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Die Bewegung: Zeitung d. dt. Studenten — 10.1942

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Nr. 1 (10. Januar 1942)
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Dr. Wolfgang Höpken

Europabekenntnis des Südostens

Es war die Tragik Europas, daß seine Ge-
schicke nur allzu lange vom atlantischen Rand
her bestimmt wurden. Der Kontinent hat heute
wieder das natürliche Schwergewicht gefunden,
das allein in seiner Mitte liegt. Von hier aus
vollzieht sich die große Wendung nach Osten,
die der werdenden europäischen Ordnung das
Gesicht gibt. Diese Feststellung gilt auch für
den Südosten. Das gesamtdeutsche Geschichts-
bild läßt uns die beiden Flügel der Ostkoloni-
sation unseres Volkes, den nord- und südöst-
lichen, in einem Zusammenhang sehen. Das
Reich übernimmt heute eine Verantwortung,
die an das große, aber unvollendet gebliebene
Kolonisationswerk des Mittelalters anknüpft.
Die Traditionen, die damit wieder aufgenommen
werden, sind auch die Friedrichs des Großen
und Maria Theresias. Beide Herrschergestalten
verkörperten Kolonisatoren des Ostraumes und
nur der im kleindeutschen Denken begründete
unheilvolle Bruch unseres geschichtlichen Den-
kens hatte bislang verhindert, daß wir ihre
Leistung im gemeinsamen, größeren Rahmen
werteten.

Bei aller Unzulänglichkeit und Alters-
schwäche bedeutete die österreichisch-unga-
rische Monarchie selbst in ihrem Endstadium
noch eine geniale Lösung gegenüber der dem
Südosten 1919 auferlegten Scheinordnung. Der
Raum hatte bis dahin immerhin über eine über-
greifende Organisation verfügt, welche die zen-
trifugalen Kräfte bis zu einem gewissen Maße
band. Jetzt war er parzelliert, in eine Vielzahl
von Klein- und Mittelstaaten aufgespalten, die
man nicht einmal als Mosaiksteine ansprechen
konnte, da selbst der emsigste Bastler an der
Aufgabe gescheitert wäre, sie zu einem Ge-
samtbild zusammenzusetzen. Unter der Lpsung
vom Selbstbestimmungsrecht der Völker hatten
sich Nationalitätenstaaten zu Nationalstaaten
erklärt — ein Trugbild, das man dann unter
hemmungsloser Entrechtung der „Minderhei-
ten" nachträglich der Wirklichkeit anzunähern
suchte. Jeder zählte und addierte die Seelen
und Quadratkilometer seines Staatsgebietes,
alles starrte gebannt zu den jeweiligen Gren-
zen, der Kleinimperialismus feierte Triumphe.
Ewig gültig schien die Kluft zwischen Siegern
und Besiegten, zwischen Besitzenden und Habe-
nichtsen, zwischen der antirevisionistischen
und der revisionistischen Staatengruppe.

Eben diese Spaltung entsprach haargenau
der Konzeption der Geburtsväter jener Lösung
von 1919, Frankreich an der Spitze. Die Ver-
worrenheit war von ihnen in dieser Zone zum
Grundsatz gemacht worden. Nicht anders als
unter der Parole „Teile und herrsche" glaubt«
man in Paris wie auch in London sich den
Sü-iosten als Herrschaftsbereich sichern *u
können. Die Donaumonarchie war zerfallen,
aber noch immer bestand ein Deutsches Reich:
der unmittelbare Raumnachbar des Südostens,
ein Wirtschaftsraum, der den Südostländern
genau d i e Ergänzungsmöglichkeiten hätte
geben können, die sie brauchten, ein gefähr-
licher Konkurrent also, selbst in der Zeit seiner
größten politischen Ohnmacht, den es mit allen
Mitteln fernzuhalten galt. Daher die Sintflut
der „Donaupläne" (die an das Verfahren Münch-
hausens erinnerten, sich am eigenen Zopf aus
dem Sumpf zu ziehen), daher das Netz der
Pakte und Allianzen, die den Südosten für immer
an das System von Genf, von Versailles, Trianon
und Neuilly ketten sollten. Sofern seine Staa-
ten untereinander zu einer Art Zusammenarbeit
kamen, dann nur auf negativer Grundlage:
„Gegen den Revisionismus" hieß das Motto,
das den einzigen Kitt sowohl der Kleinen
Entente wie des sogenannten Balkanbundes
bildete. In beiden Fällen saßen die eigentlichen
Verantwortlichen dieser. Zusammenschlüsse in
Paris und London, über die Fesselung Ungarns
und Bulgariens hinaus war ihr zentrales Ziel
die Niederhaltung Deutschlands. Wie Polen an
der Ostflanke des Reiches, so sollte an seiner
Südostflanke ein allseits einsatzbereites Gen-
darmeriekorps stehen, das gegen die euro-
päische Mitte hin in Bewegung zu setzen es
nur eines Winkes bedurfte.

