Hch 5.
Es gibt sünf verschiedene Grade der Deportation nach Si-
birien: Konfinirnng (ZwangSanfcnthalt) in einer Stadt,
Dienst in eniein sibirischen Bataillon, Kolonisation, Arbeit in
den Bergwerken nnd Einreihung in die Arresteompagnien.
Im ersten Grad, der Konfinirnng, darf sich der Bestrafte
ganz nach seinem Belieben beschäftigen, sich verheirathcn,
innerhalb eine? gewissen Bezirkes sich frei bewegen, steht aber
unter der polizeilichen Aussicht des Bürgermeisters nnd unter
Ueberwachung seiner Korrefpondenz. Diese Strasklasse um-
faßt die Mehrzahl der wegen politischer Vergehen Verurtheil-
ten und die^derselbcn Angehörenden müssen für ihren Unter-
halt selber Lorge tragen. — Der in ein sibirisches Bataillon
eiugelheilte Deportirte zweiter Klasse unterliegt zwar einer
strengen Disziplin, darf aber unter der Kontrole seiner Vor-
gesetzten Briefe nach Hanse schreiben, auch solche von dort
empfangen und erhält, wenn er mittellos ist, ein Kost-
oder Fahrgeld von der Regierung. — Den Deportirten
der dritten Klasse, den Kolonisten (Posclcntzi) wird Feld
nnd Behausung von der Regierung angewiesen; sie zahlen
in den ersten drei Jahren gar keine Abgabe, in den fol-
genden siehen Jahren mir die Hälfte nnd werden erst nach
Verlauf von zehn Jahren derselben Besteuerung unterworfen
und derselben Rechte theilhaftig wie die Kranbauern. — Tie
vierte Klasse der Deportirten, die dcr Bergwerksarbeiter, be-
sonders in den Bleigruben, rekrntirt sich vorwiegend aus
Mördern, Rändern und Allen, welche schwerer oder gemeiner
Verbrechen überwiesen worden sind; diese Deportirten sind
vollkommen rechtlos, stehen außer dem Gesetz, sind schlecht
verpflegt und genährt nnd solchen Strapazen und strenger
Behandlung unterworfen, daß sie binnen wenigen Jahren
ihrem Geschick erliege». — Die fünfte Klasse der Deportirten
in den Arrestcompagnicn, ebenfalls nur ans schweren Ver-
brechern bestehend, wird als Kettensträflingc mit halb ge-
schorenem Kopf in den Zuchthäusern nur zu den schwersten und
entehrendsten Arbeiten benützt, gleich den Galeerensträflingen
der ehemaligen französischen Bagnos. Kein Tcportirter kann
ohne Erlaubnis; der Regierung wieder in die Heimnth zurück-
kehren oder dars Sibirien verlassen. — Dem Prinzip der Depor-
tation liegt der Gedanke zu Grunde, das russische Reich von
gefährlichen Elementen zu reinigen, die trägen, verdorbenen
nnd sittenlosen Menschen in nützliche Staatsbürger umznwan-
deln und für die Ausbeutung der Naturschätze seiner nord-
asiatischen Besitzungen nllmählig eine Bevölkerung zu schaffen.
Die fruchtbaren und freundlichen Gegenden des südlichen
Sibiriens mit ihren Städten sind meist von den Tepor-
tirten der ersten leichteren Grade bevölkert worden, nnd viele
dieser gezwungenen Kolonisten haben in Sibirien eine neue
Heimath gefunden, welche sic sreiwillig nicht einmal wieder
verlassen würden. — Tic Verbannten-2ransporte werden
unter der Aussicht von Soldaten mit geladenem Gewehr
»ach Sibirien geführt; doch überall, wo ein solcher Zug
erscheint, bethätigt sich das allgemeine Mitgefühl in der
rückhaltslosesten Weise, ganz wie nur cS ans unserem
Bild Seile 108 nnd 109 sehen, welches, einen Transport
Verbannter von einem Bahnhof zum andern durch die
Straßen von Moskau darstellt. Alle Stände, daS Mütter-
chen anS dem Volke, der Junge des kleinen Bürgers, der
bettelnde Musikant, die hochgeborene Tochter des reichen Ba-
rons und das einfache Bürgermädchen, sie Alle bceiscrn und
beeilen sich, den Unglücklichen ein Almosen zu reichen und
ihr Mitgefühl durch Blicke und Worte anszndrücken; die
Soldaten lassen cs gnlmüthig geschehen nnd die Deportirten
bekunden ihre Dankbarkeit gar ost durch Thränen. Der
Transport wird mittelst der Eisenbahn so lauge fortgesetzt,
als die Bahnverbindung reicht; dann geht die Reise der Ver-
bannten zu Fuß weiter nnd nun beginnen erst die harten
Strapazen. Die Tagcmärsche betragen je nach der Jahres-
zeit nnd der Beschaffenheit des Weges und der Witterung
30—35 Werst (7 Werst gleich einer deutschen Meile). Tie
Deportirten tragen jeder ein kleines Bündel mit der noth-
dürstigsten Kleidung und dem jogeü. „eisernen Bestand" an
Proviant für 1—2 Tage; aber vom frühen Morgen an bis
zum spaten Abend ist die Kolonne unausgesetzt ans dem Marsche
in Svnnenglnlh, Regen, Schnee und Sturm, bis das Ziel des
TagemnrschcS erreicht ist, wo dann erst Halt gemacht und
abgekocht wird. Ains; unter freiem Himmel bivonakirt wer-
den, jo zündet man Lagerfeuer au, um welche die Deportirten
sich uiederlegeu, während rings herum Wachtposten ausgestellt
werden. Durch finstere Walder, kahle Haiden, öde sandige
Steppen und über ungastliche steinige Gebirge führt der Weg;
ost bezeichnen nur Pfähle in gewissen Zwischenräumen die Rich-
tung der Wegspnr bei liefern Lchnee; aber weiter, unaufhaltsam
weiter geht der Zug, ohne Rücksicht auf Hunger, Durst oder
Ermüdung der Sträflinge. Bricht einer der Letzteren erschöpft
zusammen, so wird er auf eines der Fahrzeuge gelegt, welche
den Zug begleiten nnd den Proviant der Gefangenen und die
Bagage der Offiziere nnd Soldaten nachführen, bei größeren
Transporten ist auch wohl ein Feldschere der Eskorte beige-
gebcu, um nach den Maroden und Kranken zu sehen. Gar oft
aber erliegt auch einer der Deportirten den ungewohnten
Strapazen und seine Leiche wird dann dem Ortsvarsteher
nnd dem Popen des nächsten Dorfes, welche aus öffentliche
Kosten jür die Beerdigung Sorge tragen müssen, gegen eine
Bescheinigung znrückgelasscn, denn der Kommandant der
Eskorte hat sich am Endziele über den Bestand seiner Ge-
fangenen ausznweisen, denen nach den Mühsalen der Reise
auch der trostloseste Ort als eine Art Glückshafen und Ruhe-
platz erscheinen mag.
