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H. Nesselhauf
reiche Lücken auf. Wir wüßten gern, ob die Räumung Südwestdeutschlands durch die
Kelten eine totale war, der Art, wie die Helvetier nach dem Bericht Caesars die Schweiz
geräumt haben, nachdem sie ihre Siedlungen niedergebrannt und ihre Felder verwüstet
hatten, oder ob Reste der keltischen Bevölkerung zurückgeblieben sind. Sichere Auskunft
darüber gibt uns die schriftliche Überlieferung nicht, aber immerhin doch einen, freilich
mit aller Vorsicht zu verwertenden Hinweis. Caesar berichtet VI 24, daß noch zu seiner
Zeit in der fruchtbaren Gegend um den herkynischen Wald mitten in germanischem
Siedlungsgebiet Volcae Tectosages, also Kelten, saßen. Er schließt aus diesem Vorkom-
men von Kelten auf rechtsrheinischem Gebiet auf eine frühere Überlegenheit der Kelten,
die sie zu kolonisatorischen Unternehmungen befähigt habe. Längst hat man gesehen, daß
dieser Schluß falsch ist, daß es sich vielmehr um keltische Reste handelt, die bei der
Abwanderung zurückgeblieben sind. Wenn auch die genaue Lokalisierung dieser Volcae
Tectosages bisher nicht gelungen ist, so ist das Phänomen als solches doch für uns wichtig
genug: wir müssen jedenfalls damit rechnen, daß sich im rechtsrheinischen Gebiet auch
nach dem Eindringen der Germanen noch Kelten aufhielten. Wo sie sitzen geblieben sind,
in welcher Stärke, ob in geschlossenen Gruppen oder in verstreuten Einzelsiedlungen, über
all diese Einzelheiten schweigt die literarische Überlieferung.
Auch für die durch Caesar bezeugte germanische Phase bleiben wir im Unklaren
hinsichtlich der genauen räumlichen Erstreckung, der Dichte und Art der germanischen
Besiedlung rechts des Hoch- und Oberrheins und ebenso hinsichtlich des Wegs oder der
Wege, auf denen die Germanen gekommen sind. Das Ende dieser Phase wurde herbei-
geführt, wie wir sagten, durch die Umsiedlung germanischer Stämme auf die linke Rhein-
seite und die Abwanderung germanischer Scharen aus diesem Raum nach Osten. Das Land
wurde indessen keineswegs vollständig von den Germanen geräumt. Auf Germanen als
Begründer des Kultes des Mercurius Cimbrianus, der in der Gegend von Miltenberg und
auf dem Heiligenberg bei Heidelberg verehrt wurde, deutet der Beiname dieses Gottes
hin, und die Existenz der inschriftlich erwähnten Neckarsueben beweist germanische
Kontinuität bis in die Zeit der Römerherrschaft. Das Fehlen anderer nach germanischen
Stämmen benannter civitates und die Charakterisierung dieses Gebiets als solum dubiae
-possessionis durch Tacitus warnen davor, den Fall der Neckarsueben zu verallgemeinern,
schließen aber das Vorhandensein germanischer, wenn auch nicht stammesmäßig geschlos-
sener Bevölkerung in anderen Teilen der decumates agri nicht aus.
Was besagt nun aber überhaupt die Unterscheidung zwischen Kelten und Germanen,
die wir, den antiken Quellen folgend, machen, genauer formuliert: was besagt es, wenn
wir, den Schicksalen der Oberrheinlande in den beiden Jahrhunderten um Christi Geburt
nachspürend, von Kelten und im Gegensatz zu ihnen von Germanen sprechen? Ich habe
nicht die Absicht, das vielgequälte Problem des Germanennamens und den ganzen damit
zusammenhängenden Fragenkomplex zu erörtern, auch fehlt mir dazu jede Kompetenz.
Meine Frage richtet sich ganz konkret darauf, ob wir in dem von uns behandelten Raum
innerhalb der von uns gesetzten zeitlichen Grenzen mit zwei klar geschiedenen Fronten
rechnen dürfen, die in Sprache, Religion, geistiger und materieller Kultur, Gesittung und
gesellschaftlicher Struktur sich scharf voneinander absetzten, so daß man von jeder Einzel-
erscheinung aus, auch ohne das Ganze vor sich zu haben, eine eindeutige ethnische Aussage
machen, einen scharfen Trennungsstrich ziehen kann: hier germanisch, hier keltisch.
