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Bargmann, Wolfgang
Anatomie und bildende Kunst — Freiburg im Breisgau: Verlag Karl Alber, 1947

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https://doi.org/10.11588/diglit.53065#0017
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Proportionsstudien haben bei der Schaffung einzelner Kunstwerke, wie
etwa des. Dürerschen Stiches Adam und Eva nachweislich Pate gestanden.
Im allgemeinen jedoch besteht unzweifelhaft ein Mißverhältnis zwischen
dem Aufwand an methodischen Bemühungen und wissenschaftlichem
Scharfsinn und dem mit Hilfe von Systemen auf künstlerischem Gebiete
Erreichten. Ja, es fragt sich, ob man die Proportionsforschungen nicht zu
einseitig bewertet, wenn man in ihnen einzig und allein den Ausdruck
rein künstlerischer Zielsetzung erblickt. So scheint mir der Schwerpunkt
der Proportionslehre in ihrer höchstentwickelten Form sehr viel mehr
auf dem Gebiet der Naturwissenschaft vom Menschen, als auf dem der
bildenden Kunst zu liegen. Für den größten Proportionsforscher unter
den deutschen Bildnern jedenfalls, Albrecht Dürer, kann diese Auffas-
sung nach der Meinung seines geistvollen Interpreten Wilhelm Waetzoldt
Geltung beanspruchen. In den vier Büchern von menschlicher Proportion
verfolgt Dürer — so Waetzoldt — ein morphologisches Ziel mehr als Natur-
forscher denn als Ästhetiker. Dieses Ziel ist das Bildungsgesetz der Natur.
Die Schönheitsfrage ist für Dürer nur ein Sonderfall dieses Problems. Wer
der Natur das Bildungsgesetz entreißt, vermag ein Kunstwerk als Orga-
nismus zu schaffen. Das Beherrschen des Gesetzes würde sogar die Schöp-
fung von Wesen gestatten, die weder eine reale Existenz besitzen, noch
einem Schönheitskanon gemäß sind, aber nicht reiner Willkür entspringen.
Zweifellos hat auch der Naturforscher und Künstler Leonardo mit seinen
Proportionsstudien nicht nur artistische Ziele verfolgt. Leonardos Noti-
zen über die Proportion des Menschen im Malertraktat und seine für ein
anatomisches Werk bestimmten Angaben über die Struktur des mensch-
lichen und tierischen Körpers bilden eine Einheit. Worum es Leonardo
im Grunde zu tun war, läßt der Satz ahnen: „Und unser Schöpfer gebe,
daß ich auch die Natur der Menschen und ihre Gewohnheiten zu ent-
decken vermag, während ich ihre Gestalt beschreibe.“
Die Kärglichkeit der Quellen erlaubt kein Urteil darüber, ob auch den
Künstlern der Antike außerhalb des Künstlerischen stehende Ziele vor-
schwebten, als sie, wie Polyklet und Vitruv, ihre Proportionsunter-
suchungen in kanonische Form gossen. Wir dürfen aber sagen, daß die
von Polyklet über Vitruv, Alberti und Leonardo bis zu Dürer sich: er-
streckende Reihe anthropometrischer Bemühungen ihre Krönung in einem
Werke betont morphologischen Charakters fand, welches Abschluß auf
künstlerischem Felde bedeutete und Beginn auf wissenschaftlichem Gebiete
sein konnte. Es fragt sich, ob letzteres der Fall war.
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