Die Milchvcrlorgung von Paris.
I Siehe das Bild auf S. 112.)
Von jeher steht die in Paris verkaufte Milch iu schlechtem
und verdächtigem Rufe trotz aller polizeilichen Revisionen und
Kontrole», nnd erst in neuerer Zeit ist eS gelungen, dem
llebelstaude der Milchversälschnng in elivnS vorznbeugcu,-nnd
zwar durch die Errichtung zahlreicher großer Mi'lchwirth-
schasten, welche in den Vorstädten und Nachbargememden von
Das B.uch für Alle.
Paris entstanden sind, den Milchcrlrag der kleineren Milch-
produzenten sammeln, einem konscrvirendcn Verfahren unter-
werfen, sie dann dem Konsumenten in eigenen verschlossenen
oder versiegelten Gefässen übermitteln und auf diese Weise
die Pariser mit einer möglichst nnvcrsälschtcn Milch ver-
sorgen. An diese Art der Milchversorgnng knüpft unser Bild
ans Seite 112, indem eS den Betrieb einer solchen Milchnerei
veranschaulicht. Jedes derartige Etablissement schickt am
Morgen eine Anzahl Fuhrwerke, wie unser erstes Bild links
oben sie darstcllt, mit eigenen Blcchgefässen nach den Bauern-
häusern der Nachbarschaft innerhalb eines bestimmten Bezirks,
um den kleinen Produzenten deren Milchcrtrag vom Abend-
nud Morgcnmclken abznkaufen. Dieses Einsammeln ist ein
sehr langsamer und langwieriger Prozeß, welcher zuweilen
auch noch dadurch verzögert wird, daß sich, wie daS Bild in
der rechten oberen Ecke zeigt, der Herr Gendarm hineinmengt,
eine Milchwage anS der Tasche hervorholt nnd die verkaufte Milch
ans den ihr etwa widerfahrenen Grad der Wassertausc prüft,
um schon bei der ersten Quelle der Verfälschung vorzubeugen.
Um 9 Uhr etwa treffen dann die verschiedenen Fuhrwerke
mit ihren gesammelten Milchvorräthen wieder in dem Etablisse-
ment ein, und die gesammelte Milch wandert nun in die
Milchküchc (s. daS Mittelbild), wo sie in blecherne Milch-
flaschen umgefüllt wird, die man dann offen in große Pfannen
mit kochendem Wasser cinstcllt, nm die Milch im sogenannten
Wasserbadc anfznkochen, damit sie eines Thcilcs ihres Kohlen-
säuregehaltes beraubt nud dadurch haltbarer wird. Nachdem
dieses Aufkochcn bis aus ciueu durch die Temperatur der
Atmosphäre bestimmteu mehr oder minder hohen Wärmegrad
stattgefundcn hat, wird die sümmtlicbe Mitch aus den Ge-
fässen iu einen großen Trog gegossen und hier durch ein
feines Sieb geseiht, woraus man die zur Bereitung von Rahm
oder Butter bestimmte in flache Näpse stillt nnd in die Milch-
kammer (s. das Bild in der linken unteren Ecke) stellt, die
übrige aber wieder in Blechflaschen füllt. Diese, mir etwa zn
gefüllt, werden dann in große gemauerte oder ans Eement
hcrgestellte Tröge, welche von einem fortlaufenden Strom kal-
ten Wassers durchzogen werden, gestellt, um abgekühlt und
kalt erhalten zu werden (s. daS untere Mittelbild). Gegen
1 Uhr Mittags treten nun die oben erwähnten Wägen nnd
Karren der Milchwirthschast ihre Rundfahrt abermals an,
nm je in ihrem betreffenden Bezirke den Ertrag des Mittags-
melkenS bei den kleineren Produzenten abznholcn. Diese
Mittagsmilch wird nieder ausgekocht noch abgekühlt, sondern
nur sorgfältig durchgeseiht und dann zum Aufsüllen der Blech-
kapseln in den Kühltrögen verwendet. Die nun vollen Blech-
gesässe bleiben in den Kühltrögcn bis zn der Stunde, wo sie
iu die Gefässe zum Verkaufe umgegosseu werden. Letztere
werden dann verschlossen oder mit Bindfaden verbunden nnd
gesiegelt, nm nach Paris abzngehen nnd dort entweder direkt
den festen Kunden mit unversehrtem Siegel oder verschlossen,
da diese ebenfalls einen Schlüssel besitzen, überliefert oder zu
den Wiederverkäufen; gebracht zu werden. Unter den Ab-
nehmern befinden sich anch die Milchfrauen, welche an den
Straßenecken den kleinen Knuden ihren Bedarf im Einzelnen
abgcben (s. das Bild in der rechten unteren Ecke), jedoch
ohne Garantie für Reinheit und Echtheit, da sie ans den be-
reits geöffneten Gefässen verknusen. Es ist selbstredend, daß