Die geplante Einkreisung
Deutschlands

Genau diese Flankentheorie begann sich zu
Beginn des Jahres 1941 noch einmal in aller
Üppigkeit zu einer späten Blüte zu entfalten.
Alle Rückschläge seit 1938 hatten London nicht
davor bewahren können, an der Verwirk-
lichung seines Lieblingstraumes zu glauben: an
die zweite Front in Europa, mit der
man Deutschland vom Rücken her in die Zange
nehmen könne. Der österreichische Zwangsstaat
von St. Germain hatte zum Reich gefunden, die
Tschechoslowakei eines Eduard Benesch war
nicht mehr, Polen war von der Landkarte aus-
gelöscht, der Umsturz vom September 1940
hatte Rumänien auf sich selbst besinnen und
dem Schutze des Reiches anvertrauen lassen,
Frankreich, der Gralshüter des Antirevisionis-
mus, war mit Compiegne von der großen poli-
tischen Bühne abgetreten. An seine Stelle hatte
sich als Englands Mitspieler das Amerika Roose-
velts geschoben. Die Südostreise des Sonder-
beauftragten des Präsidenten hat inzwischen
Berühmtheit erlangt. Oberst Donovan erweist
sich rückblickend als der Sturmvogel, sein Aul-
kreuzen in Belgrad fällt zusammen mit dem
, angloamerikanischen Auftrag an den damaligen
General der Flieger Simowitsch, die Auslösung
des Schaltwerkes zu übernehmen. Der Süd-
osten sollte jene legendären hundert Divisionen
stellen, die als Hilfstruppen Englands die Süd-
ostflanke des Reiches aufzurollen hatten, Hinter
dieser Idee der zweiten Front aber stand schon
der Gedanke an die dritte Front, deren Zen-
trum in Moskau lag. Der in aller Hast am
6. April proklamierte „Nichtangriffspakt" zwi-
schen dem Kreml und dem Belgrad des Putschi-

Selte 2 / Die Bewegung / Folge 1

sten Simowitsch enthüllt abrupt, wie weit auch
in dieser Richtung schon die Vorarbeiten ge-
diehen waren.

Der am Morgen des 7. April eingeleitete
Gegenschlag hat diese Aufmarschpläne im
Keime erstickt. Noch während das britische
Expeditionskorps sich in seinen griechischen
Quartieren wohnlich einzurichten begann, war
schon das auf eine Wiederholung des Saloniki-
unternehmens des Weltkrieges zielende Vor-
haben gescheitert. So wurde 1941 zum inhalts-
schwersten Jahr der Südostpolitik seit 1919.
Griechenland büßte das Abenteuer der eng-
lischen Garantie mit dem Verlust weiter Nord-
gebiete. Jugoslawien oder richtiger Großserbien
zerfiel. Einem serbischen Reststaat steht heute

ein unabhängiges Kroatien gegenüber. Der
Rückgliederung der Untersteiermark an das
Reich ging der Anschluß der Oberkrain an den
Reichsgau Kärnten parallel. Ungarn kam wie-
der in den Besitz der fruchtbaren Batschka,
westliche Randgebiete Jugoslawiens fielen an
Italien. Der Süden, das mazedonische Kern-
land, wurde Bulgarien angeschlossen, das nun-
mehr (rechnet man die Rückgliederung der Süd-
dobrudscha und Thraziens hinzu) den groß-
bulgarischen Traum erfüllt sieht. Zugleich
wurde — ein nicht minder wichtiger Entscheid
des Jahres 1941 — der Südosten ein für allemal
raumfremden Mächten als Einmischungszone,
als Tummelplatz ihrer wahnwitzigen Experi-
mente entzogen.

