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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 28.1893

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Heft 8
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https://doi.org/10.11588/diglit.42908#0189
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186

Das Buch für All e.

Heft!>.

zweiten, mehr aufgebauschten, dessen Inhalt sich durch
cigenthümliche Festigkeit auszeichnete. Mit einer Auf-
schrift war er nicht versehen, ein Zeichen, daß der Um-
schlag nur zum Schutz eines in weiches Papier einge-
wickelten Gegenstandes gedient hatte. Vorsichtig die dop-
pelte Hülle entfernend, blieb zum Schluß eine vergilbte,
leicht durchfettete, sehr widerstandsfähige Karte zurück,
auf der mittelst blauer Stiche eine Locke schwarzen Haares
in Ringform befestigt war. Kleine gepreßte Blüthen,
theils aufgeklebt, theils festgenäht und nur wenig zer-
fallen, umringten die offenbar lange, vielfach gewundene
seidenähnliche Haarsträhne. Innerhalb des Kreises stand
mit feinen Zügen der Name Beatriz geschrieben.
„Das stimmt," meinte Vilandrie überzeugend, „ich
entsinne mich jetzt genau, nicht nur den ersten Brief,
sondern auch die Locke nebst Blumen in Careworn's
Händen gesehen zu haben. Klar wird mir auch, daß
gerade sie die Raublust des alten Gauners doppelt
reizte."
Weder Lionel noch Jurassic antworteten. Sinnend
betrachteten sie das, wahrscheinlich aus den glücklichsten
Tagen einer längst Verstorbenen herrührende Liebes-
zeichen. Ihre Gedanken waren dieselben. Während
sie den Namen Beatriz immer wieder lasen, schwebte
vor ihren geistigen Blicken das Bild Vincenti's, einten
sie die Erzählung Laboux' unwillkürlich mit der ernsten
Gestalt Careworn's oder vielmehr Jonas Werbeland's.
Und abermals suchte Lionel in der Tasche. Ein
zusammengefaltetes bedrucktes Papier fand sich noch vor,
augenscheinlich der Ausschnitt einer englischen Zeitung.
Da er viel mürber war, wie die Briefe, erforderte es
erhöhte Sorgfalt, das Papier, ohne es zu zerreißen,
auseinander zu schlagen. Ein mit Rothstift gezogener
Strich bezeichnete den Artikel, der Veranlassung zu dem
Aufbewahren gegeben hatte. Hastig überflog er ihn.
Jurassic, die ihn gespannt beobachtete, gewahrte, daß
sein Gesicht mehr und mehr peinliches Erstaunen be-
herrschte.
„Das ist wunderbar," sprach er, nachdem er lange
genug auf den Bericht niedergestarrt hatte, um ihn
dreimal zu lesen, und vergeblich trachtete er, wie vor
Vilandrie, auch vor Jurassic seine Erregung zu ver-
heimlichen. Dafür aber fand er Verständniß bei ihr,
als er hinzufügte: „Ich werde nicht recht klug daraus.
Als feststehend darf nur betrachtet werden, daß Locke
wie Brief in unmittelbarer Beziehung zu Careworn
stehen. Das Stückchen Druckschrift hat weiter keinen
Werth. Ich will indessen zu seiner Zeit Alles noch
einmal aufmerksam prüfen. Das Andenken einer gewiß
theuren Verstorbenen im Besitz der Wilden zu wissen,
war sicher geeignet, ihm recht trübe Stunden zu be-
reiten."
Mit derselben Sorgfalt, mit der er die räthselhnften
Gegenstände ihren, vieljührigen Gefängnis; entzog, brachte
er sie in die Tasche zurück.
„Unsere Mühe hat sich gelohnt," wendete er sich an
Vilandrie, indem er das Packetchen wieder herstellte
und auf seinem Körper barg. „Waren es keine Schätze,
die wir an's Tageslicht zogen, so läßt sich doch voraus-
setzen, daß sie Careworn höher gelten, als solche."
„Gleichviel, was drum und dran hängt," meinte
Vilandrie sichtbar befriedigt, „die richtigen Papiere sind
da, und so mögen Sie beim Einhändigen Careworn
betheuern, daß der Zauberdrache Sie zu Leuten führte,
denen es eine Wohlthat gewesen, sein Vertrauen zu
ehren und ihm ihre Dankbarkeit zu beweisen. Das
gilt auch für Opechee und Tenuga."
„Das will ich, ja, das will ich," versetzte Lionel
lebhaft, und er wechselte mit Jurassic einen bezeichnenden
Blick, „ich will ihm schildern, wie sein Andenken hier
fortlebt, wie Alles, was ich bisher errang und später
vielleicht noch erringe, in erster Reihe auf Ihren Rath
und Ihre treue, selbstlose Führung entfällt."
„Womit meine und der Dacotahs Aufgabe be-
endigt ist," versetzte Vilandrie munter, „leider auch
unser längeres Beisammensein," und herzhaft schüttelte
er Lionel's Hand. „Doch hier sind wir ebenfalls fertig',
wollen Sie dem verrückten alten Gauner noch 'n paar
rothe Decken auf den Abguß drauf legen, so singt
er Ihnen so viele Zauberlieder nach, daß der Teufel
selber, so oft er Ihren Weg kreuzt, den Rattenschwanz
einklemmt und auf seinem Pferdefuß davonhinkt wie'n
naschhafter Hund, der mit 'nem Kessel siedenden Wassers
bedacht wurde."
„Die Decken soll er haben," erwiederte Lionel bereit-
willig', dann zu Opechee und Tenuga gewendet, mit
denen er sich schon leichter verständigte: „Euer Freund
Careworn wird glücklich sein, wenn ich ihm erzähle,
wie tren ihr ihm dientet. Trennen sich jetzt unsere
Wege, wird es nicht geschehen, ohne euch im Namen
eures fernen Freundes so viel aus den Vorräthen Laboux'
zugewcndet zu haben, wie ihr nur berechtigt wünschen
könnt."
Beide neigten die Häupter zustimmend, und in
seiner eintönigen Weise bemerkte Opechee: „Mein Bruder
Careworn soll wissen: Nahina, die Tochter Tenuga's,
das Weib Opechee's, werde nicht mehr gestört. Der
zweite Mörder sei gestorben wie ein schlechter Hund.