bei dem etwas komplizirten Verfahren in den Milchwirth-
jchasten die größtmögliche Reinlichkeit beobachtet werden mnß,
daß alle verwendeten Behältnisse in heißem Wasser ausgekocht
uud iu fließendem Wasser abgespült werden müssen, daß im
Lokale selbst durch Kehren uud Fegen eine wahrhaft peinliche
Reinlichkeit berrschen muß und daß man auch gewisser kvn-
servireuder Zumischungen, wie z. B. doppeltkohlensanrcn Na-
trons u. dgl., nicht wird entbehren können, denn Milch ist
eine kitzliche Waare und gar zn leicht dem Verderben oder
Umstehen ausgesetzt. Allein die anS diesen großen Milch-
wirthscbaften bezogene Milch ist wenigstens echte Milch nnd
von besserer Qualität als die meiste von kleinen Produzenten
direkt bezogene, weshalb sie auch einen besseren Preis erzielt.
Eine Wildschlveiufütterung in Dubrow bei
Konigswiisterhanlen.
(Siche daS Bild auf Seile 113.)
Ter eigentliche Hossorst für die Hoheuzollern ist der „Grüne-
wald" bei Berlin, uw außer den großen Treibjagden, au
denen auch Kaiser Wilhelm sich gewöhnlich zu betheiligen
pflegt, alljährlich eine Reihe von Parforcejagden, die unter
dem besonderen Protektorate des Prinzen 'Karl, des Bruders
des deutschen Kaisers, stehen, stattfinden, welche stets zahlreiche
Zuschauer von Berlin nnd Potsdam herbeilocken. Die könig-
liche Jagd beschränkt sich indes; keineswegs auf die Umgebung
der preußischen Hauptstadt nud Potsdams, sondern zählt noch
viele Jagdreviere mit vorzüglichem Hochwildstande, so z. B.
den Wcrbellincr Forst, Köuigswusterhausen, die Göhrde im
Hanuover'schcn nnd mehrere andere. Mit den bedeutendsten
Wildstand hat der etwa 1hl Meilen von Königswusterhausen
(mit seinem durch die häufige Anwesenheit Friedrich Wit-
helm's I. berühmten schlösse) entfernte königliche Forst Du-
brow, in den wir den Leser an der Hand unseres Bildes
ans S. 113 geleiten. Tie Waldäsnng reicht hier, wie in den
meisten übrigen Forsten, für die Ernährung der zahlreichen
Thiere nicht ans, welche daher täglich an bestimmten Futter-
plätzen, „Tische" genannt, gesüttcrt werden müssen. Hoch-
und Schwarzwild werden in diesem Forste getrennt gehalten,
und unsere Illustration sührt uns nun eine Fütterung des
Schwarzwildes in dem von diesem besetzten Theite jenes
WaldreviereS vor. Es ist ein wirklich überraschender Anblick,
wie diese mächtigen Eber, welche ans der Jagd gereizt und
zumal verwundet nicht selten höchst gefährliche Gegner wer-
den, hier allmählig so zahm geworden sind, daß sie buchstäb-
lich dem FörsterStöchtcrlcitt, das den mit der Fütterung be-
trauten Knecht zu begleiten pflegt nud sich gauz furchtlos mitten
unter dieser grunzenden Heerde bewegt, nm ihr anS einem
Körbchen Erbsen und Kartoffeln hinzustreuen, aus der Haud I
fressen. Neben dem Futterplatz befindet sich eine sogenannte
„Kanzel", von welcher aus der alte Förster einem fremden
Besucher dieses hochiutcrcsstuüe Schauspiel zeigt, welches,
wie er mit einem gewissen Stolze berichtet, von derselben
Stelle aus auch schon häufig die Mitglieder der preußischen
Königsfamilie ergötzt hat.
Äleko Pascha, Gelltral-Ganaerncur von M-
rnmelieil.
(Siche das Portiät auf Seite 116)
Durch den Berliner Friedensvertrag vom 13. Juli 1878 ist
bekanntlich südlich vom Balkan anS dem nördlichen Theile des
ehemaligen VilajetS Ndrianopel eine Provinz Ostrumelieu ge-
bildet, die zwar unter dcr unmittelbaren politischen und militäri-
schen Oberhoheit des Sultans verbleiben, im klebrigen jedoch
administrative Selbstständigkeit genießen soll. Zum ersten
General-Gouverneur dieser Provinz wurde im Mai 1879 durch
Ferman des Sultans Abdul-Hamid A lcko P a sch a, oder wie
er mit seinem christlichen Namen heißt; Fürst Alerander
Vogorides, dessen Porträt unsere Leser aus S. llü finden,'
beruscn nnd nm 30. des genannten Monats als solcher feier-
lich zn Philippopel, der Hauptstadt OstrumclienS, proklamirt.
