DANZIG AM MITTELMEER. DIE BRONZESKULPTUR DES NEPTUNBRUNNENS
43
turen seiner Zeichnung, wie sie aus der Bewegung der zeichnenden Hand
heraus, aus Schwüngen und Gegenschwüngen, entwickelt sind, sehen
wir die Rosse als Verkörperungen der Wogen und Strudel des bewegten
Meeres. Der Kunsthistoriker Cecil Gould bemerkte, daß es Leonardo
gefiel, auf wenigstens einem seiner turbulenten Blätter zerstörerischer
Orkane und Sintfluten veritable Zephire in den Wolkenmassen figurie-
ren zu lassen13. Leonardo insistiert, nicht nur die Kunst, sondern auch
die mythologischen Figuren auf Naturerfahrung zurückzuführen. Die
verschlungenen Kurvaturen der Seepferde, die Richtungskontraste der
Neptunfigur sind Mimesis der Meeresnatur, wie in den Orkan- und Sint-
flutbildern die aus den kreisenden Bewegungen der zeichnenden Hand
entwickelten Spiralformen die Dynamik des Geschehens und indirekt die
darin wirkenden Kräfte und Gegenkräfte illustrieren. Die Kunst will
schließlich alles, was auf bloßer Memorierung des schon Gewußten, der
Mythologie oder der Dichtung basiert, hinter sich lassen. Dem Betrach-
ter soll nicht nur die Bezeichnung „Neptun” einfallen, er soll vielmehr an
den visuellen Qualitäten des Bildes erkennen, wie Neptun sich seiner
Natur nach verhalte.
Anders als Leonardos Neptun-Skizze, ist Marcantonio Raimondis
Titelkupfer (Abb. 3) zu einer beabsichtigten Ausgabe der Aeneis ein-
deutig auf Vergils Qu.os .Ego-Episode gemünzt. Juno entfesselte gegen die
Flotte der seegeborenen Trojaner einen Sturm. Neptun erscheint macht-
voll auf seinem Wagen, entscheidet mit einem knappen Quos egou („Ich
werd’ euch ...”), gerichtet gegen die feindlichen Windgötter, die Situation
zugunsten der Trojaner. Die nicht zuende gesprochene Proposition ist
das sprachliche Äquivalent einer machtvollen Drohgebärde, die Raimon-
dis Kupferstich visualisiert, indem sein Neptun, den Sturmwolken zuge-
wandt, den Dreizack schwingt. In Leonardos Skizze dagegen richtet der
Gott den Dreizack nach unten (wie es auch an dem Danziger Neptun auf-
fällt), als wolle er mit einem kräftigen Stoß das Meer aufwühlen, dessen
Toben ohnehin die Seepferde in ihrem Ungestüm veranschaulichen15.
13 Windsor Castle, Royal Library, Inv. 12376r, Feder über schwarzer Kreide, auf hell
grundiertem Papier, 27 x 40,8 cm; vgl. F. Zöllner, op. cit., S. 534, Abb. 463. Zu den in der
Leonardo-Literatur oft als „Visionen” apostrophierten Texten und Zeichnungen der
Orkane und Flutkatastrophen siehe J. Gantner, Leonardos Visionen von der Sintflut, und
vom Untergang der Welt. Geschichte einer künstlerischen Idee, Bern 1958; A. Marinoni,
(in: ) Leonardo da Vinci. Scritti letterali, Hg. A. Marinoni, Milano 1987, S. 29—31, 176-183;
M. Kemp, op. cit., S. 315-319.
14 Vergil, Aeneis I, 133 ff.
15 M.J. Marek, Ekphrasis und Herrscherallegorie. Antike Bildbeschreibungen im Werk
Tizians und Leonardos, Worms 1985, S. 75-104, besonders S. 78, sieht Leonardos ver-
schollene Bilderfindung durch das bei Vasari zitierte Epigramm auf Vergils Quos ego
43
turen seiner Zeichnung, wie sie aus der Bewegung der zeichnenden Hand
heraus, aus Schwüngen und Gegenschwüngen, entwickelt sind, sehen
wir die Rosse als Verkörperungen der Wogen und Strudel des bewegten
Meeres. Der Kunsthistoriker Cecil Gould bemerkte, daß es Leonardo
gefiel, auf wenigstens einem seiner turbulenten Blätter zerstörerischer
Orkane und Sintfluten veritable Zephire in den Wolkenmassen figurie-
ren zu lassen13. Leonardo insistiert, nicht nur die Kunst, sondern auch
die mythologischen Figuren auf Naturerfahrung zurückzuführen. Die
verschlungenen Kurvaturen der Seepferde, die Richtungskontraste der
Neptunfigur sind Mimesis der Meeresnatur, wie in den Orkan- und Sint-
flutbildern die aus den kreisenden Bewegungen der zeichnenden Hand
entwickelten Spiralformen die Dynamik des Geschehens und indirekt die
darin wirkenden Kräfte und Gegenkräfte illustrieren. Die Kunst will
schließlich alles, was auf bloßer Memorierung des schon Gewußten, der
Mythologie oder der Dichtung basiert, hinter sich lassen. Dem Betrach-
ter soll nicht nur die Bezeichnung „Neptun” einfallen, er soll vielmehr an
den visuellen Qualitäten des Bildes erkennen, wie Neptun sich seiner
Natur nach verhalte.
Anders als Leonardos Neptun-Skizze, ist Marcantonio Raimondis
Titelkupfer (Abb. 3) zu einer beabsichtigten Ausgabe der Aeneis ein-
deutig auf Vergils Qu.os .Ego-Episode gemünzt. Juno entfesselte gegen die
Flotte der seegeborenen Trojaner einen Sturm. Neptun erscheint macht-
voll auf seinem Wagen, entscheidet mit einem knappen Quos egou („Ich
werd’ euch ...”), gerichtet gegen die feindlichen Windgötter, die Situation
zugunsten der Trojaner. Die nicht zuende gesprochene Proposition ist
das sprachliche Äquivalent einer machtvollen Drohgebärde, die Raimon-
dis Kupferstich visualisiert, indem sein Neptun, den Sturmwolken zuge-
wandt, den Dreizack schwingt. In Leonardos Skizze dagegen richtet der
Gott den Dreizack nach unten (wie es auch an dem Danziger Neptun auf-
fällt), als wolle er mit einem kräftigen Stoß das Meer aufwühlen, dessen
Toben ohnehin die Seepferde in ihrem Ungestüm veranschaulichen15.
13 Windsor Castle, Royal Library, Inv. 12376r, Feder über schwarzer Kreide, auf hell
grundiertem Papier, 27 x 40,8 cm; vgl. F. Zöllner, op. cit., S. 534, Abb. 463. Zu den in der
Leonardo-Literatur oft als „Visionen” apostrophierten Texten und Zeichnungen der
Orkane und Flutkatastrophen siehe J. Gantner, Leonardos Visionen von der Sintflut, und
vom Untergang der Welt. Geschichte einer künstlerischen Idee, Bern 1958; A. Marinoni,
(in: ) Leonardo da Vinci. Scritti letterali, Hg. A. Marinoni, Milano 1987, S. 29—31, 176-183;
M. Kemp, op. cit., S. 315-319.
14 Vergil, Aeneis I, 133 ff.
15 M.J. Marek, Ekphrasis und Herrscherallegorie. Antike Bildbeschreibungen im Werk
Tizians und Leonardos, Worms 1985, S. 75-104, besonders S. 78, sieht Leonardos ver-
schollene Bilderfindung durch das bei Vasari zitierte Epigramm auf Vergils Quos ego