Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 22.1887

DOI Heft:
Heft 17
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.49300#0396
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
394

Im Hcrreuhmlse M Römnitz.
Roman
von
M. Wageucr.
tFortsetzimg und Schluß.) ,<,,,. , „ , , ,
lNochdrnrk verboten.)
unerklärliches Gefühl zwang Gabriele,
dem jungen Mädchen zu folgen. Da, wo
die Fremde stand, Ivar der Perron leer,
das Gewühl wogte weiter unten um die
I Waggons, deren Thüreu eben krachend
LZ zugcworfen wurden. Das letzte Zeichen
der Glocke verkündete die Abfahrt, ein Pfiff und der
Zug begann sich langsam in Bewegung zu sehen.
Schneller und schneller drehten sich die Räder, näher
und näher kamen die glühenden Laterneuaugen der
keuchenden Lokomotive. Da bog sich die Fremde plötz-
lich vor, der Schein einer nahen Gasflamme fiel hell
auf ihr Gesicht; Gabriele stieß einen leisen Ruf der
Ucberraschung aus, zu dem ihr jedoch kaum Zeit blieb,
denn in demselben Augenblick sah sie eine Gestalt blitz-
schnell die Stnfe hinunter huschen, wo sic mitten auf
dem Schieueustrang, vor dem näher brausenden, funken-
sprühenden Ungeheuer regungslos stehen blieb.
Wie sie es fertig gebracht, sie wußte es später selbst
nicht, aber sie stand mit einem Sprunge neben dem
Geleise, riß mit der Kraft der Verzweiflung die un-
bewegliche Gestalt zu sich heran und um einen Athem-
zug später raste der donnernde Zug über die Stelle,
wo eben noch Mara Barvwska gestanden hatte.
Sie war es, Gabriele hatte sic vorhin bei dem
jähen Schein der Laterne erkannt; sie Ivar dem jungen
Mädchen zwar nur einige Male in Römnitz begegnet,
allein die außergewöhnliche Schönheit Mara's hatte
sich fest in ihr Gedächtnis; eingeprägt.
Fast bewußtlos lehnte Mara in Gabriele's Armen,
die hilfesuchend den Perron hinunter blickte. Einige
Bähubeamten waren rasch zur Stelle, denen gegenüber
Gabriele ein plötzliches Unwohlsein ihrer Begleiterin
vorgab, und bald saß Mara an der Seite ihrer Ret-
terin in einer Droschke. Während der Fahrt verhielt
sich Erstere schweigsam und wehrte alle Fragen Gabriele's
nur mit leisem Kollfschütteln von sich ab, so daß diese,
welche wohl einsah, daß die Aufregung, die in denn
jungen Mädchen noch sichtbar uachhalltc, erst einer
wohlthütigen Ruhe Weichen müsse, jeden weiteren Ver-
such aufgab, die Motive, die Mara zu dem Berzweif-
lungsschritt getrieben, zn erfahren.
Die Professorin, anfangs allerdings nicht wenig
erstaunt über den unerwarteten Gast, nahm auf einige
erklärende Worte Gabriele's Mara freundlich auf und
führte sie in das behagliche Fremdenstnbchen, welches
immer bereit stand.
Hier sank Mara auf einen Stuhl, die Hände vor
das zuckende Gesicht pressend. „O mein Vater - mein
Vater!" stieß sie bebend hervor, und der bisher schwei-
gend wühlende Schmerz ihres Innern fand endlich in
einem Thräucnstrom Erleichterung.
Gabriele, wie auch die Professorin ließen sie ruhig
gewähren; sie sahen ein, hier müsse die Natur sich
selbst durchkümpfcu, um zur Klarheit zu gelangen und
zu Mittheilungeu geneigt zu sein, jeder Trost und Zu-
spruch half hier nichts, konnte vielleicht im Gegentheil
mehr schmerzen als heilen.
Erst allmählig beruhigte sich Mara so weit, um
der dringenden Aufforderung Gabriele's, sich zur Ruhe
zn begeben, nachznkvmmcn. Ihre Angeu brannten, ihre
Pulse hämmerten fieberhaft, sie mochte Wohl selbst
fühlen, daß sic der Ruhe bedurfte, und kaum hatte sie
unter Gabriele's sorgender Hilfe den glühenden Kopf
in die Kissen gebettet, als ein wvhlthätiger Schlaf sich
ihrer bemächtigte.
Als Gabriele am anderen Morgen in Mara's Zim-
mer trat, fand sie diese bereits augetleidet, ihrer wartend.