Aleko Pascha, dessen Wahl von den europäischen Groß-
mächten ciustimmig gutgeheißen worden ist, scheint auch durch
seine Abstammung und Geburt, wie durch seine persönlichen
Eigenschaften in hervorragender Weise befähigt, die schwierige
Ausgabe zu erfüllen, unter den Südbnlgarcu eine geordnete
Verwaltung eiuzuführcn uud die Ruhe unter dem politisch-
aufgeregten Volke aufrecht zn erhalten; zudem ist er Christ
und entstammt einer nltbulgarischen Familie, genießt aber
auch andererseits das Vertrauen des Lultans und wird als
ein Manu von klaren,, energischem Geiste und wohlwollender
Gesinnung gerühmt. Er ist der dritte Lohn des Fürsten
Vogorides, welcher der Türkei zur Zeit des Krimkrie.es und
in seiner späteren Ltcllnug als Gouverneur von Lamos
wesentliche Dienste geleistet hat. 'Aleko Pascha, welcher eine
umfassende Bildung besitzt und außer deu orientalischen
Idiomen fertig griechisch, italienisch, französisch und deutsch
spricht, machte seine Ltudieu von 1834—1842 iu Norddeutsch-
land, besonders iu Berlin, und trat daun in die diplomatische
Earriöre ein. In derselben kam er wiederum nach Berlin,
dann nach Loudon (woselbst er eine Zeitlang deu türkischen
Gesandten, seinen Schwager Musurns Pascha, zn vertreten
hatte) und nach Wien. In der Kaiserstadt an der Donau
verweilte er auch später als türkischer Botschaslcr, bis er im
Lommer 1877 auf Anstiftcn des ihm feindlich gesinnten
Großveziers Edhem Pascha plötzlich seine Abberufung uud
deu Befehl erhielt, sich zu seiner Verantwortung nach Kon-
stantinopel zu begeben. Er zog es jedoch vor, letzterer
Weisung nicht nachzukommeu, sondern als Privatmann in
Paris zu leben, bis dann seine jüngste Berufung erfolgte.
Gegenwärtig zählt er etwa 50 Jahre und erfreut sich der
vollsten körperlichen nnd geistigen Rüstigkeit. Seine Ge-
mahlin, die Fürstin Aspasia, ist eine Tochter des großen
Bankiers v. Baltazzi in Lmyrna und durch hohe persönliche
Liebenswürdigkeit ausgezeichnet.
Ueberralcht durch die LpriuiMth.
iLichc das Bild auf S 117.)
Unser nach einem Gemälde des englischen Malers Bot-
tüinlei) gezeichnetes Bild aus S. 117 stellt eine Scene am
Strande der Moreeambe-Bai an der Küste der englischen
Grafschaft Lancaster dar. — Ein Fuhrmann ist mit seinem
durch zwei tüchtige Gäule gezogenen Wagen von Mvrecambe
nach Poulton unterwegs, nach welchem Ltädtchen er seine
Fracht bringen soll, nnd hat ohne Bedenken den nächsten,
dicht am Strande entlang führenden, schon ost von ihm ge-
machten Weg eingeschlageu, ans dem er unter gewöhnlichen
Verhältnissen gewiß auch diesmal wohlbehalten jein Ziel er-
reicht haben würde. Aber der Sonnenschein, bei dem er
ausgezogcn, weicht plötzlich einem deu ganzen Horizont ver-
hüllenden Gewölle, ein heftiger Sturm tobt von der Lee
daher, und ehe dcr ahnungslos neben seinem Wagen Eintzer-
schreitendc sich recht besinnen kau», was um ihn vorgeht, sieht
er gewaltige Wogen vom Strande landeinwärts gebrau?l
kommen, welche schon im nächsten Moment das Fuhrwerk er-
reicht haben nud von Sekunde zu Lckuude mehr anschwelleu.
Es ist eine sogenannte „Spriugfluth" — eine Naturerschei-
nung, welche einzulreten pflegt, wenn zur Zeit des 'Nen oder
des Vollmondes die Mondflutl) mit der Sonnenfluth zusammen-
fällt, die sich alsdann gegenseitig verstärken, so daß die Wogen
viel weiter landeinwärts als bei der gewöhnlichen Fluth sich
ergießen, nud zwar mit gauz rapider Schnelligkeit. - Schon
ist's zu spät, den Wagen nnd seine Ladung zu relteu; um
Tod und Leben geht es jetzt, nnd schnell schirrt der tödtlich
Erschreckte die Pferde vom Wagen nnd schwingt sich auf das
Sattelpserd, doch in der wahnsinnigen Eile hat er die Lträugc
des Handpferdes nicht von dem bereits abgehaklen Schwengel
gelöst, und dieser schlägt' dem Thiere beim Jagen ans die
Hessen, wodurch es scheu und uüderspcnstig wird uud, wäh-
rend das Sattelpferd mit langgestrecktem Halse dem festen
Lande zustrebt, sich bäumt und der Zügelführuug seines Len-
kers nicht gehorcht. Angst uud Zorn spricht sich in dem Ge-
sichte des Mannes aus, dessen Hut iu Folge des Sturmes
und der heftigen Anstrengungen, das scheue Pferd zu bän-
digen nnd zu retten, bereits vom Kopfe gefallen nnd ein
Lpiel der Fluthwelleu ist. Hoffen wir, daß dcr Reiter mit
seinen Pferden nicht das Loos des Wagens nnd des Hutes
theilen möge, sondern dap ihm gelinge, sich zu retten vor der
Spriugfluth, die schon manchem Küstenbewohner verderblich
ward.