Der Zauber Careworn's war zu stark. Kein Schuldiger
konnte ihm ausweichen."
Als Lionel in die Hütte trat, um sich von Schuh-
schuhga zu verabschieden, kauerte dieser vor einem
zwischen dem Pfahlwerk hindurchfallenden Lichtfaden.
Andächtig betrachtete er das Bild des langhalsigen ge-
flügelten Zauberthieres. Lionel's Aufforderung, ihn im
Hause Laboux' zu besuchen, beachtete er nicht. -
Jin Schatten der Tannen auf dem User des Bäch-
leins rastete die Gesellschaft, um von den mitgeführten
Vorräthen ihr Mahl zu halten. Auf dem Heimritt
hielten Lionel und Jurassic sich wieder nebeneinander.
Die gewohnte Ungezwungenheit waltete auch jetzt; allein
zu einer seiner heiteren Bemerkungen vermochte Lionel
sich nicht emporzuschwingen.
„Das waren erschütternde Aufschlüsse, die ich er-
hielt," entschuldigte er nach einer längeren Pause stummen
Einherreitens seine Schweigsamkeit. „Erfuhr ich in der
Hast vorläufig nicht viel mehr als Andeutungen, so war
es genug, um zur Zeit kaum noch für etwas Anderes
zugänglich zu sein. Sobald ich ein einigermaßen an-
nähernd richtiges Bild von der Sachlage gewonnen habe,
wollen wir die ferneren Schritte berathen; auch be-
treffs der Grenze, bis zu welcher wir Laboux gegen-
über mit unseren Mittheilungen gehen können, ohne
Vincenti's Zukunft zu gefährden."
„Ihre Geheimnisse erschrecken mich. Sind sie wirklich
so ernster Natur?" fragte Jurassic mit freundlicher
Theilnahme.
„So ernst, daß es mir wie eine Art Erlösung er-
scheint, die mich bestürmenden Sorgen und Zweifel mit
Ihnen theilen zu dürfen."
„Wie es sich zwischen engverbundenen Freunden ge-
ziemt," fügte Jurassic unverkennbar befriedigt hinzu.
Schweigen folgte wieder. Unter dem Einfluß der
an den Felswänden emporkriechenden Schatten begann
die Atmosphäre sich abzukühlen. Freier schritten die
Pferde aus. Sie wußten, wo das Ziel der heutigen
Arbeit lag, und beeilten sich, es zu erreichen.