Die Großraumpolitik des 20. Jahrhunderts

Erst damit waren endgültig die Fundamente
für die neue Ordnung gelegt, für die Verwirk-
lichung der Großraumpolitik, die sich
bereits seit 1934 in den auf zweiseitigem Aus-
tausch begründeten Methoden der deutschen
Handelspolitik auf wirtschaftlicher Ebene ab-
gezeichnet hatten. Worin besteht das Wesen
der Großraumordnung des 20. Jahrhunderts? Es
beruht darin, daß die politisch und kulturell
führende Nation in einem geographisch ein-
heitlichen und wirtschaftlich sich weitgehend
ergänzendem Großraum eine Lebensgemein-
schaft der dort wohnenden Völker organisiert
und nach außen gegen die Intervention raum-
fremder Mächte schützt. Wir übertreiben nicht
mit der Behauptung, daß eben diese Voraus-
setzungen nirgends anders derart klar vor-
gezeichnet sind, wie gerade in der Zusammen-
arbeit des Reiches mit den Ländern des Süd-
ostens.

Betonen möchten wir: die Voraussetzungen!
Denn noch ist ein gutes Stück des Weges zu-
rückzulegen, der den Südosten von der Stabi-
lisierung der neuen Ordnung trennt. Wir prei-
sen nicht den gegenwärtig bestehenden Zu-
stand. Er ist noch unvollkommen, die Schlaken
der übergangslösung sind offenkundig, das
Stadium schmerzhafter Geburtswehen ist noch
nicht überwunden. Niemand könnte mit gutem
Gewissen leugnen, daß es auch später völki-
sche Ungerechtigkeiten geben wird. Der Süd-
osten als das klassische Durchgangsland der
Geschichte ist seit je eine Zone, in der sich
die Volkstümer vielfältig überschneiden. Gewiß
läßt sich etwa durch Umsiedlung in diese bunt-
scheckige Gemenglage eine gewisse Flurberei-
nigung hineintragen. Utopie bleibt dennoch

hier der Gedanke an eine vollgültige Schei-
dung von Volk zu Volk in jeweils klare Na-
tionalstaaten. Im Gegenteil: Eben diese ein-
zigartige Verzahnung der völkischen Verhält-
nisse heischt mit unabweisbarer Dringlichkeit
nach einem die Staaten und Länder übergrei-
fenden Zusammenhang, nach einer allen ge-
meinsamen Idee, in der sich sowohl die Ein-
heit des Raumes wie die Verflechtung mit dem
angrenzenden Mitteleuropa kundtut. Es geht
um mehr als nur um die Revision, um die Wieder-
gutmachung des Unrechts von 1919. Es geht
um eine neue Wertung der Grenzen,
die nicht mehr der Anfang und Endpunkt allen
Denkens sein können. Es geht um die Über-
windung der Zerrissenheit, der Aufspaltung
und Atomisierung. An Stelle des „Teile und
herrsche!" tritt als der große Leitgedanke das
„Vereinige und ordne!".

Wenn wir heute von einem Ende der Balka-
nisierung sprechen, so kann damit bestimmt
nicht einer Aufhebung der Grenzen das Wort
geredt sein. Wie die Staaten, so werden auch
Grenzen bleiben und das Bild der südosteuro-
päischen Länder dürfte schwerlich je ganz sei-
nen unruhigen Charakter verlieren. Weit wich-
tiger ist der Abbau der psychologischen Gren-
zen, jener himmelhohen Mauern, welche die
Südostvölker — eifrig darin von Paris und Lon-
don bestärkt — um sich selbst errichtet hatten.
Bedeutsamer als jede Neuziehung der Grenzen
ist die Besinnung auf die Schicksalsgemein-
schaft, auf den höheren Einheitsgedanken.
Die organisierte Unordnung von Versailles
hatte die Südostvölker glauben lassen, daß sie
sich diesen gemeinsamen Lebensgesetzen un-
gestraft entziehen könnten. Am Ende dieser