Sie streckte ihr erröthend die Hand entgegen, indem
sie sagte: „Verzeihen Sie mein gestriges Betragen,
Fräulein Brunner, anstatt Ihnen zn danken, wehrte
ich Ihre Besorgnis; um mich ab, aber wenn Sic
wüßten, was, seit ich Römnitz verlassen, Alles auf mich
cinstürmte
Sie brach jäh ab und wandte sich dem Fenster zu,
als scheue sie sich, weiter zu sprechen; Gabriele trat
zu ihr uud legte beruhigend die Hand auf ihren Arm.
„Quälen Sie sich meinetwegen nicht mit Borwürseu,
Mara, jetzt ist vor Allem die Hauptsache, daß Sie Ihr
inneres Gleichgewicht wieder gewinnen. Deshalb bannen
Sic alle trüben Gedanken, uud seien Sie überzeugt,
daß ich, auch wenn nur der Grund, der Sie zu der
gestrigen That trieb, unbekannt ist, Ihnen trotzdem
meine aufrichtige Theilnahme nicht minder herzlich
widme."
„O nein, nein, Sie sollen Alles wissen," rief jedoch
Mara fast heftig, „es wird mir Wohl thun, mich end-
lich einmal ausspc -Heu zu können, uud dann - viel-
leicht bringe ich daourch und mit Ihrer Hilfe, wenn

Das Buch für All e.
Sic mir dieselbe nicht versagen, Licht in das Dunkel
meiner jetzigen Lage."
Sie schwieg einen Augenblick, tief Athem schöpfend,
daun fuhr sie fort, indem sie sich neben Gabriele nieder-
ließ: „Es liegt eine schwere Schuld auf mir, eine
Schuld, die ich seit gestern doppelt drückend empfinde:
cs ist meine Flucht aus Römnitz, die meinen Bater
Vielleicht in's Verderben gebracht hat!"
Gabriele sah die Sprechende erstaunt an; sie war
bisher der Meinung gewesen, Mara sei mit Wissen
ihres Vaters in Berlin, um so mehr mußte sie dieses
Gestäuduiß überraschen. „Aber was konnte Sie zu
einer Flucht veranlassen?" frug sie, als Mara schwei-
gend vor sich niedersah.
Mara kämpfte mit sich, ob sie die Frage beantworten
sollte oder nicht, allein sie sah ein, daß sie entweder
Alles sagen, oder Alles verschweigen müsse, und so
entschloß sie sich denn zu Ersterem. „Es wird mir
unsäglich schwer, das zu bekennen," sagte sie endlich
zögernd, „allein Sie müssen Alles wissen. Es wird
Ihnen, da Sie doch längere Zeit aus Römnitz waren,
nicht unbekannt sein, daß Urel v. Ressow oft meinen
Vater besuchte, als derselbe noch Aufseher in der Fabrik
Ivar. Anfangs kümmerte er sich wenig uni mich, dann
aber traf ich ihn öfter, wenn ich von meiner täglichen
Nähstundc in der Dorfschule zurückkam, ja, er fing
sogar an, mich zu erwarten. Mein Vater, der zufällig
Kenntnis; davon erhielt, gebot mir auf's Strengste,
jeder weiteren Begegnung mit Herrn v. Ressow aus-
zuweichen, allein dazu war cs zu spät, ich hatte Arel's
Betheucruugen schon ein zu williges Ehr geliehen, als
daß ich es über mich vermocht hätte, meinem Vater zu
gehorchen, ja, ich suchte ihn fogar auf Arel's Rath
hin zu bestimmen, mich nach Berlin zu lassen, unter
dein Vorgeben, daß ich dort durch meine Geschicklichkeit
mehr erwerben könne, als in Römnitz. Mein Vater
wollte davon aber nichts hören und so entschloß ich
mich denn, durch Axel bestürmt und gedrängt, Römnitz
heimlich zu verlassen."
Eie schwieg einen Moment und sah finster vor
sich nieder. „O wäre ich ihm nie gefolgt, ich wäre
nicht auf so schreckliche Weise enttäuscht worden.
