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ISABELLA WOLDT
seinem Werk aus der Perspektive der eigenen Kunsttheorie Schwachen
erkannte und diese aufs auBerste verurteilte. Raffael war fur Shaftesbu-
ry zwar der direkte Nachfolger solcher antiken Meister wie Apelles,
doch auch der Italiener sei bereits ubertroffen worden, z. B. im Kolorit72.
Shaftesbury meint offensichtlich Nicolas Poussin.
Poussin steht ais nachster in der Folgę der Entwicklung der moder-
nen Kunst, wie sie sich Shaftesbury vorstellt. Der Philosoph legt sein
Augenmerk zunachst auf Poussins Charakter. Er hatte sich, im Gegen-
satz zu Raffael, dem auBeren Druck der Auftraggeber, in diesem Falle
des franzósischen Hofes, nicht gebeugt. Dieses Verhalten bezeichnet
Shaftesbury ais Treue zur Kunst („Fidelity to Art”)73: Entschlossen, seine
Arbeit und seinen Stil nicht zu verraten, habe sich Poussin in Rom einge-
biirgert74.
Hinsichtlich seiner Arbeit bewundert und kritisiert Shaftesbury den
Meister zugleich, wobei der Tadel sich lediglich auf die kleinen MaBe
seiner Gemalde bezieht - „pieces-de-cabinet”. In solchen Werken komme
der schlechte Geschmack des Hofes zum Ausdruck. Die Damen wiirden
lediglich kleine „Baby-GróBen” („Baby-sizes”) lieben. AuBerdem waren
die anderen groBen Raume in den Kirchen und Palasten mit zahlreichen
akzeptablen Werken der Carracci-Schule ausgestattet, und die Decken-
malerei der Treppenhauser und Fresken wiirden Poussins Strenge,
seinem echten Genius - der sich in den Tafelbildern, dem Studium der
Antike, der Natur, der Philosophie und seiner Bildung auBerte - zuwi-
derlaufen75.
In seiner Kritik ist Shaftesbury soweit konseąuent, daB er ein Werk
in einer Hinsicht tadelt, in einer anderen lobt. Das betrifft z.B. das
Gemalde Die Pest zu Aschdod (Abb. 15). Das Gemalde stellt die Ge-
schichte des Raubes der Bundeslade der Israeliten durch die Philister
dar (I Sam. 5, 6). Aufgestellt im Gotzentempel der Stadt Aschdod brachte
sie eine Seuche iiber die Stadtbewohner. Das Gemalde zeigt die Situa-
tion zwei Tage nach der Aufstellung der Bundeslade, nachdem die Got-
zenstatue erneut umgefallen war und ihr die Hande und der Kopf abge-
fallen waren (links im Bild), wahrend in der Stadt die Seuche bereits
ausgebrochen ist (im Vordergrund leidende und sterbende oder bereits
yerstorbene Menschen)76. Shaftesbury auBert sich einerseits kritisch
u SE, 1,5, S. 206.
73 SE, 1,5, S. 212.
74 Ebd.
75 SE, 1,5, S. 212 f.
76 O. Batschmann, Nicolas Poussin. Dialectics of Paintings, London 1990, S. 119 f.
(Batschmann 1990).
ISABELLA WOLDT
seinem Werk aus der Perspektive der eigenen Kunsttheorie Schwachen
erkannte und diese aufs auBerste verurteilte. Raffael war fur Shaftesbu-
ry zwar der direkte Nachfolger solcher antiken Meister wie Apelles,
doch auch der Italiener sei bereits ubertroffen worden, z. B. im Kolorit72.
Shaftesbury meint offensichtlich Nicolas Poussin.
Poussin steht ais nachster in der Folgę der Entwicklung der moder-
nen Kunst, wie sie sich Shaftesbury vorstellt. Der Philosoph legt sein
Augenmerk zunachst auf Poussins Charakter. Er hatte sich, im Gegen-
satz zu Raffael, dem auBeren Druck der Auftraggeber, in diesem Falle
des franzósischen Hofes, nicht gebeugt. Dieses Verhalten bezeichnet
Shaftesbury ais Treue zur Kunst („Fidelity to Art”)73: Entschlossen, seine
Arbeit und seinen Stil nicht zu verraten, habe sich Poussin in Rom einge-
biirgert74.
Hinsichtlich seiner Arbeit bewundert und kritisiert Shaftesbury den
Meister zugleich, wobei der Tadel sich lediglich auf die kleinen MaBe
seiner Gemalde bezieht - „pieces-de-cabinet”. In solchen Werken komme
der schlechte Geschmack des Hofes zum Ausdruck. Die Damen wiirden
lediglich kleine „Baby-GróBen” („Baby-sizes”) lieben. AuBerdem waren
die anderen groBen Raume in den Kirchen und Palasten mit zahlreichen
akzeptablen Werken der Carracci-Schule ausgestattet, und die Decken-
malerei der Treppenhauser und Fresken wiirden Poussins Strenge,
seinem echten Genius - der sich in den Tafelbildern, dem Studium der
Antike, der Natur, der Philosophie und seiner Bildung auBerte - zuwi-
derlaufen75.
In seiner Kritik ist Shaftesbury soweit konseąuent, daB er ein Werk
in einer Hinsicht tadelt, in einer anderen lobt. Das betrifft z.B. das
Gemalde Die Pest zu Aschdod (Abb. 15). Das Gemalde stellt die Ge-
schichte des Raubes der Bundeslade der Israeliten durch die Philister
dar (I Sam. 5, 6). Aufgestellt im Gotzentempel der Stadt Aschdod brachte
sie eine Seuche iiber die Stadtbewohner. Das Gemalde zeigt die Situa-
tion zwei Tage nach der Aufstellung der Bundeslade, nachdem die Got-
zenstatue erneut umgefallen war und ihr die Hande und der Kopf abge-
fallen waren (links im Bild), wahrend in der Stadt die Seuche bereits
ausgebrochen ist (im Vordergrund leidende und sterbende oder bereits
yerstorbene Menschen)76. Shaftesbury auBert sich einerseits kritisch
u SE, 1,5, S. 206.
73 SE, 1,5, S. 212.
74 Ebd.
75 SE, 1,5, S. 212 f.
76 O. Batschmann, Nicolas Poussin. Dialectics of Paintings, London 1990, S. 119 f.
(Batschmann 1990).