kurzfristigen Etappe steht heute die Erkenntnis;
daß es letzthin damals nur Besiegte gege-
ben hat. Die einen wurden derart verstümmelt,
daß ein Verzicht auf Wiedergutmachung natio-
nale Selbstaufgabe bedeutet hätte. Die anderen
gewannen mehr, als sie hätten verdauen kön-
nen; statt daß diese Neuzuteilung zu einer
schrittweisen Erhöhung des Lebensstandards
der breiten Schichten geführt hätte, wurden
immer größere Mengen des Volksveimögens
für Wehrmacht und Rüstung abgezweigt — so
lange, bis schließlich alle Energien für unpro-
duktive Zwecke gebannt waren. Riesennrnß
aber stand hinter den so bereitwillig gewähr-
ten Rüstungskrediten der Westmächte das Ge-
spenst der finanziellen und damit politischen
Versklavung an einen Imperialismus auf, der
in den Südostvölkerh nicht Partner und Ver-
bündete, sondern allein Vasallen sah. Er wußte
auch hier den Linienwahn, jenen Maginotkom-
plex zu züchten, der — man denke an die
Carollinie in Siebenbürgen, an die Metaxaslinie
der Griechen oder die Scoberlinie der Tsche-
chen — die gegenseitige Abkapselung kleiner
Staaten bis zur Verkrampfung steigerte. Um so
grausamer wurde dann der Sturz aus der Illu-
sion auf den Boden der Wirklichkeit. Der ge-
schlossene Beitritt zum Dreimächtepakt kenn-
zeichnet demgegenüber den Wandel der Dinge.
Damit hat die stärkste Militärmacht Europas
den Schutz auch des Südostens übernommen,
. bei aller Wahrung des selbständigen Charak-
ters der einzelnen Länder und ihrer Armeen.
Mit dem Aufmarsch rumänischer, ungarischer
slowakischer und kroatischer Einheiten gegen
den gemeinsamen Feind im Osten hat diese
Zusammenarbeit ihre Feuertaufe erhalten.

Das erwachende Nationalbewußtsein

Das Rad der Geschichte kann und soll nicht
rückwärtsgedreht werden. Das nationale Er-
wachen auch der Völker des Südostens — das
nicht denkbar ist ohne den Weckruf Herders
und der deutschen Romantik! — gehört zu den
großen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts, die
wir als naturgegeben und schicksalsbedingt be-
jahen. Der Irrweg begann erst damit, daß der
junge, noch ungereifte Nationalismus in einen
Chauvinismus hineinglitt, der durch Verfäl-
schung bester Werte den Südosten Europas zur
Selbstzerfleischung und so an den Rand des
Chaos brachte. Aus dieser Sackgasse befreit
das Bekenntnis zum Nationsbegriff des 20. Jahr-
hunderts, der die Synthese zwischen
Nationalismus und Völkergemein-
schaft bringt. Er erzieht zu einem Denken auf
höherer Ebene, in größeren Zusammenhängen,
das die Eigenpersönlichkeit der einzelnen Völ-
ker nicht auslöscht, sondern sie viel eher erst
zu fruchtbarer Entfaltung bringt. Das Gegen-
einander im Südosten wird so abgelöst durch
ein Miteinander. Eine nicht mehr ferne Zu-
kunft wird zeigen, welche Kräfte damit Gestalt
gewinnen.

Von Ingeborg Ammann-Weinfurtner

In der letzten Ausgabe schilderte uns
die Verfasserin eine „Fahrt nach den Philip-
pinen". Wir wollen sie heute weiterbeglei-
ten aul ihrem Rundgang durch Manila, das
inzwischen von den Japanern genommen
wurde, und aul einem Ausllug nach den
berühmten Stromschnellen.

Ein beliebtes Ziel der Fremden und Besucher
Manilas ist das im ganzen Fernen Osten be-
kannte Kabarett „Sancta Anna". Es soll das
größte der Welt sein und faßt 3000 Personen.
Es ist kein Kabarett nach europäischen Maß-
stäben. Weder Zauberkünstler noch Tanzstars
verkürzen flie Stunden mit ihren Darbietungen.

„Sancta Anna" ist eine einzige ungeheuer
große Halle mit spiegelndem Parkett und zwei
Orchestern, die mit aller Kraft versuchen, den .
Riesenraum mit ihrer Musik auszufüllen.

Etwa ein Viertel des Saales ist durch eine
Wand mit kreisrunden glaslosen Fensteröff-
nungen abgetrennt. In diesem Teil sitzen meist
die Fremden, die sich ungestört und unbehel-
ligt den Betrieb von Sancta Anna ansehen"
wollen. Im Tanzsaal besteht die Gesellschaft
ausschließlich aus Eingeborenen und ameri-
kanischen Matrosen.