H. Nesselhauf
reiche Lücken auf. Wir wüßten gern, ob die Räumung Südwestdeutschlands durch die
Kelten eine totale war, der Art, wie die Helvetier nach dem Bericht Caesars die Schweiz
geräumt haben, nachdem sie ihre Siedlungen niedergebrannt und ihre Felder verwüstet
hatten, oder ob Reste der keltischen Bevölkerung zurückgeblieben sind. Sichere Auskunft
darüber gibt uns die schriftliche Überlieferung nicht, aber immerhin doch einen, freilich
mit aller Vorsicht zu verwertenden Hinweis. Caesar berichtet VI 24, daß noch zu seiner
Zeit in der fruchtbaren Gegend um den herkynischen Wald mitten in germanischem
Siedlungsgebiet Volcae Tectosages, also Kelten, saßen. Er schließt aus diesem Vorkom-
men von Kelten auf rechtsrheinischem Gebiet auf eine frühere Überlegenheit der Kelten,
die sie zu kolonisatorischen Unternehmungen befähigt habe. Längst hat man gesehen, daß
dieser Schluß falsch ist, daß es sich vielmehr um keltische Reste handelt, die bei der
Abwanderung zurückgeblieben sind. Wenn auch die genaue Lokalisierung dieser Volcae
Tectosages bisher nicht gelungen ist, so ist das Phänomen als solches doch für uns wichtig
genug: wir müssen jedenfalls damit rechnen, daß sich im rechtsrheinischen Gebiet auch
nach dem Eindringen der Germanen noch Kelten aufhielten. Wo sie sitzen geblieben sind,
in welcher Stärke, ob in geschlossenen Gruppen oder in verstreuten Einzelsiedlungen, über
all diese Einzelheiten schweigt die literarische Überlieferung.
Auch für die durch Caesar bezeugte germanische Phase bleiben wir im Unklaren
hinsichtlich der genauen räumlichen Erstreckung, der Dichte und Art der germanischen
Besiedlung rechts des Hoch- und Oberrheins und ebenso hinsichtlich des Wegs oder der
Wege, auf denen die Germanen gekommen sind. Das Ende dieser Phase wurde herbei-
geführt, wie wir sagten, durch die Umsiedlung germanischer Stämme auf die linke Rhein-
seite und die Abwanderung germanischer Scharen aus diesem Raum nach Osten. Das Land
wurde indessen keineswegs vollständig von den Germanen geräumt. Auf Germanen als
Begründer des Kultes des Mercurius Cimbrianus, der in der Gegend von Miltenberg und
auf dem Heiligenberg bei Heidelberg verehrt wurde, deutet der Beiname dieses Gottes
hin, und die Existenz der inschriftlich erwähnten Neckarsueben beweist germanische
Kontinuität bis in die Zeit der Römerherrschaft. Das Fehlen anderer nach germanischen
Stämmen benannter civitates und die Charakterisierung dieses Gebiets als solum dubiae
-possessionis durch Tacitus warnen davor, den Fall der Neckarsueben zu verallgemeinern,
schließen aber das Vorhandensein germanischer, wenn auch nicht stammesmäßig geschlos-
sener Bevölkerung in anderen Teilen der decumates agri nicht aus.
Was besagt nun aber überhaupt die Unterscheidung zwischen Kelten und Germanen,
die wir, den antiken Quellen folgend, machen, genauer formuliert: was besagt es, wenn
wir, den Schicksalen der Oberrheinlande in den beiden Jahrhunderten um Christi Geburt
nachspürend, von Kelten und im Gegensatz zu ihnen von Germanen sprechen? Ich habe
nicht die Absicht, das vielgequälte Problem des Germanennamens und den ganzen damit
zusammenhängenden Fragenkomplex zu erörtern, auch fehlt mir dazu jede Kompetenz.
Meine Frage richtet sich ganz konkret darauf, ob wir in dem von uns behandelten Raum
innerhalb der von uns gesetzten zeitlichen Grenzen mit zwei klar geschiedenen Fronten
rechnen dürfen, die in Sprache, Religion, geistiger und materieller Kultur, Gesittung und
gesellschaftlicher Struktur sich scharf voneinander absetzten, so daß man von jeder Einzel-
erscheinung aus, auch ohne das Ganze vor sich zu haben, eine eindeutige ethnische Aussage
machen, einen scharfen Trennungsstrich ziehen kann: hier germanisch, hier keltisch.