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Ars: časopis Ústavu Dejín Umenia Slovenskej Akadémie Vied — 46.2013

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Nr. 1
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Baert, Barbara: Nymphe (Wind): der Raum zwischen Motiv und Affekt in der frühen Neuzeit (zugleich ein Beitrag zur Aby Warburg-Forschung)
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https://doi.org/10.11588/diglit.52949#0041
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in der chorá finden. Sie führte eine neue Grammatik
der Affektgeladenheit ein, die entsteht, wenn sich das
Stilgefühlt einer Kultur verändert. Der alte Stil wird
als leer und unpassend empfunden. In Ghirlanda-
ios Zyklus ist die tanzende Nymphe aber noch ein
Schwellenwesen, das den Übergang zwischen zwei
Generationen innerhalb der Quattrocentro-Malerei
ankündigt und vorsichtig im ikonischen Raum mar-
kiert. Bei Botticelli ist dieser Humus zurpsychijimp-
lodiert, die Vandenbroeck als die excessive Belebung
der chora deutet: nicht verunreinigt, transitorisch,
transgressif, ja, „verbriesend“.105
Wie entleert und theatralisch diese Bildsprache
auch scheint, sie vermittelt dennoch die Epiphanie
der unfasslichen Essenz, die die Nymphe selbst ist:
an der Oberfläche, aber prophetisch zugleich. Täu-
sche Dich nicht in Ninfa, der Irreführenden. Sie wird
- anders als ihre zeitgenössischen Bewunderer und
sogar der moderne Betrachter — niemals in die Tiefe
des Abyss taumeln. Als nympholeptisches Wesen hat
sie die Kraft, allem und jedem zu entwischen, auch
dem Zuschauer, der sie zufällig „trifft“.106 Denn sie
ist schwer und leicht zugleich, plastisch und diaphan,
aus Fleisch und bloßem Stoff, aus Wind und Schaum.
Ihre immanente Doppeldeutigkeit hatte schon die
Kultur des Quattrocento erkannt, die sich ihrer Schi-
zophrenie bedient: Das Mädchen tanzend mit der
Obsternte anlässlich einer freudigen Geburt und die
Kopfträgerin, in deren intimen tänzerischen Raum das
Blut eines Mannes strömte. Mit ihrem Doppelcha-

105Vielleicht erklärt dieser eruptive Charakter auch, dass der
nympholeptische Stil zwar heftig war, aber nur kurze Zeit
andauerte, eine Aufruhr, die vom horror vacui der Internatio-
nalen Gotik des Quattrocento sehr schnell beruhigt wurde.
Siehe auch KEMP, M.: From Mimesis to Fantasia: The Qu-
attrocento Vocabulary of Creation, Inspiration and Genius
in the Visual Arts. In: Viator, 7, 1977, S. 347-398.
'“Ich kann hier den Topos vom Zusammentreffen mit der
schlafenden Nymphe nur streifen. Dieser wurde im 15. Jahrhun-
dert ausgehend vom Gerücht, dass irgendwo an der Donau
ein Bild der schlafenden Nymphe mit einer merkwürdigen
Inschrift zu besuchen sei, entwickelt. Die Nymphe bat den
Zuschauer, sie schlafen und ruhig von ihrer Quelle trinken
zu lassen. Das Motiv des Schlafes und der Stille, wie auch die
Beziehung mit dem nymphischen locus genuiflß, einer Metapher
für den Ort der Künste und der Beziehung zu dem Besu-
cher-Voyeur, der diese Künste aktivieren, aber auch in ihrer
Immanenz respektieren kann (der Schlaf, der Traumzustand,
der Akt), werde ich andern Orts darlegen. Siehe KURZ, O.:

rakter bildet das Böse eine Luftspiegelung vor dem
Guten und umgekehrt. Sie ist eine Sinnenbezauberin
in Zeit und Raum, in diesem Sinn hermeneutisch
unerreichbar: nympholeptisch.
Sobald unser „Elementargeist der Göttin im Exit1,
den Übertritt von ihrem alten mythischen genius
loci zu ihrem neuen bildkünstlerischen genius loci in
Florenz vollzogen hatte, sollte sie ihn mit der ihr
eigentümlichen Magie bekräftigen: Begeisterung
und Verwirrung. Nach Aby Warburg ist seine Ninfa
auch eine Quintessenz der Seelenregung. Dieses Epi-
theton formt eine seiner vielen Versuche, sie endlich
beschreiben zu können: er beruft sich nämlich auf
das Bild des Schmetterlings. Ich zitiere aus einem
Protokoll von Doktor Ludwig Binswanger in Kreuz-
lingen, wo Aby Warburg sich von 1821 bis 1824
aufhielt: „Der Patient beschäftigt sich mit der Verehrung
von Motten und Schmetterlingen, die nachts in seine Kammer
fliegen. Stundenlang spricht er mit ihnen; er nennt sie kleine
Seelentierchen und er erzählt ihnen über sein Eeiden.“ Und
Aby Warburg selbst: „Der schönste Schmetterling, den ich
jemals fing, entkam plötfiich aus dem Glas und flog heiter
davon, aufwärts in den blauen Himmel Jetfi müsste ich ihn
abermals fangen, aber ich bin nicht ausgeruhtgenug für solche
fiir Erde gehaltene Bewegungskraft. Oder um mich genauer
ausfitdrücken: ich würde fivar wollen, aber mein geistiger
Zustand erlaubt es mir nicht. [...] Ich würde so gerne, bei
der Annäherung unseres leichtfüßigen Mädchens, fröhlich mit
ihr mit flattern, aber solch hochfliegenden Bewegungen sind
mir nicht geschenkt.“™1
Huius Nympha Loci. A Pseudo-Classical Inscription and a
Drawing by Dürer. In: Journal of the Warburg and Courtauld
Institutes, 16, 1953, Nr. 3-4, S. 171-177; BARKAN, L: The
Beholder’s Tale: Ancient Sculpture, Renaissance Narratives.
In: Représentations, 44, 1993, S. 133-166.
107 Siehe auch Anm. 53; mit Dank an Prof. Dr. Stéphane Symons,
K. U. Leuven, der eine Veröffentlichung vorbereitet — SY-
MONS, S.: Butterflies and Souls in!as Movement: Aby Warburg’s
Seelentierchen. Siehe auch CAILLOIS, R.: Méduse et Cie.
In: CAILLOIS, R.: Œuvres. Paris, 2008, S. 479-558, der in
seinem Aufsatz die Verbindung zwischen Medusa und der
flatternden, austricksenden und vibrierenden Bewegungen
des Schmetterlingsfügels zieht. Der Schmetterling oder die
Motte als Seelentierchen, dass ein Bild für die Psycho-An-
thropologie der Laune und der Launenhaftigkeit ist, wurde
erforscht von VANDENBROECK, P.: Zur Herkunft und
Verwurzelung der „Grillen“. In: De yeventiende eeuw, 3, 1987,
S. 52-84. Der Schmetterling als nymphische Phantasie ist ver-
wurzelt in der Tatsache, dass im Griechischen Schmetterling,

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