Es gibt sünf verschiedene Grade der Deportation nach Si-
birien: Konfinirnng (ZwangSanfcnthalt) in einer Stadt,
Dienst in eniein sibirischen Bataillon, Kolonisation, Arbeit in
den Bergwerken nnd Einreihung in die Arresteompagnien.
Im ersten Grad, der Konfinirnng, darf sich der Bestrafte
ganz nach seinem Belieben beschäftigen, sich verheirathcn,
innerhalb eine? gewissen Bezirkes sich frei bewegen, steht aber
unter der polizeilichen Aussicht des Bürgermeisters nnd unter
Ueberwachung seiner Korrefpondenz. Diese Strasklasse um-
faßt die Mehrzahl der wegen politischer Vergehen Verurtheil-
ten und die^derselbcn Angehörenden müssen für ihren Unter-
halt selber Lorge tragen. — Der in ein sibirisches Bataillon
eiugelheilte Deportirte zweiter Klasse unterliegt zwar einer
strengen Disziplin, darf aber unter der Kontrole seiner Vor-
gesetzten Briefe nach Hanse schreiben, auch solche von dort
empfangen und erhält, wenn er mittellos ist, ein Kost-
oder Fahrgeld von der Regierung. — Den Deportirten
der dritten Klasse, den Kolonisten (Posclcntzi) wird Feld
nnd Behausung von der Regierung angewiesen; sie zahlen
in den ersten drei Jahren gar keine Abgabe, in den fol-
genden siehen Jahren mir die Hälfte nnd werden erst nach
Verlauf von zehn Jahren derselben Besteuerung unterworfen
und derselben Rechte theilhaftig wie die Kranbauern. — Tie
vierte Klasse der Deportirten, die dcr Bergwerksarbeiter, be-
sonders in den Bleigruben, rekrntirt sich vorwiegend aus
Mördern, Rändern und Allen, welche schwerer oder gemeiner
Verbrechen überwiesen worden sind; diese Deportirten sind
vollkommen rechtlos, stehen außer dem Gesetz, sind schlecht
verpflegt und genährt nnd solchen Strapazen und strenger
Behandlung unterworfen, daß sie binnen wenigen Jahren
ihrem Geschick erliege». — Die fünfte Klasse der Deportirten
in den Arrestcompagnicn, ebenfalls nur ans schweren Ver-
brechern bestehend, wird als Kettensträflingc mit halb ge-
schorenem Kopf in den Zuchthäusern nur zu den schwersten und
entehrendsten Arbeiten benützt, gleich den Galeerensträflingen
der ehemaligen französischen Bagnos. Kein Tcportirter kann
ohne Erlaubnis; der Regierung wieder in die Heimnth zurück-
kehren oder dars Sibirien verlassen. — Dem Prinzip der Depor-
tation liegt der Gedanke zu Grunde, das russische Reich von
gefährlichen Elementen zu reinigen, die trägen, verdorbenen
nnd sittenlosen Menschen in nützliche Staatsbürger umznwan-
deln und für die Ausbeutung der Naturschätze seiner nord-
asiatischen Besitzungen nllmählig eine Bevölkerung zu schaffen.
Die fruchtbaren und freundlichen Gegenden des südlichen
Sibiriens mit ihren Städten sind meist von den Tepor-
tirten der ersten leichteren Grade bevölkert worden, nnd viele
dieser gezwungenen Kolonisten haben in Sibirien eine neue
Heimath gefunden, welche sic sreiwillig nicht einmal wieder
verlassen würden. — Tic Verbannten-2ransporte werden
unter der Aussicht von Soldaten mit geladenem Gewehr
»ach Sibirien geführt; doch überall, wo ein solcher Zug
erscheint, bethätigt sich das allgemeine Mitgefühl in der
rückhaltslosesten Weise, ganz wie nur cS ans unserem
Bild Seile 108 nnd 109 sehen, welches, einen Transport
Verbannter von einem Bahnhof zum andern durch die
Straßen von Moskau darstellt. Alle Stände, daS Mütter-
chen anS dem Volke, der Junge des kleinen Bürgers, der
bettelnde Musikant, die hochgeborene Tochter des reichen Ba-
rons und das einfache Bürgermädchen, sie Alle bceiscrn und
beeilen sich, den Unglücklichen ein Almosen zu reichen und
ihr Mitgefühl durch Blicke und Worte anszndrücken; die
Soldaten lassen cs gnlmüthig geschehen nnd die Deportirten
bekunden ihre Dankbarkeit gar ost durch Thränen. Der
Transport wird mittelst der Eisenbahn so lauge fortgesetzt,
als die Bahnverbindung reicht; dann geht die Reise der Ver-
bannten zu Fuß weiter nnd nun beginnen erst die harten
Strapazen. Die Tagcmärsche betragen je nach der Jahres-
zeit nnd der Beschaffenheit des Weges und der Witterung
30—35 Werst (7 Werst gleich einer deutschen Meile). Tie
Deportirten tragen jeder ein kleines Bündel mit der noth-
dürstigsten Kleidung und dem jogeü. „eisernen Bestand" an
Proviant für 1—2 Tage; aber vom frühen Morgen an bis
zum spaten Abend ist die Kolonne unausgesetzt ans dem Marsche
in Svnnenglnlh, Regen, Schnee und Sturm, bis das Ziel des
TagemnrschcS erreicht ist, wo dann erst Halt gemacht und
abgekocht wird. Ains; unter freiem Himmel bivonakirt wer-
den, jo zündet man Lagerfeuer au, um welche die Deportirten
sich uiederlegeu, während rings herum Wachtposten ausgestellt
werden. Durch finstere Walder, kahle Haiden, öde sandige
Steppen und über ungastliche steinige Gebirge führt der Weg;
ost bezeichnen nur Pfähle in gewissen Zwischenräumen die Rich-
tung der Wegspnr bei liefern Lchnee; aber weiter, unaufhaltsam
weiter geht der Zug, ohne Rücksicht auf Hunger, Durst oder
Ermüdung der Sträflinge. Bricht einer der Letzteren erschöpft
zusammen, so wird er auf eines der Fahrzeuge gelegt, welche
den Zug begleiten nnd den Proviant der Gefangenen und die
Bagage der Offiziere nnd Soldaten nachführen, bei größeren
Transporten ist auch wohl ein Feldschere der Eskorte beige-
gebcu, um nach den Maroden und Kranken zu sehen. Gar oft
aber erliegt auch einer der Deportirten den ungewohnten
Strapazen und seine Leiche wird dann dem Ortsvarsteher
nnd dem Popen des nächsten Dorfes, welche aus öffentliche
Kosten jür die Beerdigung Sorge tragen müssen, gegen eine
Bescheinigung znrückgelasscn, denn der Kommandant der
Eskorte hat sich am Endziele über den Bestand seiner Ge-
fangenen ausznweisen, denen nach den Mühsalen der Reise
auch der trostloseste Ort als eine Art Glückshafen und Ruhe-
platz erscheinen mag.
