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Bargmann, Wolfgang
Anatomie und bildende Kunst — Freiburg im Breisgau: Verlag Karl Alber, 1947

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https://doi.org/10.11588/diglit.53065#0036
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im Schaffen auch anderer Renaissance-Künstler stoßen. Man darf die
Neigung zur wissenschaftlichen Analyse der menschlichen Gestalt, die
Leonardo zwar unvergleichlich stärker als andere, aber nicht als Einzigen
beseelt, als den „Ausfluß jener allgemeinen Bildung des Auges“ an-
sprechen, die Jakob Burckhardt ein Kennzeichen der Renaissanceperiode
nennt. „Zur Entdeckung der Welt fügt die Kultur der Renaissance eine
noch größere Leistung, in dem sie zuerst den ganzen vollen Gehalt des
Menschen entdeckt und zutage fördert“ (J. Burckhardt). Dieses Entdecken
und Sichtbarmachen erstreckte sich auch auf das Gefüge des Mikrokosmos,
als des Gehäuses von Geist und Seele. „Verwalter der gesamten Sicht-
barkeit“ (Wölfflin) war in erster Linie der bildende Künstler, er war
berufen, die Schönheiten nicht nur der Gestalten, sondern auch der Struk-
turen zu erkennen, er allein fähig, sie darzustellen. Leonardo hat seiner
Bewunderung der Strukturschönheit wiederholt Ausdruck verliehen.
So verständlich es ist, daß der bildende Künstler der Renaissance an der
Erforschung des menschlichen Leibes beteiligt ist, so verständlich ist auch
die Wesensart der ihm eigenen funktionellen und ganzheitlichen Be-
trachtungsweise. Dem Künstler ist es um die lebendige, in steter Bewegung
befindliche Gestalt zu tun. Die Statik der sogenannten Leichenanatomie
liegt ihm fern. Leonardos und Michelangelos Anatomie bedeuten mithin,
damit kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, dem neuzeitlichen Ana-
tomen Vorläufer seiner eigenen Bemühungen um eine Lehre vom leben-
digen Menschen, deren sachliche Grundlagen allerdings durch die hin-
gebungsvolle Arbeit mehrerer Anatomen-Generationen erst geschaffen
werden mußten.

IV.
Wir betreten nunmehr das „bedenkliche Gebiet der Ahnung“ (J. Burck-
hardt) mit dem Unterfangen, die Anlagen des Künstlers und Morpho-
logen auf gemeinsame Bande hin zu betrachten, welche nach einer häufig
anzutreffenden Vorstellung beider Bereiche miteinander verknüpfen.
Hyrtl hat die Tätigkeit des Anatomen einmal diejenige eines abtragenden
Bildhauers genannt, aber auch darauf hingewiesen, daß es das Ziel des-
selben Anatomen sei, den vollendeten Bau der menschlichen Organisation
„im Geiste wieder aufzuführen und den Menschen gleichsam nachzuer-
schaffen“. Dieses Nacherschaffen vollzieht sich letztlich als innere Zu-
sammenschau mit dem Auge wahrgenommener Formglieder und Systeme
zum Bilde der lebendigen Ganzheit des menschlichen Organismus, dessen

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