ALOIS RIEGL
Zwischen Wellenberg und Wellental liegt ein toter Punkt, in welchem die Extreme
sich berühren. Je frischer die Schaffensimpulse sind, von denen die Forschung bewegt
wird, desto rascher wird diese letztere über den toten Punkt binweggleiten. Er ist aber
vorhanden, und es wird immer einige geben, die bei ihm haltmachen zu müssen glauben.
So ist es auch diesmal, es ließen sich Namen nennen. Sie erfüllten in der Kunst-
geschichtsforschung die gleiche Rolle, wie die Skeptiker in der Philosophie, oder die
Anarchisten in der Sozialpolitik. Weil ihnen der bisher verfolgte Weg als verfehlt er-
scheint, verzweifeln sie überhaupt an aller Gangbarkeit des Terrains. Vierzig Jahre lang
haben wir uns abgemüht, eine ununterbrochene Kette der Entwicklung aufzuzeigen, die
naturgemäß vom Einfachen und Primitiven zum Komplizierten und Vollkommenen auf-
steigt. Und nun begegnen uns Erscheinungen in der Kunstgeschichte, die alle Ent-
wicklungsvorstellungen über den Haufen zu werfen scheinen. Wie konnte zum Beispiel
dasselbe Volk, das in der römischen Kaiserzeit das menschliche Antlitz bis zur Illusion
getreu nachzubilden gewußt hat, wenige Jahrhunderte später sich für die starren byzan-
tinischen Puppen begeistern? Noch näherliegende Parallelbeispiele bieten die italienische
und die holländische Malerei. Die Skeptiker unter den Kunsthistorikern ziehen daraus
kurzweg den Schluß: Es gibt keinen aufsteigenden Entwicklungsgang in der bildenden
Kunst der Menschheit. Diese Auffassung ist aber ebenso wie Skepsis und Anarchismus
wohl bloß eine vorübergehende Übergangserscheinung. Nach kurzem Besinnen werden
auch diese Forscher freudig wieder die vermeintliche Sisyphusarbeit beginnen, indem
sie nunmehr von der universalgeschichtlichen Betrachtung der Kunstgeschichte einen
Beitrag zur Lösung des großen Welträtsels erhoffen, dessen Bezwingung im letzten
Grunde jede menschliche Wissenschaft zum Ziele hat.
Aus den »Festgaben zu Ehren Max Rüdingers«, Innsbruck 1898. Den Abdruck hat der Universitäts -Verlag Wagner,
G. m. b. H., Innsbruck, in entgegenkommendster Weise gestattet.
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Zwischen Wellenberg und Wellental liegt ein toter Punkt, in welchem die Extreme
sich berühren. Je frischer die Schaffensimpulse sind, von denen die Forschung bewegt
wird, desto rascher wird diese letztere über den toten Punkt binweggleiten. Er ist aber
vorhanden, und es wird immer einige geben, die bei ihm haltmachen zu müssen glauben.
So ist es auch diesmal, es ließen sich Namen nennen. Sie erfüllten in der Kunst-
geschichtsforschung die gleiche Rolle, wie die Skeptiker in der Philosophie, oder die
Anarchisten in der Sozialpolitik. Weil ihnen der bisher verfolgte Weg als verfehlt er-
scheint, verzweifeln sie überhaupt an aller Gangbarkeit des Terrains. Vierzig Jahre lang
haben wir uns abgemüht, eine ununterbrochene Kette der Entwicklung aufzuzeigen, die
naturgemäß vom Einfachen und Primitiven zum Komplizierten und Vollkommenen auf-
steigt. Und nun begegnen uns Erscheinungen in der Kunstgeschichte, die alle Ent-
wicklungsvorstellungen über den Haufen zu werfen scheinen. Wie konnte zum Beispiel
dasselbe Volk, das in der römischen Kaiserzeit das menschliche Antlitz bis zur Illusion
getreu nachzubilden gewußt hat, wenige Jahrhunderte später sich für die starren byzan-
tinischen Puppen begeistern? Noch näherliegende Parallelbeispiele bieten die italienische
und die holländische Malerei. Die Skeptiker unter den Kunsthistorikern ziehen daraus
kurzweg den Schluß: Es gibt keinen aufsteigenden Entwicklungsgang in der bildenden
Kunst der Menschheit. Diese Auffassung ist aber ebenso wie Skepsis und Anarchismus
wohl bloß eine vorübergehende Übergangserscheinung. Nach kurzem Besinnen werden
auch diese Forscher freudig wieder die vermeintliche Sisyphusarbeit beginnen, indem
sie nunmehr von der universalgeschichtlichen Betrachtung der Kunstgeschichte einen
Beitrag zur Lösung des großen Welträtsels erhoffen, dessen Bezwingung im letzten
Grunde jede menschliche Wissenschaft zum Ziele hat.
Aus den »Festgaben zu Ehren Max Rüdingers«, Innsbruck 1898. Den Abdruck hat der Universitäts -Verlag Wagner,
G. m. b. H., Innsbruck, in entgegenkommendster Weise gestattet.
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