Sechzehntes Kapitel.
Nach der Heimkehr beschränkte Lionel sich darauf,
Laboux von der Zurückerbeutung des Briefes in Kenntniß
zu setzen. Weitere Aufschlüsse behielt er sich vor, bis
er sich selbst über dessen Inhalt unterrichtet haben
würde. Sobald er dann Gelegenheit fand, sich in
wenig auffälliger Weise von den Reisegefährten zu
trennen, erstieg er auf einem gewundenen Pfade den
hinter dem Fort emporstrebenden Abhang bis zur ersten
Staffel. Dort, wo verkrüppelte Tannen einen Haide-
krautstreifen beschatteten, ließ er sich nieder. Er maß
die Höhe der Sonne. Vielleicht anderthalb Stunden
hatte sie noch zu scheinen. Der Westen schmückte sich
indessen schon mit Gold und Purpur, um dem Herein-
brechen der Nacht länger zu wehren. Träumerisch
überblickte er die weitgedehnte Thalmulde, welche die
Emigrantenstraße von Osten nach Westen durchschnitt.
Zwei Karawanen, durch einen mäßigen Zwischenraum
von einander geschieden, rasteten dem Fort gegenüber.
Die schweren Wagen mit den weißen Leinwandverdecken
waren hier wie da in Kreisform zusammen gefahren
worden. Der dadurch abgeschlossene Raun; diente zur
gelegentlichen Aufnahme der Zugochsen und bildete im
Fall der Noth eine leicht zu verteidigende Burg. In
verschiedenen Richtungen weideten Pferde und Rinder.
Die der einen Heerde waren noch nicht lange aus den
Jochen entlassen worden; die der anderen pflegten seit
dem vorhergehenden Tage der Ruhe. Der jungen
Fremden, deren Flucht das Säumniß verursachte, ge-
dachte er beiläufig. Lebhafter beschäftigte er sich nut
Vincenti, dem verwilderten jungen Centauren. Es
war, als hätte es ihn Ueberwindung gekostet, den
zurückerbeutetcn Brief zu prüfen; denn erst nach einer
Weile des Sinnens nahm er ihn wieder zur Hand.
Lange betrachtete er die schwarze Haarlocke mit den sie
umringeirden verblichenen Blumenresten. Zugleich er-
stand Jonas vor seinen geistigen Blicken. Ernster,
räthselhafter erschien ihm seine Gestalt, bezeichnender
der Ausdruck der Schwermut!;, die sich in seinen Zügen
unauslöschlich ausgeprägt hatte. In seinen Ohren vi-
brirte der Name Werbeland; er glaubte das unbestimmte
Bild einer sterbenden Mutter und ihres Kindes zu
sehen, und hastig schlug er den Brief auseinander.
Dann las er:
„Unvergeßlicher! Die einzige mögliche Gelegenheit
nütze ich aus, um Dir eine neue betrübende Kunde zu
übermitteln. Ob mein Brief Dich findet und wann,
mag Gott wissen. Durch diese Ungewißheit wird auch
seine Form bedingt. Was niederzuschreiben meine Hand
sich sträubt, Du findest es in den: beiliegenden Zeitungs-
ausschnitt. Beatriz ist dem Wahnsinn nahe. Voll-
ständig unzugänglich, trägt sie sich mit irgend einem
geheimnißvollen Plan. Ich lebe unter dem Eindruck,
daß nur die Liebe zu dem Kinde sie davor bewahrt,
ihrem Leben freiwillig zu entsagen; und doch fürchte
ich beim Hinblick auf ihre Verzweiflung für Beide das
Aergste. Wer bürgt dafür, daß die Angst, ihr Kind