Wir verabredeten, daß ich allein reisen solle, er jedoch
später nachkommen Wolle, damit ans ihn kein Verdacht
falle. Er gab mir auch die Adresse einer Dame, welche
mich vorläufig bei sich anfnehmeu würde, bis es ihm
gelungen sei, seinen Bruder zn bestimmen, mich als
Pixel 'v. Ressow's Gattin in Römnitz cinznführen. Ich
Thörin, die seinen Worten und Schwüren blindlings
glaubte, wie bitter sollte meine Strafe sein! Schon
als ich hier ankam, überfiel mich eine namenlose Angst,
die vielen fremden Menschen, das Gewoge und Getreide
um mich herum, Alles das verwirrte mich und steigerte
meine Hilflosigkeit. Endlich hatte ich die Wohnung
jener Dame erreicht und wurde von dieser, welche mir
sagte, daß Axel sie schon von Allem benachrichtigt habe,
mit großer Freundlichkeit ausgenommen. Trotzdem war
mir die Dame, sie nannte sich Frau Träger, vom ersten
Augenblicke an unangenehm, ihre Freundlichkeit widerte
mich an, da sie öfter den Charakter einer lästigen
Vertraulichkeit aunahm, so daß ich mir förmlich Zwang
authun mußte, um ihr die nothweudige Höflichkeit zu
erweisen. -Als Pixel am zweiten Tage nach meiner
Ankunft nicht erschien, überfiel mich eine unerklärliche
Angst; Frau Träger suchte diese zwar hinwegzuscherzen,
allein vergebens, meine Unruhe wuchs von Stunde zn
Stunde. Ich hatte den ganzen Nachmittag in stiller
Verzweiflung auf meinem Zimmer gesessen, gegen Abend
hielt ich es nicht mehr in der Einsamkeit aus, sondern
wollte mich zn Frau Träger begeben, so wenig sym-
pathisch mir sonst auch ihre Persönlichkeit war. Die
Thür zu ihrem Zimmer war nur angelehnt, und als
ich vor derselben stand, hörte ich, daß Frau Träger
im Gespräche mit einem mir unbekannten Herrn meinen
Namen nannte.
.Ja, wußten Sie das denn nicht?' fragte der
Fremde daun, .Axel v. Ressow ist bei dem Brande
der Fabrik seines Bruders verunglückt, Sie sehen, daß
also auf ihn nicht mehr zn rechnen ist; der Fall selbst
steht heute ausführlich in den Zeitungen, welche gleich-
zeitig die Notiz bringen, daß das Feuer von dem
früheren Aufseher der Fabrik, einem Polen Namens
Barowskh, der seit dem Unglück spurlos verschwunden
ist, unzweifelhaft angestiftet worden sei. Auf ihren
Galan, den Herrn v. Ressow, braucht also die kleine
Polin nicht mehr zu rechnen, ebenso wenig auf ihren
Vater. Ich will mich ihrer anuehmen, machen Sie
ihr nur die Sachlage klar, liebe Frau Träger, sie wird
schon Vernunft anuehmen und sich trösten lassen!'"
Gabriele hörte in athemloser Spannung zu — was
mußte sie hier vernehmen! Mara fuhr nach kurzer
Pause fort: „Ich hörte noch mehr, was mir Alles erst
später klar wurde, in jenem Moment war ich wie
erstarrt; das Blut drängte sich mir gewaltsam zu
Kopfe, mein Herz drohte stille zu stehen und eine un-
klare Fluth von Gedanken jagte durch mein Hirn -
nur eines empfand ich klar: Arel's Verrath au mir!
Ich raffte mich empor. Fort mußte ich, fort aus diesem

M 17-
Hause! Wie gejagt eilte ich die Treppen hum Bll
durch die Straßen, ohne Ziel, nur dem Drange folgend-
der mich aus der Nähe jenes Hauses trieb, in dec ich
so Schreckliches gehört. So kam ich in die GpFnd,
wo Sic mich zuerst anredetcn; ich erkannte Sie u'orl
am Klange Ihrer Stimme, allein ich wollte uicb: m"
Ihnen erkannt sein und deshalb trieb cs mich wuter,
bis ich mich Plötzlich vor dem Bahnhof befand.' Wi.!e»°
los ließ ich mich von dem Menschenstrom mit w>>
ziehen, erst das Rufen und Durcheinanderlärmen wß
den: Perron brachte mich zur Besinnung. Doch sei",
nicht zur Besinnung, es rüttelte meine Gedanken nur
empor, ich erkannte meine Umgebung und mit ihr das
Verzweiflungsvolle meiner Lage; dazu das Bewnpuew
von Axel's schändlichem Verrath — Alles das stimmte
mit neuer Gewalt auf mich ein und trieb mich zu
furchtbaren Entschluß, von dessen Ausführung uw
Ihre Hand zurückhielt."
Mara schwieg und starrte, in Erinnerung an da--'
Erlebte versunken, düster vor sich nieder.
Auch Gabriele blieb einige Augenblicke stumm, eww
faßte sie zärtlich die Hand des jungen Mädchens um
sagte: „Arme Biara, weich' traurige Erfahrungen mußten
Sie machen! Ilm so Mehrpreise ich aber die götc.icbe
Vorsehung, die mich gerade zur rechten Zeit in Ihtt
Nähe führte."