Steif und linkisch verbeugen sie sich vor den
hübschen Philippinerinnen und holen sie zum
Tanz. Da die Mädchen sehr klein sind, sieht
es manchmal recht drollig aus, wenn einer der
langen,, breitschultrigen Amerikaner mit sei- ■
ner Dame, die ihm kaum bis zur- Brust reicht,
durch den Saal „schwebt." Je später es wird,
desto toller steigert sich die Stimmung in
Sancta Anna. Ein farbenfrohes Bild wogt wie ein
Blumenfeld auf und nieder. Die zierlichen Mäd-
chen in ihrer bunten Tracht, die ausgezeichnet
mit der dunklen Hautfarbe harmoniert, Blüten
im schwarzen Haar,' die Zigarre (!) im Mund-
winkel zwischen den grell geschminkten Lippen,
Arm in Arm mit ihren Filipinofreunden, oder
hofiert von den Matrosen in ihren weißen Uni-
formen, sind schon des Verweilens und Be-
trachtens wert. ........

Getanzt wird eifrig und getrunken viel. Die
Stimmung steigt stetig und dauert bis in die
frühen Morgenstunden hinein. Gar oft aber
kommt es zwischen Rivalen oder Betrunkenen
zu wüsten Raufereien, die nicht selten in wil-
den Messerstechereien oder gefährlichen
Schießereien ausarten. Dann fühlt man sich
hinter der schützenden Wand als Unbeteiligter
am wohlsten.

*

An einem anderen Tag fahren wir zu dem
berühmten „Sing-Sing" des Ostens, dem Ge-
fängnis von Manila. Drei stählerne Gitter schlie-
ßen sich automatisch hinter uns, und als wir die
eiserne Wendeltreppe hinaufgeklommen sind,
legen sich die Stufen selbsttätig von ihrer hori-
zontalen in die vertikale Lage. Nun stehen wir
auf einer 8 Meter hohen Mauer, die 50 Zenti-

meter breit, dafür aber 60 Meter lang ist. Auf
dieser marschieren wir zu dem Hauptwacht-
turm, der in der Mitte des Gefängnisses steht
und freie Aussicht nach allen Seiten gewährt.

Eine Glocke, ein Scheinwerfer und zwei Ma-
schinengewehre befinden sich auf seiner Platt-
form. Von hier aus hat man den Überblick auf
die riesigen, in Sternform angeordneten Ba-
racken der Sträflinge. Zehn langgestreckte
Holzbaracken, in denen 4000 Gefangene hausen,
zwei Steinhäuser ohne Fenster, nur mit einem
Lichtschacht von oben versehen und vergitter-
ten Türen, sind die schweren Kerker, in denen
zur Zeit vier Raubmörder sitzen. Gleich da-
neben die Todeskammei mit dem elektrischen
Stuhl. Der ganze Komplex ist von einer hohen
Mauer umschlossen, die von vier Wachtürmen
unterbrochen wird.

Ein einzigartiges Schauspiel sollte sich uns
nun bieten. Punkt 5 Uhr tritt Tag für Tag die
Gefängniskapelle an, in theaterhaft bunten Uni-
formen, und marschiert, von einem Tambour-
major geführt, an dem freien Platz auf und ab.
Auf ein Trompetensignal öffnen sich die Gitter,
und 4000 Sträflinge entquellen den Baracken.
Sie tragen die gestreiften Anzüge von „Sing-
Sing", sind barfuß und haben aber eine Kopf-
bedeckung auf, die in der Form an Tropenhelme
erinneit. Manche können sich nur schwer fort-
bewegen, denn sie tragen Ketten mit eisernen
Kugeln am Fuß. Diese Gefangenen sondern
sich ab und bilden eine Gruppe, während die
übrigen sich in Reih und Glied aufstellen und
nach den Klängen der Musik zweimal auf und
ab spazieren. Auf ein Pfeifensignal bleiben alle
stehen und richten sich militärisch aus. Dann
ertönt die Nationalhymne, und mit einem
Ruck fliegen die hölzernen Hüte von den
Köpfen und ruhen, von der rechten Hand ge-
halten, an der linken Schulter. So stehen sie
still und verharren bis zum Ende der Hymne.
Ein Pfiff erlöst sie aus dieser Stellung, und zu-
rück geht es wieder in die heißen, sonnen-
durchglühten Schuppen, die eisernen Gitter
fliegen mit schwerem Ruck zu, bis sie sich am
nächsten Tag um dieselbe Zeit für eine kurze
Zeitspanne wieder öffnen werden.

