Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Bammer, Anton [Bearb.]; Muss, Ulrike <Univ.-Doz. Dr. phil> [Bearb.]
Das Artemision von Ephesos: das Weltwunder Ioniens in archaischer und klassischer Zeit — Mainz am Rhein, 1996

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.30985#0031
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
24

Der Tempel und das Meer

gune füllte sich nur langsam. Daher fin-
det man bei der Grabung immer wieder
schwarzes Erdmaterial, das nicht von
einem Brand, sondern von organischen
Sumpfpflanzen stammt.

Es existieren keine eindeutigen archäo-
logischen Beweise für das Vorhandensein
von Süßwasser an der Meeresküste im
Bereich des Artemisions. Allerdings
wurde im südwestlichen Bereich des
Altares eine Stelle aufgefunden, in die
eine Bleirohrleitung (Abb. 20) mündet,
die während der Grabung einen beson-
ders hohen Wasserzufluß hatte. Hierbei
könnte es sich um den Platz einer alten
Quelle handeln, zu der - bei späterem
Versiegen - von außen Wasser zugeführt
wurde. Es ist jedenfalls gut möglich, daß
eine Quelle in Meeresnähe den Aus-
gangspunkt für den Kult gebildet hat, da
eine solche Konstellation von heraus-
ragender Bedeutung für das (Über-)Leben
der Menschen war.

Das Artemision als Produkt
seiner Umweit

Das Artemision, ehemals in sumpfiger
Meeresnähe, liegt heute nahe am West-
rand des 87 m hohen Ayasoluk-Hügels
(Abb. 16), der einst ein Inselrücken war.
Die Westorientierung, welche sich bei
den Kultstätten im Artemisionbereich
durchsetzte, teilt der archaische und spät-
klassische Tempel der Artemis von Ephe-
sos mit den Heiligtümern von Magnesia,
Sardes und dem Altar von Samothrake.

Die Kultbauten im Artemision, begon-
nen mit dem ältesten nachweisbaren aus
dem 8. Jh. v. Chr., sind im Laufe der
Jahrhunderte bis zu einer Höhe von 5 m
übereinander errichtet worden. Der am
höchsten gelegene Bau war der spätklas-
sische Tempel, der allein 2,70 m über

dem archaischen Tempel liegt (Abb. 19,
47). Plinius (n.h. XVI 79, 213-215) be-
richtet, daß der Tempel siebenmal wie-
deraufgebaut worden sei; wenn man die
vier Bauphasen des Peripteros dazurech-
net, so ergibt dies zusammen mit Tempel
C sowie dem archaischen und spätklassi-
schen Tempel tatsächlich sieben Perio-
den.

Die Ursache für diese architekturge-
schichtliche Veränderung war das Was-
ser des Meeres und der Flüsse. Wir
haben hier ein besonders anschauliches
Beispiel fiir eine systemtheoretische Er-
klärung eines archäologischen Vorgan-
ges vor uns, bei dem die Veränderung aus
den unmittelbar am Ort vorhandenen
Phänomenen erklärt werden kann.

Das Artemision ist mit seiner Lage in
unmittelbarer Meeresnähe gewisserma-
ßen ein <Seismograph> der Küsten- und
Sedimentationsveränderung. Anhand der
vertikalen und horizontalen Verschie-
bung der Heiligtümer bzw. baulichen An-
lagen läßt sich sowohl die Geologie sei-
ner Umgebung mit erfassen als auch das
Artemision als ein Objekt im Spiel der
Kräfte der Natur begreifen. Das Artemi-
sion ist eben nicht nur das Heiligtum
einer Göttin der Natur, sondern es ist
auch das Produkt der Natur selbst- des
Meeres und der Überschwemmungen
(Abb. 16, 19), die es bedrängten, bis hin
zu den Steinen, aus denen es erbaut ist.

Der Tempel verkörpert, zusammen mit
den beiden Heiligtümern anderer Reli-
gionen in der Nähe - der Johannes-
basilika und der Isa Bey Moschee -, die
Versinnbildlichung des Braudelschen
Geschichtsmodells. Für F. Braudel ope-
rieren historische Phänomene auf ver-
schiedenen zeitlichen Ebenen. Er sieht
die historische Zeit eingeteilt in drei
Gruppen von Prozessen, welche in die
sichtbare Entwicklung menschlicher Ge-

sellschaften münden. Die drei Zeitskalen
von <courte>, <moyenne> und <longue
duree> teilen sich in die langzeitlichen
geographischen Strukturen, in mittelzeit-
liche sozioökonomische Zyklen (<con-
joncture>) und kurzzeitliche soziopoliti-
sche Ereignisse.

Das Heiligtum von Ephesos liegt in
einer tiefen Grube, an deren Rändern
man die im Lauf der Zeit entstandenen
Ablagerungen deutlich sehen kann (Abb.
16, vgl. auch Abb. 17). Diese sind im
wesentlichen durch die Verlandung ent-
standen, aber auch durch die Rodungen
des Hinterlandes, die die damit erfolgten
Erosionen beschleunigt und beeinflußt
haben. Allein dieser Aspekt vermittelt
ein eindringliches Gefiihl für zeitliches
Geschehen. Die Sichtbarkeit des Gra-
bungsgeschehens, wie z. B. des Schuttes
aus der Grabung von John Turtle Wood,
trägt unmittelbar zur Darstellung der mo-
dernen Geschichte des Artemisions bei.
Auch die Bezeichnung des Artemision-
platzes als <englische Grube> bei den Ein-
heimischen erinnert noch an die Ent-
deckung des Platzes vor über hundert
Jahren.

Der archäologische Befund im heiligen
Bezirk vermittelt von daher sowohl kurz-
zeitige Ereignisse als auch mittelfristige
und langzeitliche Veränderungen und da-
mit gleichzeitig dynamische und beinahe
statische Aspekte. Wenn man etwa von der
Johanneskirche auf das Artemision blickt,
sieht man in der Grube die verschiedenen
Bauwerke aus den verschiedenen Jahr-
hunderten, die Reste von Gebäuden aus
der römischen Epoche sowie die der sel-
dschukischen in der Umgebung. Immer
hat man die große Sedimentationsebene
vor Augen, in die alles eingebettet ist,
und in der Ferne erkennt man das Meer,
das für so vieles mitverantwortlich ist
(Abb. 18).
 
Annotationen