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Bargmann, Wolfgang
Anatomie und bildende Kunst — Freiburg im Breisgau: Verlag Karl Alber, 1947

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https://doi.org/10.11588/diglit.53065#0018
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Welchen historischen Wert mißt die moderne Anthropometrie den Pro-
portionslehren der bildenden Künstler bei? Zunächst soll nicht übersehen
werden, daß die ersten Messungen am Menschen offenbar nicht von
Ärzten und Wissenschaftlern, sondern von Künstlern vorgenommen
wurden, daß Künstler es waren, welche in der Renaissance den Menschen
als meßbares und messenswertes Lebewesen wiederentdeckten und auf die
methodischen Möglichkeiten der Gestalterforschung hinwiesen. Die Ge-
schichte der Anthropometrie beginnt also mit der künstlerischen Pro-
portionsforschung. Als für die biologische Betrachtungsweise grundsätz-
lich wichtig verzeichnen wir mit Hermann Braus die in der Kanonlehre
steckende Erkenntnis, daß die Gestalt nicht durch absolute Maße oder
Gewichte beschrieben werden kann, daß es vielmehr darauf ankommt,
Verhältnisse zwischen den Größen einer individuellen Gestalt aufzuzeigen.
Der mit Kopf- oder Fingerlängen arbeitende Kanon spielt allerdings in
der menschlichen Anthropometrie keine Rolle, hier haben andere Maße
Geltung. Wesentliche durch forschende Künstler erhobene Befunde sind
nicht in den Besitzstand der Wissenschaft übernommen worden. Ange-
sichts des ephemeren Charakters wissenschaftlicher Daten wird man
freilich den Wert der künstlerischen Forschung nicht einzig nach der
Anzahl der von ihr gewonnenen sogenannten bleibenden Resultate be-
urteilen, sondern danach, ob diese Forschung Schritt auf dem Wege von
giößeren zu kleineren Irrtümern war, ob sie zu fruchtbarer Weiter-
arbeit auf naturwissenschaftlichem Gebiete anregte, v. Eickstedt (1937)
macht in seiner summarischen Geschichte der Forschung am Menschen
darauf aufmerksam, daß der Begründer der heutigen Anthropometrie,
Elsholtz (1623 —1688), auf dem System Dürers fußt. Elsholtz’ For-
schungen finden ihre Fortsetzung im Werke des Petrus Camper, in dem
der Engländer Haddon (1934) mehr den Entwickler als den Erfinder der
Kephalometrie erblickt, die bereits von Dürer geübt worden sei. Nicht
unerwähnt bleibe, daß Dürers Darstellungsmethode in der typologischen
Transformationstheorie von Tompson (1917) fortlebt, welche sich auf
die Beobachtung gründet, daß man durch Deformation eines Koordi-
nationssystems, in das ein Organismus eingetragen wurde, die von ihm
eingefangene Form in eine verwandte überführen könne. Die Transfor-
mation stellt eine Methode zur Entwicklung phylogenetischer Reihen dar.
Sie soll auf die Erforschung phylogenetischer und ontogenetisdier Form-
änderungen anwendbar sein (Abb. 4).
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