„O wer weiß, vielleicht wäre es dennoch - !!I
gewesen, wenn Sie mich hätten gewähren lassen, mm
soll jetzt aus mir werden? Mein Bater ist aus Rö "w
verschwunden, wo soll ich ihn suchen? Ich selbst
kaum wagen, dahin zurückzukehren, denn wird sieb vw
der Tochter eines Brandstifters nicht jede Thür new
schließen?"
„Darüber dürfen Sie sich vorläufig keine trutze"
Gedanken machen, für's Erste bleiben Sie hier. chu>
müssen bald Näheres aus Römnitz hören. IchZcix.eibe
sofort an meinen alten Freund, den Pastor srucecs.
'Also fassen Sie Muth, liebe Mara, das, was wu. im
'Augenblicke der ersten Verwirrung unser Unglück neu mW
schließt in der Folge oft daS Gegentheil für uns ei"
Auch ich sehe in eine trübe Zukunft, auch ich muß
mich mit diesem Tröste bescheiden."
Heute waren acht Tage vergangen seit ihrer An-
kunft in Berlin Gabriele saß in ihrem Stübchen "M
Fenster mit einer Näharbeit beschäftigt, doch ihre 'Auge"
ruhten nicht auf dem feinen Linnen, sondern ic-lc»
durch die Scheiben hinüber nach den Bäumen, welche
ihre Kronen weit über die nächsten, tiefer gcleg.mm
Dächer erhoben. Merkwürdig, sie fand heute so
keine Ruhe zur Arbeit, immer drängte es sie fort, Hw
Einem zum 'Anderen, ohne daß sie im Stande gensAe"
wäre, einen Grnnd für diese fast peinigende Unruhe
zn finden. Ein gewisses Gefühl der Erwartung tag
auf ihr, verbunden init jener ahnungsvollen Gelvisu'-eit.
die uns gerade an einem solchen Tage die Erfüllung
irgend eines Herzenswunsches hoffen läßt, und ob
Gabriele sich auch noch so sehr dagegen wehrte, !"'
konnte dieses Gefühl nicht bannen, es lies; sie oft n"f
versehens zusammenzucken uud verleitete ihr 'Auge, wie»'
als sonst dem Laufe des Zeigers zu folgen.
Plötzlich schrak sie empor; draußen wurde die ü-im'
gel gezogen und eine Männerstimme wechselte mit sei"
öffnenden Mädchen einige Worte — Gabriele hielt M
zitternd am Stuhl — war das nicht — ? 'Nein, new,
das konnte, daS durfte nicht sein! Ihre heute wehr
als gewöhnlich erregte Phantasie mußte sie tausche".
Langsam ließ sie sich wieder auf ihren Stuhl flute"
und nahm die Arbeit zur Hand.
Draußen Ivar unterdepeu 'Alles still geworoe"-
einige für Gabriele unendlich peinliche Minuten ver-
gingen, daun wurde drüben die Thüre des tzsa.on-
geöffnet, rasche Schritte kamen über die Flur uud nach
kurzem Klopfen trat die Professorin bei Gabriele euß
„Würden Sie nicht die Güte haben, einmal hinuwß
zu kommen, Fräulein Brunner ? Es ist Besuch Fei-
sagte die kleine Frau, während ciu Lächeln um
Mund zuckte.
„Besuch — für mich?" frug Gabriele eiiiporfahreiio,
doch die Professorin nickte nur flüchtig uud verschwand.
Es schien, als wollte sie jede weitere Frage abschnecdcw
Gabriele stand einige 'Augenblicke unschlüssig, sollte G
hinüber gehen oder nicht, aber im nächsten Augenblick
schalt sie sich selber thöricht. Ohne Zweifel was es
Pastor Sieders, der sie anfsuchte, und schnell, als
wollte sie sich keine Zeit zn weiteren Bermuthungew
lassen, begab sie sich hinüber nach dem Salon.
Zwei 'Augen begegneten voll den ihren, als sie
trat, uud ließen sie fast erschrocken zurückweicheu, doch
im nächsten Moment fühlte sie ihre Hand ergriffen wu
sich sanft weiter in's Zimmer gezogen. „Gabriele,
wollen Sic mich abermals allein lassen?"
Sie rang mühsam nach Fassung uud sagte endlich,
den Kopf langsam emporrichtend: „Herr v. Renow-
meine Flucht auS Römnitz galt nicht Ihnen al.ei",
die zwingende Nothwcndigkeit äußerer 'Verhältnisse trieb
mich fort!"
 
Annotationen