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Ljcst H.

irr?

Dem Bock hier hatte ich es seit Monaten zugedacht.
Zehnmal ging ich nach ihm aus, bis er mir endlich
heute in den Schuß lief — da, sehen Sie, die Kugel
traf ihn kaum einen Finger breit vom Auge, und das
auf mindestens hundertundvierzig Ellen."
„Sie werden das Wild in der Nachbarschaft bald
ausgerottet haben."
„Die Welt ist groß. Gibt's hier nichts mehr zu
jagen, streife ich weiter," versetzte Vincenti, und auf-
richtiges Wohlwollen in Lionel's Augen lesend, fügte
er hinzu: „Hier herum wird's mir überhaupt zu eng.
Jeden Strauch kenn' ich auf Tagreisen im Umkreise,
jeden Stein. Neues möchte ich sehen. Längst wäre
ich fort, dauerte mich der alte Mann nicht. Der hält
nämlich auf mich."
„Und Sie halten auf ihn?"
„Er pflegte meine Mutter, die sterbend zu ihm kam.
Ist das nicht genug, um ihm gern zu Diensten zu sein?"
„Sicher, Vincenti. Doch setzen wir uns. Von Laboux
hörte ich Manches über Sie. ° Seine Andeutungen er-
weckten meine Theilnahme. Ich möchte daher Aus-
führlicheres erfahren," und nachdem sie sich auf das
Haidekraut geworfen hatten, erwiederte Vincenti sorglos:
„Mehr als Laboux weiß ich selber nicht; vielleicht
noch weniger. Doch fragen Sie. Sie sind gütig, Ihnen
antworte ich gern. Es ist sonst nicht meine Art,
Fremden viel Auskunft zu ertheilen."
„Sie entsinnen sich Ihrer Heimath?"
Vincenti schaute finster. Erst nach kurzem Sinnen
antwortete er zögernd: „In Oregon wurde ich geboren,
weit oben am Columbia. Was um mich her vorging,
kümmerte mich wenig, ich war noch zu jung. Da gab
es viele böse Menschen und wenig freundliche. Ich
haßte Alle, die meiner Mutter Thronen kosteten."
„Erinnern Sie sich Ihres Vaters?"
„Ich will nicht. Er behandelte meine Mutter grausam.
Trotz meiner Kindheit brannten ihre Thränen mir auf
der Seele."
„Sie heißen Salazar?" forschte Lionel vorsichtig.
Vincenti sah ihn scharf an. Einige Sekunden schwankte
er, dann erklärte er düster: „Ihnen will ich eingestehen,
was kein Anderer weiß. Salazar hieß mein Großvater.
Ich nenne mich gern nach ihm, obwohl ich mich seiner
nicht entsinne."
„Ihren wahren Namen kennen Sie nicht?"
„Ich kenne ihn, spreche ihn aber nicht aus. Die
Mutter verbat es mir. Daran dachte ich seitdem alle
Tage, daß ich es nicht vergessen konnte."
„Hörten Sie je den Namen Werbeland?"
„Ich glaube. Gesehen habe ich jenen Mann nie,
oder in so früher Kindheit, daß ich sein Bild aus dem
Gedächtnis; verlor."
„Lebt in Ihrer Erinnerung eine freundliche Dame,
die viel mit Ihrer Mutter verkehrte?"
„Nur sehr undeutlich. Ich fürchtete sie. Ich meine,
sie haßte mich."
„Ihren Namen vergaßen Sie?"
„Die Mutter nannte sie Schwester, auch Dionysia."
„Möchten Sie Oregon wiedersehen?"
„Ich fürchte mich, dahin zurückzukehren."
„Weshalb?"
„Begegnete ich Jemand, der meine Mutter kränkte,
würde ich es ihn entgelten lassen," versetzte Vincenti
heftig, und das Feuer der Gehässigkeit glühte in seinen
glanzvollen Augen.
„Man soll nicht gleich zum Aeußersten greifen,"
rieth Lionel bedachtsam, „in der Uebereilung begeht man
Dinge, die man später bereut."
Vincenti sah vor sich nieder. Nach kurzem Grübeln
bemerkte er gelassen: „Das sollte mir kein Anderer
sagen. Von Ihnen klingt's, daß man gern mehr davon
hört."
„Weil Sie fühlen, daß ich es aufrichtig mit Ihnen
meine; aber auch, weil Sie auf dem besten Wege sind,
Vertrauen zu mir zu fassen."
„Das besitze ich, oder ich hätte Ihnen nicht so
lange Rede gestanden. Ich kann viel von Ihnen lernen."
Wie ein Blitz leuchtete es in Lionel's Geist auf.
„Möchten Sie mich nach Kalifornien und vielleicht
noch weiter begleiten?" fragte er.
Vincenti sah in groß an. Mit dein Ausdruck
dringenden Verlangens einte sich der des Unglaubens.
Lang und tief athmete er, bevor er erwiederte: „Laboux
würde mich vermissen, wohl gar versuchen, mir zu
wehren, mit Ihnen zu ziehen. Freilich, wenn ich gehen
will, kann kein Mensch mich halten."
„Nein, Vincenti, eine böswillige Trennung verbietet
Ihnen schon allein die Dankbarkeit für empfangene
Wohlthaten. Anders ist es, wenn ich Laboux die Sache
vorstelle, und er Sie nicht nur zur Reise auSrüstet,
sondern auch mit einem herzlichen: ,Auf Wiedersehen!'
entläßt."
„Glauben Sie, er würde sich dazu entschließen?"
„Sicher. Er kann nur wünschen, daß Sie unter
der Obhut eines gewissenhaften BeratherS etwas mehr
von der Welt kennen lernen."
„Ich mag keines Menschen Knecht sein."
„Was ich Ihnen am wenigsten zumuthe. Wir

