Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Assmann, Jan
Die Gott-Mythologien der Josephsromane — Düsseldorf, 2013

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.37076#0030
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Thomas Mann dehniert Religion als Aufmerksamkeit, Achtge-
ben auf die Tagesordnung im Vergeistigungsprozeß Gottes, eine
wunderbare Debnition und das Gebot der Stunde in einer Zeit,
die von Gottesdummbeit beherrscht war, vom sturen Festbalten
an »gewissen Dingen«, die längst aufgebört batten, richtig und
vernünftig zu sein.
Das Großartige an Thomas Manns Gottesmythologie ist, dass
er den Fortschritt in der Geistigkeit mit der »Frömmigkeit der
formverbundenen Seele« und der Anerkennung der unbewussten
Tiefendimensionen des Menschlichen verbindet. Menschliches,
d. h. kulturelles Leben besteht in der Komplexion der beiden For-
men. Worauf es ankommt, ist eine doppelte Aufmerksamkeit und
Offenheit: gegenüber dem Geist, der fortwährend über das Gege-
bene hinausstrebt, und gegenüber der Tiefe der Urzeit, aus der die
Urformen und Urnormen des Lebens nach Wiedervergegenwärti-
gung in gelebter Gegenwart streben.
Thomas Manns Rekonstruktion des mythischen Denkens hat
das unbestreitbare Verdienst, gewisse konventionelle Dualis-
men zu überwinden, die sich aus der Unterscheidung von Athen
und Jerusalem, Griechentum und Judentum, herleiten und im
nationalsozialistischen Deutschland die bösartige, zuletzt mör-
derische Form des Antisemitismus angenommen hatten. Seinen
Versuch, Mythos und Monotheismus zusammenzudenken, als
Seele und Geist, Segen von unten und oben, und dennoch die
Unterscheidung von wahr und falsch in der Religion nicht auf-
zugeben, kann man nur bewundern. Der Mythos wird bei ihm
individualisiert, als ein höchst persönliches in-Spuren-gehen und
Verwirklichen zeitlos-uralter Muster, und der Monotheismus
oder die OfFenbarung wird bei ihm verzeitlicht, im Sinne eines
niemals festgeschriebenen und vorgegebenen, sondern immer
neu aufgegebenen und auszumachenden Unterschieds zwischen
wahr und falsch.

28
 
Annotationen