Der erzählende Zyklus aus dem Leben des heiligen Ladislaus im ikonographischen Programm
der Kirchen von Genier
(Zusammenfassung)
Der auf die Kirchenwände gemalte mittelalterliche Zyklus
aus dem Leben des Heiligen wird in der kunstgeschichtlichen
Literatur üblicherweise als „Ladislauslegende“ bezeichnet, ob-
wohl in seiner sichtbaren Gestalt nur schwerlich die Struktur-
merkmale der Legende als einer Gattung der mittelalterlichen
Literatur zu erkennen sind. Der Heilige ist in blutigen Kämpfen
dargestellt und Wunder kann man kaum finden. Diese Eigenar-
tigkeit wird noch deutlicher, wenn man das in der Wandmalerei
anschaulich Gegebene mit den Illustrationen der Ladislausle-
gende im sog. Ungarischen Legendarium (Codex vat. lat. 8541),
die u. a. mehrere Wunder beinhalten, vergleicht. Hierzu kommt
noch die Tatsache, daß die bekannten liturgischen Texte im Un-
terschied zu den Chroniken die in der Wandmalerei dargestellte
Geschichte nicht enthalten. Im Vergleich mit den Texten ist mit-
unter auch die leicht veränderte Rolle des Mädchens auffällig -
in den Bildern köpft sie selbst den Heiden, und nicht der Heili-
ge, wie es die älteren Textredaktionen sehen. Möglicherweise
hängt die Änderung ihrer Rolle nicht nur mit der sich im allge-
meinen ändernden Einstellung der damaligen Gesellschaft den
Frauen gegenüber zusammen, sondern auch mit der Anwendung
des neuen Mediums: erst wenn man den Heiligen malen sollte,
vzie er einen bereits überwundenen Feind tötet, könnte die Rolle
bei der Hinrichtung vertauscht werden, um die möglicherweise
auffällig störenden Eigenschaften des Heiligen aus seinem Bild
zu entfernen.
Aus dem Vergleich mit der eigentlichen Legende ergibt sich
auch die Frage, warum die „Legende“ in mittelalterlichen Kir-
chen so eigenartig dargestellt wurde. Die Beantwortung dieser
Frage ist nur aufgrund einer Analyse der ikonographischen Prog-
ramme der Kirchen in ihrer Komplexität zu gewinnen. Überra-
schenderweise haben die bisherigen Untersuchungen des The-
mas eine solche Komplexität nicht angestrebt. In der vorliegen-
den Studie wird eine derartige Analyse für die drei Kirchen der
Region Gemer (heute Slowakei) durchgefuhrt, in denen das The-
ma begegnet.
Das erste Beispiel ist die auch chronologisch älteste Ausma-
lung der Dorfkirche in Kraskovo. Der Zyklus ist hier auf der
nördlichen Wand dargestellt, die die größte Fläche und beste
Beleuchtung bietet und sich darüber hinaus direkt dem Eingang
gegenüber befindet. Das Programm der Wand wird im Unter-
schied zur Ausmalung des Triumphbogens und des Presbyte-
riums als eine Sphäre des Historischen gedeutet, in der u. a.
auch bedeutende Anspielungen auf die aktuelle Kreuzzugsideo-
logie (Anbetung der Könige, hl. Helena) zu beobachten sind.
Die Ausmalung des Triumphbogens auf der Seite des Schiffs
beinhaltet die Themen, die mit einem Übergang vom Bereich
des Historischen in das im Presbyterium dargestellte überzeit-
lich-transzendente Himmlische Jerusalem Zusammenhängen, sei
es von oben nach unten (Verkündigung) oder umgekehrt (Schutz-
mantelmadonna, hl. Michael mit der Seelenwaage). Die spezi-
fisch religiösen Bedeutungen werden also in dem logisch zu-
sammenhängenden Programm vor allem in diesen Sphären des
Transitiven und des Transzendentalen deutlich genug dargestellt.