Die Milchvcrlorgung von Paris.
I Siehe das Bild auf S. 112.)
Von jeher steht die in Paris verkaufte Milch iu schlechtem
und verdächtigem Rufe trotz aller polizeilichen Revisionen und
Kontrole», nnd erst in neuerer Zeit ist eS gelungen, dem
llebelstaude der Milchversälschnng in elivnS vorznbeugcu,-nnd
zwar durch die Errichtung zahlreicher großer Mi'lchwirth-
schasten, welche in den Vorstädten und Nachbargememden von
Das B.uch für Alle.
Paris entstanden sind, den Milchcrlrag der kleineren Milch-
produzenten sammeln, einem konscrvirendcn Verfahren unter-
werfen, sie dann dem Konsumenten in eigenen verschlossenen
oder versiegelten Gefässen übermitteln und auf diese Weise
die Pariser mit einer möglichst nnvcrsälschtcn Milch ver-
sorgen. An diese Art der Milchversorgnng knüpft unser Bild
ans Seite 112, indem eS den Betrieb einer solchen Milchnerei
veranschaulicht. Jedes derartige Etablissement schickt am
Morgen eine Anzahl Fuhrwerke, wie unser erstes Bild links
oben sie darstcllt, mit eigenen Blcchgefässen nach den Bauern-
häusern der Nachbarschaft innerhalb eines bestimmten Bezirks,
um den kleinen Produzenten deren Milchcrtrag vom Abend-
nud Morgcnmclken abznkaufen. Dieses Einsammeln ist ein
sehr langsamer und langwieriger Prozeß, welcher zuweilen
auch noch dadurch verzögert wird, daß sich, wie daS Bild in
der rechten oberen Ecke zeigt, der Herr Gendarm hineinmengt,
eine Milchwage anS der Tasche hervorholt nnd die verkaufte Milch
ans den ihr etwa widerfahrenen Grad der Wassertausc prüft,
um schon bei der ersten Quelle der Verfälschung vorzubeugen.
Um 9 Uhr etwa treffen dann die verschiedenen Fuhrwerke
mit ihren gesammelten Milchvorräthen wieder in dem Etablisse-
ment ein, und die gesammelte Milch wandert nun in die
Milchküchc (s. daS Mittelbild), wo sie in blecherne Milch-
flaschen umgefüllt wird, die man dann offen in große Pfannen
mit kochendem Wasser cinstcllt, nm die Milch im sogenannten
Wasserbadc anfznkochen, damit sie eines Thcilcs ihres Kohlen-
säuregehaltes beraubt nud dadurch haltbarer wird. Nachdem
dieses Aufkochcn bis aus ciueu durch die Temperatur der
Atmosphäre bestimmteu mehr oder minder hohen Wärmegrad
stattgefundcn hat, wird die sümmtlicbe Mitch aus den Ge-
fässen iu einen großen Trog gegossen und hier durch ein
feines Sieb geseiht, woraus man die zur Bereitung von Rahm
oder Butter bestimmte in flache Näpse stillt nnd in die Milch-
kammer (s. das Bild in der linken unteren Ecke) stellt, die
übrige aber wieder in Blechflaschen füllt. Diese, mir etwa zn
gefüllt, werden dann in große gemauerte oder ans Eement
hcrgestellte Tröge, welche von einem fortlaufenden Strom kal-
ten Wassers durchzogen werden, gestellt, um abgekühlt und
kalt erhalten zu werden (s. daS untere Mittelbild). Gegen
1 Uhr Mittags treten nun die oben erwähnten Wägen nnd
Karren der Milchwirthschast ihre Rundfahrt abermals an,
nm je in ihrem betreffenden Bezirke den Ertrag des Mittags-
melkenS bei den kleineren Produzenten abznholcn. Diese
Mittagsmilch wird nieder ausgekocht noch abgekühlt, sondern
nur sorgfältig durchgeseiht und dann zum Aufsüllen der Blech-
kapseln in den Kühltrögen verwendet. Die nun vollen Blech-
gesässe bleiben in den Kühltrögcn bis zn der Stunde, wo sie
iu die Gefässe zum Verkaufe umgegosseu werden. Letztere
werden dann verschlossen oder mit Bindfaden verbunden nnd
gesiegelt, nm nach Paris abzngehen nnd dort entweder direkt
den festen Kunden mit unversehrtem Siegel oder verschlossen,
da diese ebenfalls einen Schlüssel besitzen, überliefert oder zu
den Wiederverkäufen; gebracht zu werden. Unter den Ab-
nehmern befinden sich anch die Milchfrauen, welche an den
Straßenecken den kleinen Knuden ihren Bedarf im Einzelnen
abgcben (s. das Bild in der rechten unteren Ecke), jedoch
ohne Garantie für Reinheit und Echtheit, da sie ans den be-
reits geöffneten Gefässen verknusen. Es ist selbstredend, daß
