaftliche Emanzipations-
leistungen zu werten sind, sollen ins Bewußtsein gebracht
werden. Während einzelne funktionalistische Siedlungen
der Architektur-Avantgarde (Römerstadt in Frankfurt von
Ernst May, Hufeisensiedlung in Berlin von Taut und Wagner,
Weissenhofsiedlung in Stuttgart als Dokument des Inter-
nationalen Stils von Mies van der Rohe, Gropius, Le Corbu-
sier, Behrens, den Tauts, Oud etc., die Zeilensiedlung
Dammerstock in Karlsruhe von Gropius und Haesler) schon
in den gängigen Kompendien moderner Architektur auf-
genommen worden und durch diese privilegierte Wertung
kaum in Gefahr sind, hat sich die offizielle Kunst- und Bau-
geschichtsschreibung den zahlreichen Ergebnissen eben-
so energischer und engagierter Sozialpolitik in kleine-
ren Städten bisher nicht gewidmet. Darüber hinaus er-
scheint das Herauslösen eines ganz bestimmten Typus
des sozialen Wohnungsbaus der Zwischenkriegszeit, der
funktionalistischen Siedlungen mit ihrer noblen Sachlich-
keit, ihrem unterkühlten Raumverständnis aus der großen
Anzahl der anderen Siedlungen, die durch traditionalisti-
sche, expressionistische oder weniger eindeutig zu be-
stimmende Gestaltungsdetails gekennzeichnet sind, vor
dem Hintergrund der ungleich größeren Anzahl jener
„anderen“ Beispiele gefährlich und falsch zu sein. Die vor-
liegende Dokumentation möchte für den Gestalt- und
Gebrauchswert eines großen Anteils an Siedlungsbauten,
die bisher im Schatten der heroischen Moderne, auch im
Schatten der hinlänglich dokumentierten Leistungen Otto
Haeslers in Celle gestanden hat, eine Bresche schlagen.
Nichtsdestotrotz haben die Forschungen zum Siedlungs-
bau in Niedersachsen interessante planungshistorische
Fakten zutage gefördert. Die Arbeiten von Josef Stübben
und Hermann Jansen im Zuge der Stadterweiterungs-
planung von Emden sind wohl weniger bekannt als die
weitreichenden Aktivitäten von Paul Wolf und Karl Elkart für
die Stadt Hannover. Die in Hannover durchgeführte
Methode des „städtebaulichen Entwerfens am Modell“
dürfte Vorbildcharakter besessen haben. Die kommunale
Bauverwaltung gab die äußere Struktur, die kubische
Gliederung vor. Der beauftragte Architekt hatte die Auf-
gabe, seinen konkreten Vorschlag mit den Vorgaben in Ein-
klang zu bringen. Die Autorität eines Hermann Flesche im
Hinblick auf die großräumige Siedlungsplanung „Siegfried-
viertel“ in Braunschweig konnte erst durch das vertiefende
Quellenstudium belegt werden. Der Kuriosität eines Sied-
lungsarchitekten in Goslar, des Verfassers der berühmten
„Kultur-Arbeiten“, Paul Schultze-Naumburg, konnten die
Verfasser nicht widerstehen und haben die, wenn auch
sehr kleine Siedlungseinheit, im Katalog mit aufgenommen.
Insgesamt zeigt die Auswahl der Siedlungen in Nieder-
sachsen, daß während der Zwanziger Jahre ein waches
Bewußtsein für Qualität zu den vorrangigen Eigenschaften
der Architektenschaft gehörte, die meist in Übereinstim-
mung gebracht werden konnte mit einem sozialreformeri-
schen Impetus staatlicher und kommunaler Instanzen.
Diese Qualitäten lassen sich heute noch an den meisten
Siedlungen ablesen. Der Wunsch nach Erneuerung, die
Initiativen für eine mögliche Anpassung an moderne Wohn-
standards (Fenster, Türen, Isolation etc.) muß deshalb
unbedingt gekoppelt werden mit einer sorgfältigen Be-
standsaufnahme. Die vorliegende Dokumentation soll
Anregungen dazu bereithalten.
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ihre historische Bedeutung und ihre aktuelle Gefährdung
Kristiana Hartmann
Die Siedlungen der Zwanziger Jahre, Dokumente einer
engagierten staatlichen und kommunalen Sozialpolitik,
werden seit einigen Jahren als schützenswerte Ensembles
in die Listen der Denkmalämter aufgenommen. Der primär
wohnungswirtschaftliche Umgang mit diesem historischen
Baubestand, getragen vom Wunsch, Wohnungen für
Bewohner mit bescheidenerem Einkommen zu sichern,
erhält damit eine neue Dimension. Die architektonischen
Qualitäten und die zeitgenössischen, sozialpolitischen
Ziele, der künstlerische und der historische Wert der Sied-
lungen werden vermessen und dokumentiert. Wirtschaft-
lichkeitsberechnungen und Kulturpolitik geraten dadurch
scheinbar in eine antithetische Polarisierung. Allerdings
zeigen Ausstellungsaktivitäten und Publikationskam-
pagnen in Berlin, Frankfurt und Hamburg - den ausdrucks-
stärksten Städten für den Siedlungsbau der Zwanziger
Jahre -, daß der Wunsch nach einem behutsamen, werks-
und nutzungsgerechten Umgang mit diesen Baubereichen
in eine tatkräftige Strategie umgesetzt werden kann.