Deshalb war es nicht nötig, sie bei der Darstellung des Heiligen-
lebens hervorzuheben, was die Wahl gerade der eigenartigen und
spezifischen Motive begründet. Diese hatten nämlich auch eine
Funktion, die andere Themen kaum übernehmen konnten: Ich
bezeichne sie als eine ideologische Transformation des Zeichens
potentieller Gewaltanwendung. Eine ähnliche Funktion wurde
in den neuesten Untersuchungen des Rolandliedes (cf. Anm. 75)
detailliert herausgearbeitet. In einer Dorfkirche kann man zwar
nicht mit allen subtilen Bedeutungsverschiebungen rechnen,
einige sind aber doch in Betracht zu ziehen: der in den Bildern
aus dem Ladislausleben dargestellte Ritter war äußerlich sicher-
lich jenen Rittern ähnlich, die aus ihren Burgen unter das unbe-
waffnete Bauernvolk herauszureiten pflegten, und die diese
ihnen ähnliche Gestalt in den Bildern bewundern konnten. Die
bäuerlichen Besucher mußten auch diese Ähnlichkeit sehen
können. Im Unterschied zu ihrer Alltagserfahrung aber war der
dargestellte Kämpfer heilig und bekämpfte die anderen, also die
heidnischen Feinde des Landes. Er wurde auch als ein Beschützer
des von einem Heiden entführten Mädchens vorgestellt, das
Ladislaus im Kampfe vorbildlich half und danach dessen Kopf
in seinem Schoß liegen ließ. Die Transformation orientierte also
alle bedrohenden Momente nach außen, hob die positive soziale
Funktion der Ritter hervor und stellte ein Vorbild dar, wie die
Beschützer zu akzeptieren sind. Das Vorhandensein dieses Mo-
ments zusammen mit der in höfischen Kreisen modischen und
möglicherweise auch hier in Betracht kommenden Frauenbewun-
derung gibt dem Frauenbild der „Legende“ eine gewisse Ambi-
valenz: Die Frau konnte entweder als ein Vorbild oder als ein
Objekt der Begierde wahrgenommen werden. Die ideologische
Transformation war nicht nur als eine propagandistische Unter-
stützung der aktuellen Machtverhältnisse, sondern auch als eine
sinnvolle und psychologisch bedeutende Erklärung einiger po-
tentiell störender Aspekte des damaligen Lebens wichtig. Die
Theorie der ideologischen Transformation, wie ich sie für Kras-
kovo formulierte, kann einige Fragen beantworten, die bisher
ohne eine wirklich plausible Lösung blieben. Erstens waren die
älteren Theorien nicht in der Lage, eine einleuchtende Erklä-
rung für jede Szene im Zyklus zu geben. Mit der Theorie der
ideologischen Transformation kann man jede Szene in ihrem
aktuellen Sinn verstehen. Zweitens konnten alle bisherigen Theo-
rien nicht erklären, warum diese im mittelalterlichen Ungarn so
bedeutende Geschichte ausgerechnet in kleinen Dorfkirchen und
nicht etwa in den Städten dargestellt wurde. Wenn wir den Zyk-
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der Kirchen von Genier
(Zusammenfassung)
Der auf die Kirchenwände gemalte mittelalterliche Zyklus
aus dem Leben des Heiligen wird in der kunstgeschichtlichen
Literatur üblicherweise als „Ladislauslegende“ bezeichnet, ob-
wohl in seiner sichtbaren Gestalt nur schwerlich die Struktur-
merkmale der Legende als einer Gattung der mittelalterlichen
Literatur zu erkennen sind. Der Heilige ist in blutigen Kämpfen
dargestellt und Wunder kann man kaum finden. Diese Eigenar-
tigkeit wird noch deutlicher, wenn man das in der Wandmalerei
anschaulich Gegebene mit den Illustrationen der Ladislausle-
gende im sog. Ungarischen Legendarium (Codex vat. lat. 8541),
die u. a. mehrere Wunder beinhalten, vergleicht. Hierzu kommt
noch die Tatsache, daß die bekannten liturgischen Texte im Un-
terschied zu den Chroniken die in der Wandmalerei dargestellte
Geschichte nicht enthalten. Im Vergleich mit den Texten ist mit-
unter auch die leicht veränderte Rolle des Mädchens auffällig -
in den Bildern köpft sie selbst den Heiden, und nicht der Heili-
ge, wie es die älteren Textredaktionen sehen. Möglicherweise
hängt die Änderung ihrer Rolle nicht nur mit der sich im allge-
meinen ändernden Einstellung der damaligen Gesellschaft den
Frauen gegenüber zusammen, sondern auch mit der Anwendung
des neuen Mediums: erst wenn man den Heiligen malen sollte,
vzie er einen bereits überwundenen Feind tötet, könnte die Rolle
bei der Hinrichtung vertauscht werden, um die möglicherweise
auffällig störenden Eigenschaften des Heiligen aus seinem Bild
zu entfernen.
Aus dem Vergleich mit der eigentlichen Legende ergibt sich
auch die Frage, warum die „Legende“ in mittelalterlichen Kir-
chen so eigenartig dargestellt wurde. Die Beantwortung dieser
Frage ist nur aufgrund einer Analyse der ikonographischen Prog-
ramme der Kirchen in ihrer Komplexität zu gewinnen. Überra-
schenderweise haben die bisherigen Untersuchungen des The-
mas eine solche Komplexität nicht angestrebt. In der vorliegen-
den Studie wird eine derartige Analyse für die drei Kirchen der
Region Gemer (heute Slowakei) durchgefuhrt, in denen das The-
ma begegnet.