Als wir über die hohe Mauer gehen, die zu
beiden Seiten mit elektrischem Draht geschützt
ist, stehen die Gefangenen an den Gittern und
schreien zu uns herauf, zischen leise und rufen ■
freche Worte und versuchen sich sonstwie be-
merkbar zu machen. — Trotzdem es sehr inter-
essant war, sind wir froh, als sich die Treppen
des eisernen Turmes wie von Zauberhand
waagrecht legen und uns das letzte der drei
stählernen Tore den Weg zur Freiheit öffnet.
*

„Pak — Sam' Harn" ist unser heutiges Ziel.
Mit dem Auto erreichen wir in drei Stunden
die berühmten Stromschnellen. Nach einer
Fahrt durch saftiggrüne Zuckerplantagen und

Palmenhaine ändert die Landschaft urplötzllcK
ihr Gesicht, und aus der flachen Ebene wachsen
mit einemmal hohe Felsen empor, die sich von
hier in einem breiten Gebirgsstreifen tief Ins
Innere hineinziehen.

Während alles um uns bebautes, urbar g*-
machtes Land ist, beginnt hier am Fuße der
Felsen tropische Wildnis, die allmählich in Ur-
walddickicht übergeht. Die Berge sind über
500 Meter hoch und fallen in eine Schlucht
senkrecht ab, durch die sich ein wilder tosen*
der Fluß zwängt. Ein beliebtes Vergnügen der
Einwohner von Manila ist es, mit einem Boot
sich von Eingeborenen durch die gefährlichen
Stromschnellen führen zu lassen. Sie müssen
aber diese Sensation oft genug teuer bezahlen.
Zuerst heißt es sechs Stunden flußaufwärts
wandern, üm dann den Reiz einer halb-
stündigen, tollen Kahnfahrt zu genießen. Dann
kommt es nicht selten vor, daß die Boot.9 an
den gefährlichen Stellen kentern und die In-
sassen um ihr Leben kämpfen müssen.

Die Landschaft ist hier märchenhaft schön
und paradiesisch üppig an Vegetation und
Blütenfülle. Das Tosen des Flusses steigert
sich* an den engen Stellen zu einem Donnern,
das durch vielfaches Echo zu einem dauern-
den Rollen und Dröhnen wird.

Die Dämmerung bricht schon langsam herein
und noch immer kommen Autos aus der Stadt
zu diesem Platz. Viele Menschen entsteigen
ihnen und sehen unverwandt zu der kahlen
hohen Felswand hinauf, als ob sie auf etwas
warteten. Bald weiß ich es. Ein eigenartiges
Schauspiel bietet sich uns. Es scheint plötzlich,
als ob aus der Wand, die schon im Schatten
der Dämmerung liegt, sich eine Rauchfahne
löse, die immer dichter und breiter wird und
schließlich wie dicke Schwaden durcheinander-
quillt. Sie zieht sich in einer unendlichen Länge
und Dichte dahin und reißt plötzlich ab und
scheint nicht enden zu wollen. Dieses Gebilde
bewegt sich schnell der Stadt Manila zu und
verschwindet am blaugrauen Horizont. Es sieht
aus wie eine querliegende Windhose.

Das Phänomen besteht aus Tausenden und
aber Tausenden von Fledermäusen, die all-
abendlich zur selben Stunde ihren Weg nach
der Stadt nehmen, um beim Morgengrauen
wieder in die Felsspalten und Risse zurück-
zukehren. —

Hauptschriftleiter: Dr. Heinz Wollt. Stellvertreter: Dr.
Carl Fink (z. Zt. im Felde). Anschrift der Hauptschrift-
leitung: München, Schellingstraße 39, Fernruf: 2 US 01 Für
den Anzeigenteil verantwortlich Gg Kienle. Verlag: Franz
Eher Nachfolger G. m b. H. — Druck:' Buchgewerbehaus
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preise laut aufliegender Preisliste Nr. 10. Für unverlangt
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Redaktionsschluß für letzte Meldungen Montag abend.

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