bei dem etwas komplizirten Verfahren in den Milchwirth-
jchasten die größtmögliche Reinlichkeit beobachtet werden mnß,
daß alle verwendeten Behältnisse in heißem Wasser ausgekocht
uud iu fließendem Wasser abgespült werden müssen, daß im
Lokale selbst durch Kehren uud Fegen eine wahrhaft peinliche
Reinlichkeit berrschen muß und daß man auch gewisser kvn-
servireuder Zumischungen, wie z. B. doppeltkohlensanrcn Na-
trons u. dgl., nicht wird entbehren können, denn Milch ist
eine kitzliche Waare und gar zn leicht dem Verderben oder
Umstehen ausgesetzt. Allein die anS diesen großen Milch-
wirthscbaften bezogene Milch ist wenigstens echte Milch nnd
von besserer Qualität als die meiste von kleinen Produzenten
direkt bezogene, weshalb sie auch einen besseren Preis erzielt.
Eine Wildschlveiufütterung in Dubrow bei
Konigswiisterhanlen.
(Siche daS Bild auf Seile 113.)
Ter eigentliche Hossorst für die Hoheuzollern ist der „Grüne-
wald" bei Berlin, uw außer den großen Treibjagden, au
denen auch Kaiser Wilhelm sich gewöhnlich zu betheiligen
pflegt, alljährlich eine Reihe von Parforcejagden, die unter
dem besonderen Protektorate des Prinzen 'Karl, des Bruders
des deutschen Kaisers, stehen, stattfinden, welche stets zahlreiche
Zuschauer von Berlin nnd Potsdam herbeilocken. Die könig-
liche Jagd beschränkt sich indes; keineswegs auf die Umgebung
der preußischen Hauptstadt nud Potsdams, sondern zählt noch
viele Jagdreviere mit vorzüglichem Hochwildstande, so z. B.
den Wcrbellincr Forst, Köuigswusterhausen, die Göhrde im
Hanuover'schcn nnd mehrere andere. Mit den bedeutendsten
Wildstand hat der etwa 1hl Meilen von Königswusterhausen
(mit seinem durch die häufige Anwesenheit Friedrich Wit-
helm's I. berühmten schlösse) entfernte königliche Forst Du-
brow, in den wir den Leser an der Hand unseres Bildes
ans S. 113 geleiten. Tie Waldäsnng reicht hier, wie in den
meisten übrigen Forsten, für die Ernährung der zahlreichen
Thiere nicht ans, welche daher täglich an bestimmten Futter-
plätzen, „Tische" genannt, gesüttcrt werden müssen. Hoch-
und Schwarzwild werden in diesem Forste getrennt gehalten,
und unsere Illustration sührt uns nun eine Fütterung des
Schwarzwildes in dem von diesem besetzten Theite jenes
WaldreviereS vor. Es ist ein wirklich überraschender Anblick,
wie diese mächtigen Eber, welche ans der Jagd gereizt und
zumal verwundet nicht selten höchst gefährliche Gegner wer-
den, hier allmählig so zahm geworden sind, daß sie buchstäb-
lich dem FörsterStöchtcrlcitt, das den mit der Fütterung be-
trauten Knecht zu begleiten pflegt nud sich gauz furchtlos mitten
unter dieser grunzenden Heerde bewegt, nm ihr anS einem
Körbchen Erbsen und Kartoffeln hinzustreuen, aus der Haud I
fressen. Neben dem Futterplatz befindet sich eine sogenannte
„Kanzel", von welcher aus der alte Förster einem fremden
Besucher dieses hochiutcrcsstuüe Schauspiel zeigt, welches,
wie er mit einem gewissen Stolze berichtet, von derselben
Stelle aus auch schon häufig die Mitglieder der preußischen
Königsfamilie ergötzt hat.
Äleko Pascha, Gelltral-Ganaerncur von M-
rnmelieil.
(Siche das Portiät auf Seite 116)
Durch den Berliner Friedensvertrag vom 13. Juli 1878 ist
bekanntlich südlich vom Balkan anS dem nördlichen Theile des
ehemaligen VilajetS Ndrianopel eine Provinz Ostrumelieu ge-
bildet, die zwar unter dcr unmittelbaren politischen und militäri-
schen Oberhoheit des Sultans verbleiben, im klebrigen jedoch
administrative Selbstständigkeit genießen soll. Zum ersten
General-Gouverneur dieser Provinz wurde im Mai 1879 durch
Ferman des Sultans Abdul-Hamid A lcko P a sch a, oder wie
er mit seinem christlichen Namen heißt; Fürst Alerander
Vogorides, dessen Porträt unsere Leser aus S. llü finden,'
beruscn nnd nm 30. des genannten Monats als solcher feier-
lich zn Philippopel, der Hauptstadt OstrumclienS, proklamirt.