Ein für Mai 1985 vom Deutschen Nationalkomitee für Denk-
malschutz geplantes Symposium zum Thema „Siedlungs-
bau der Zwanziger Jahre“ verleiht diesen regionalen An-
sätzen eine übergeordnete politische Bedeutung. Die bis-
lang von Liebhabern und Spezialisten erkannten Qualitäten
sollen einer breiten Akzeptanz zugeführt werden. Die Er-
haltung, die behutsame Erneuerung — auf der Grundlage
einer sorgfältigen Bestandsanalyse - ist vielerorts als eine
Aufgabe der Gesellschafts- und Kulturpolitik von hohem
Rang anerkannt worden. Die Anstrengungen der verschie-
denen Denkmalämter, einzelne Siedlungen möglichst
umfangreich und historisch weitgehend originär zu doku-
mentieren, sind vor dem Hintergrund der aktuellen Gefähr-
dung ihres Wohnwertes vor allem aber ihres Geschichts-
und Gestaltwertes zu sehen.
In diesen Diskussionszusammenhang stellt sich die vor-
liegende Dokumentation, die sich exemplarischen Sied-
lungen des niedersächsischen Raumes widmet. Die Arbeit
versucht, die weniger bekannten Anlagen aus ihrem Dorn-
röschenschlaf zu wecken. Die kommunalen, meist von
gemeinnützigen Trägern oder Selbsthilfeorganisationen
erbrachten Bau- und Planungsergebnisse kleinerer Ge-
meinden, die als wohnungswirtschaftliche Emanzipations-
leistungen zu werten sind, sollen ins Bewußtsein gebracht
werden. Während einzelne funktionalistische Siedlungen
der Architektur-Avantgarde (Römerstadt in Frankfurt von
Ernst May, Hufeisensiedlung in Berlin von Taut und Wagner,
Weissenhofsiedlung in Stuttgart als Dokument des Inter-
nationalen Stils von Mies van der Rohe, Gropius, Le Corbu-
sier, Behrens, den Tauts, Oud etc., die Zeilensiedlung
Dammerstock in Karlsruhe von Gropius und Haesler) schon
in den gängigen Kompendien moderner Architektur auf-
genommen worden und durch diese privilegierte Wertung
kaum in Gefahr sind, hat sich die offizielle Kunst- und Bau-
geschichtsschreibung den zahlreichen Ergebnissen eben-
so energischer und engagierter Sozialpolitik in kleine-
ren Städten bisher nicht gewidmet. Darüber hinaus er-
scheint das Herauslösen eines ganz bestimmten Typus
des sozialen Wohnungsbaus der Zwischenkriegszeit, der
funktionalistischen Siedlungen mit ihrer noblen Sachlich-
keit, ihrem unterkühlten Raumverständnis aus der großen
Anzahl der anderen Siedlungen, die durch traditionalisti-
sche, expressionistische oder weniger eindeutig zu be-
stimmende Gestaltungsdetails gekennzeichnet sind, vor
dem Hintergrund der ungleich größeren Anzahl jener
„anderen“ Beispiele gefährlich und falsch zu sein. Die vor-
liegende Dokumentation möchte für den Gestalt- und
Gebrauchswert eines großen Anteils an Siedlungsbauten,
die bisher im Schatten der heroischen Moderne, auch im
Schatten der hinlänglich dokumentierten Leistungen Otto
Haeslers in Celle gestanden hat, eine Bresche schlagen.
Nichtsdestotrotz haben die Forschungen zum Siedlungs-
bau in Niedersachsen interessante planungshistorische
Fakten zutage gefördert. Die Arbeiten von Josef Stübben
und Hermann Jansen im Zuge der Stadterweiterungs-
planung von Emden sind wohl weniger bekannt als die
weitreichenden Aktivitäten von Paul Wolf und Karl Elkart für
die Stadt Hannover. Die in Hannover durchgeführte
Methode des „städtebaulichen Entwerfens am Modell“
dürfte Vorbildcharakter besessen haben. Die kommunale
Bauverwaltung gab die äußere Struktur, die kubische
Gliederung vor. Der beauftragte Architekt hatte die Auf-
gabe, seinen konkreten Vorschlag mit den Vorgaben in Ein-
klang zu bringen. Die Autorität eines Hermann Flesche im
Hinblick auf die großräumige Siedlungsplanung „Siegfried-
viertel“ in Braunschweig konnte erst durch das vertiefende
Quellenstudium belegt werden. Der Kuriosität eines Sied-
lungsarchitekten in Goslar, des Verfassers der berühmten
„Kultur-Arbeiten“, Paul Schultze-Naumburg, konnten die
Verfasser nicht widerstehen und haben die, wenn auch
sehr kleine Siedlungseinheit, im Katalog mit aufgenommen.
Insgesamt zeigt die Auswahl der Siedlungen in Nieder-
sachsen, daß während der Zwanziger Jahre ein waches
Bewußtsein für Qualität zu den vorrangigen Eigenschaften
der Architektenschaft gehörte, die meist in Übereinstim-
mung gebracht werden konnte mit einem sozialreformeri-
schen Impetus staatlicher und kommunaler Instanzen.
Diese Qualitäten lassen sich heute noch an den meisten
Siedlungen ablesen. Der Wunsch nach Erneuerung, die
Initiativen für eine mögliche Anpassung an moderne Wohn-
standards (Fenster, Türen, Isolation etc.) muß deshalb
unbedingt gekoppelt werden mit einer sorgfältigen Be-
standsaufnahme. Die vorliegende Dokumentation soll
Anregungen dazu bereithalten.
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