Das erste Beispiel ist die auch chronologisch älteste Ausma-
lung der Dorfkirche in Kraskovo. Der Zyklus ist hier auf der
nördlichen Wand dargestellt, die die größte Fläche und beste
Beleuchtung bietet und sich darüber hinaus direkt dem Eingang
gegenüber befindet. Das Programm der Wand wird im Unter-
schied zur Ausmalung des Triumphbogens und des Presbyte-
riums als eine Sphäre des Historischen gedeutet, in der u. a.
auch bedeutende Anspielungen auf die aktuelle Kreuzzugsideo-
logie (Anbetung der Könige, hl. Helena) zu beobachten sind.
Die Ausmalung des Triumphbogens auf der Seite des Schiffs
beinhaltet die Themen, die mit einem Übergang vom Bereich
des Historischen in das im Presbyterium dargestellte überzeit-
lich-transzendente Himmlische Jerusalem Zusammenhängen, sei
es von oben nach unten (Verkündigung) oder umgekehrt (Schutz-
mantelmadonna, hl. Michael mit der Seelenwaage). Die spezi-
fisch religiösen Bedeutungen werden also in dem logisch zu-
sammenhängenden Programm vor allem in diesen Sphären des
Transitiven und des Transzendentalen deutlich genug dargestellt.
Deshalb war es nicht nötig, sie bei der Darstellung des Heiligen-
lebens hervorzuheben, was die Wahl gerade der eigenartigen und
spezifischen Motive begründet. Diese hatten nämlich auch eine
Funktion, die andere Themen kaum übernehmen konnten: Ich
bezeichne sie als eine ideologische Transformation des Zeichens
potentieller Gewaltanwendung. Eine ähnliche Funktion wurde
in den neuesten Untersuchungen des Rolandliedes (cf. Anm. 75)
detailliert herausgearbeitet. In einer Dorfkirche kann man zwar
nicht mit allen subtilen Bedeutungsverschiebungen rechnen,
einige sind aber doch in Betracht zu ziehen: der in den Bildern
aus dem Ladislausleben dargestellte Ritter war äußerlich sicher-
lich jenen Rittern ähnlich, die aus ihren Burgen unter das unbe-
waffnete Bauernvolk herauszureiten pflegten, und die diese
ihnen ähnliche Gestalt in den Bildern bewundern konnten. Die
bäuerlichen Besucher mußten auch diese Ähnlichkeit sehen
können. Im Unterschied zu ihrer Alltagserfahrung aber war der
dargestellte Kämpfer heilig und bekämpfte die anderen, also die
heidnischen Feinde des Landes. Er wurde auch als ein Beschützer
des von einem Heiden entführten Mädchens vorgestellt, das
Ladislaus im Kampfe vorbildlich half und danach dessen Kopf
in seinem Schoß liegen ließ. Die Transformation orientierte also
alle bedrohenden Momente nach außen, hob die positive soziale
Funktion der Ritter hervor und stellte ein Vorbild dar, wie die
Beschützer zu akzeptieren sind. Das Vorhandensein dieses Mo-
ments zusammen mit der in höfischen Kreisen modischen und
möglicherweise auch hier in Betracht kommenden Frauenbewun-
derung gibt dem Frauenbild der „Legende“ eine gewisse Ambi-
valenz: Die Frau konnte entweder als ein Vorbild oder als ein
Objekt der Begierde wahrgenommen werden. Die ideologische
Transformation war nicht nur als eine propagandistische Unter-
stützung der aktuellen Machtverhältnisse, sondern auch als eine
sinnvolle und psychologisch bedeutende Erklärung einiger po-
tentiell störender Aspekte des damaligen Lebens wichtig. Die
Theorie der ideologischen Transformation, wie ich sie für Kras-
kovo formulierte, kann einige Fragen beantworten, die bisher
ohne eine wirklich plausible Lösung blieben. Erstens waren die
älteren Theorien nicht in der Lage, eine einleuchtende Erklä-
rung für jede Szene im Zyklus zu geben. Mit der Theorie der
ideologischen Transformation kann man jede Szene in ihrem
aktuellen Sinn verstehen. Zweitens konnten alle bisherigen Theo-
rien nicht erklären, warum diese im mittelalterlichen Ungarn so
bedeutende Geschichte ausgerechnet in kleinen Dorfkirchen und
nicht etwa in den Städten dargestellt wurde. Wenn wir den Zyk-
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