Aleko Pascha, dessen Wahl von den europäischen Groß-
mächten ciustimmig gutgeheißen worden ist, scheint auch durch
seine Abstammung und Geburt, wie durch seine persönlichen
Eigenschaften in hervorragender Weise befähigt, die schwierige
Ausgabe zu erfüllen, unter den Südbnlgarcu eine geordnete
Verwaltung eiuzuführcn uud die Ruhe unter dem politisch-
aufgeregten Volke aufrecht zn erhalten; zudem ist er Christ
und entstammt einer nltbulgarischen Familie, genießt aber
auch andererseits das Vertrauen des Lultans und wird als
ein Manu von klaren,, energischem Geiste und wohlwollender
Gesinnung gerühmt. Er ist der dritte Lohn des Fürsten
Vogorides, welcher der Türkei zur Zeit des Krimkrie.es und
in seiner späteren Ltcllnug als Gouverneur von Lamos
wesentliche Dienste geleistet hat. 'Aleko Pascha, welcher eine
umfassende Bildung besitzt und außer deu orientalischen
Idiomen fertig griechisch, italienisch, französisch und deutsch
spricht, machte seine Ltudieu von 1834—1842 iu Norddeutsch-
land, besonders iu Berlin, und trat daun in die diplomatische
Earriöre ein. In derselben kam er wiederum nach Berlin,
dann nach Loudon (woselbst er eine Zeitlang deu türkischen
Gesandten, seinen Schwager Musurns Pascha, zn vertreten
hatte) und nach Wien. In der Kaiserstadt an der Donau
verweilte er auch später als türkischer Botschaslcr, bis er im
Lommer 1877 auf Anstiftcn des ihm feindlich gesinnten
Großveziers Edhem Pascha plötzlich seine Abberufung uud
deu Befehl erhielt, sich zu seiner Verantwortung nach Kon-
stantinopel zu begeben. Er zog es jedoch vor, letzterer
Weisung nicht nachzukommeu, sondern als Privatmann in
Paris zu leben, bis dann seine jüngste Berufung erfolgte.
Gegenwärtig zählt er etwa 50 Jahre und erfreut sich der
vollsten körperlichen nnd geistigen Rüstigkeit. Seine Ge-
mahlin, die Fürstin Aspasia, ist eine Tochter des großen
Bankiers v. Baltazzi in Lmyrna und durch hohe persönliche
Liebenswürdigkeit ausgezeichnet.
Ueberralcht durch die LpriuiMth.
iLichc das Bild auf S 117.)
Unser nach einem Gemälde des englischen Malers Bot-
tüinlei) gezeichnetes Bild aus S. 117 stellt eine Scene am
Strande der Moreeambe-Bai an der Küste der englischen
Grafschaft Lancaster dar. — Ein Fuhrmann ist mit seinem
durch zwei tüchtige Gäule gezogenen Wagen von Mvrecambe
nach Poulton unterwegs, nach welchem Ltädtchen er seine
Fracht bringen soll, nnd hat ohne Bedenken den nächsten,
dicht am Strande entlang führenden, schon ost von ihm ge-
machten Weg eingeschlageu, ans dem er unter gewöhnlichen
Verhältnissen gewiß auch diesmal wohlbehalten jein Ziel er-
reicht haben würde. Aber der Sonnenschein, bei dem er
ausgezogcn, weicht plötzlich einem deu ganzen Horizont ver-
hüllenden Gewölle, ein heftiger Sturm tobt von der Lee
daher, und ehe dcr ahnungslos neben seinem Wagen Eintzer-
schreitendc sich recht besinnen kau», was um ihn vorgeht, sieht
er gewaltige Wogen vom Strande landeinwärts gebrau?l
kommen, welche schon im nächsten Moment das Fuhrwerk er-
reicht haben nud von Sekunde zu Lckuude mehr anschwelleu.
Es ist eine sogenannte „Spriugfluth" — eine Naturerschei-
nung, welche einzulreten pflegt, wenn zur Zeit des 'Nen oder
des Vollmondes die Mondflutl) mit der Sonnenfluth zusammen-
fällt, die sich alsdann gegenseitig verstärken, so daß die Wogen
viel weiter landeinwärts als bei der gewöhnlichen Fluth sich
ergießen, nud zwar mit gauz rapider Schnelligkeit. - Schon
ist's zu spät, den Wagen nnd seine Ladung zu relteu; um
Tod und Leben geht es jetzt, nnd schnell schirrt der tödtlich
Erschreckte die Pferde vom Wagen nnd schwingt sich auf das
Sattelpserd, doch in der wahnsinnigen Eile hat er die Lträugc
des Handpferdes nicht von dem bereits abgehaklen Schwengel
gelöst, und dieser schlägt' dem Thiere beim Jagen ans die
Hessen, wodurch es scheu und uüderspcnstig wird uud, wäh-
rend das Sattelpferd mit langgestrecktem Halse dem festen
Lande zustrebt, sich bäumt und der Zügelführuug seines Len-
kers nicht gehorcht. Angst uud Zorn spricht sich in dem Ge-
sichte des Mannes aus, dessen Hut iu Folge des Sturmes
und der heftigen Anstrengungen, das scheue Pferd zu bän-
digen nnd zu retten, bereits vom Kopfe gefallen nnd ein
Lpiel der Fluthwelleu ist. Hoffen wir, daß dcr Reiter mit
seinen Pferden nicht das Loos des Wagens nnd des Hutes
theilen möge, sondern dap ihm gelinge, sich zu retten vor der
Spriugfluth, die schon manchem Küstenbewohner verderblich
ward.