gänzlich verwaist zurückzulassen, nicht einen unseligen
Entschluß zeitigt? Von Tag zu Tag welkt sie mehr
dahin. Wie lange kann sie nur noch leben? Wenn
Du dieses liesest, deckt sie längst die Erde, vielleicht
auch ihr Kind. Und doch hätte Alles so viel anders
sein können. Die furchtbaren Gemüthsbewegungen
lähmen meinen Geist. Als Wohlthat erscheint mir
der Zwang, der Verwaltung nicht nur des eigenen Ver-
mögens, sondern auch das der Schwester, wie der
Leitung des weit verzweigten Geschäftes mich hin
zugeben. Es ist zuviel für eine Frau, und doch muß
ich mich aufrecht erhalten. Meine Hand zittert, die
Augen versagen mir den Dienst. Irgend einen Rath
kann ich Dir nicht ertheilen; ich weiß, Du würdest ihn
verschmähen. Was das Herz spricht, hat keinen Werth
für Dich. Lebe wohl. Möge der Himmel Dich be^
schützen überall, wohin Du Dich wenden magst. Möge
aber auch die Verbitterung Deines GemütheS sich all
mälig - mildern, damit die Gedanken, die Du hierher
entsendest, sich nicht in Flüche verwandeln. Lebe wohl,
lebe wohl! D."
Hier endigte der Brief. Erschüttert sah Lionel auf.
Es unterlag also keinem Zweifel, daß die in Laboux
Behausung gestorbene junge Frau die in dein Briet
ermähnte Schwester der Schreiberin gewesen. In welcher
Beziehung standen Beide zu Jonas? fragte er sich, in
welcher Beziehung 'der Hinterbliebene Sohn? Was
aber konnte Jonas nur veranlaßt haben, Stätten zu
fliehen, an welche ihn offenbar enge Banden knüpften '
Sein Blick fiel auf den Zeitungsausschnitt; mit Wider
streben begann er zu lesen:
„Ueber dem Hause des verstorbenen reichen Salazar
in Oregon City scheint ein Fluch zu schweben. Unsere
Leser entsinnen sich vielleicht der erst wenige Jahre
zurückliegenden Katastrophe. Dieses Mal betrifft es
des alten Salazar's Schwiegersohn Cenador. lieber
den von ihm begangenen Mord berichteten wir bereits
früher. Es erübrigt daher nur, hinzuzufügen, daß muth-
maßlich unersättliche Habgier ihn zu dem Verbrechen
trieb, und daß das Vigilance-Komits von San Fran
cisco keinen Unschuldigen strafte, als es jenen Cenador
nach kurzem Prozeß aufhing."
Wiederum sah Lionel auf, jetzt aber förmlich entsetzt.
Alles Andere, selbst seine Beziehungen zu Jonas und
dessen wohlüberlegten geheimnißvollen Plänen, trat
hinter dem einzigen Gedanken zurück, daß Vincenti
der Sohn eines Hingerichteten Mörders sei, dem zugleich
das jammervolle Ende der verzweifelnden Mutter zur
Last fiel! Er fühlte, daß mit dem Talisman die Ver
pflichtung auf ihn übergegangen war, sich des jungen
Mannes anzunehmen. Wie aber sollte es ihm gelingen,
ihn an sich zu fesseln, ihn in Wahrnehmung seiner
Gerechtsame mit Aussicht auf Erfolg zu vertreten, ohne
ihm zugleich die mit seinem Namen verknüpfte Schmach
zu verrathen? Mechanisch ordnete er den Inhalt der
Tasche. Sinnend blickte er in die östliche Ferne, wo
auf eine kurze Strecke Himmel und Prairie in einer
scharf gezeichneten Linie zusammenstießen. Er gedach»
Jurassic's, der getreuen Beratherin; erwog noch, wi-
sie, mit dem grauenhaften Geheimniß auf dem Gewissen,
Laboux und Vincenti gegenüber sich zu stellen haben
würden, als hinter ihm das Geräusch laut wurde, unter
welchem von der dort hoch emporragenden nackten Fels
wand kleine Trümmerstücke niederrasselten. Erschrocken
sprang er auf; glaubte aber seinen Augen nicht trauen zu
dürfen, als er Vincenti's ansichtig wurde, wie er auf
der nur wenig geneigten glatten Fläche pfeilschnell
niederwärts glitt. So viel er unterschied, bestand sein
Fahrstuhl aus einer erlegten Antilope, die zum Schutze
eine fest verschnürte Unterlage von Tannenzweigen er^
halten hatte. In der linken Faust hielt er die hoch
erhobene Büchse, in der rechten einen stärkeren grünen
Ast, den er zum Steuern benutzte.
Sekunden dauerte es nur, bis der waghalsige Burschx
auf der Plattform hinter dem den Stoß abschwächenden
Gebüsch aufschlug und gleich darauf, die Jagdbeute
hinter sich schleifend, auf die freie Fläche hinaus trat.
Der Anblick Lionel's, den er am wenigsten gerade dort
vermuthete, flößte ihm offenbar Scheu ein. Als Jener
ihm aber die Hand cntgegenstreckte, ihn mit einem
Ausdruck begrüßte, in dem seine jüngsten Betrachtungen
sich gleichsam widerspiegelten, ergriff er sie mit offenem
Wesen. Seine Augen schienen sich zu vergrößern unter
dem wohlthuenden Eindruck, den er von dem vor ihm
Stehenden empfing, und freimüthig antwortete er auf
dessen Warnung vor solchen gefährlichen klcbungen:
„Für mich sind alle Wege sicher," und in seinen dunklen
Augen leuchtete ein seltsames Feuer des Stolzes aut,
„jedes Kind, jedes alte Weib läuft auf ebener Bahn.
Soll ich keinen Vorzug vor ihnen haben?"
„Die Ansicht eines unerschrockenen Mannes, und
die verdient Achtung," versetzte Lionel in den: dampfen
Drange, sich des verwegenen Burschen Vertrauen --.u
erwerben. „Auch Beute brachten Sic wieder mit. Die
Küchen auf dein Fort können nicht leer werden."
„An die Küchen denk' ich nicht viel," hieß es spöttisch
zurück; „ich will meine Freude haben. Bezahle ich sie
eines Tages mit dem Leben — was liegt daran?
 
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