Das Buch für All e.
würden als gute Freunde miteinander verkehren. Aber
Marion, Ihr Scheiden möchte sie kaum billigen," fügte
Lionel wie beiläufig hinzu, jedoch fortgesetzt des jungen
Mannes Antlitz im Auge.
Vincenti fuhr herum. Wilde Leidenschaftlichkeit ließ
sein sonnverbranntes Gesicht noch tiefer erglühen. Er be-
herrschte sich indessen, zuckte die Achseln geringschätzig
und entgegnete: „Was kümmert mich Marion? Sie
ist ein Kind. Wir spielten zusammen, sind neben-
einander aufgewachsen, das ist Alles," und den Blicken
Lionel's ausweichend, spähte er in die Ferne.
Lionel überwachte ihn argwöhnisch. Er wußte,
daß er ihn hinterging, Beschämung die Regungen des
Trotzes überwog. Das plötzlich eingetretene Schweigen
wurde Vincenti peinlich. Ohne Lionel anzusehen, fragte
er eintönig: „Da ist die Tochter des Doktors; reist sie
mit Ihnen?"
„Bis San Francisco bleiben wir sicher zusammen,"
antwortete Lionel gespannt.
„Sähe sie mich alle Tage, würde sie mich verachten,"
erwiederte Vincenti, und bezeichnend zupfte er an dem
Aermel seines verblichenen Flanellhemdes und den ab-
getragenen Beinkleidern.
„Jm Gegentheil. Die Merkmale des ununterbrochenen
Verkehrs im Freien machen sich an ihr selbst bemerk-
bar. Sie weiß, daß sie redlich verdient sind und achtet
sie an Anderen."
„So würde sie mir wohl gar die Hand reichen?"
„Weshalb nicht? Jeder gute Reisegfährte ist ihr
Freund."
Die Brauen runzelnd, sah Vincenti wieder auf die
Prairie hinaus. Plötzlich, wie mit Gewalt von einem
seine Sinne bannenden Anblick sich losreißend, sprang
er auf. Einem dem Wasser entsteigenden Neufound-
länder ähnlich sich schüttelnd, bemerkte er gleichmüthig:
„Die Sonne ist bald fort. Im Dunkeln möchte der
Weg gefährlich für Sie sein." Mit ein paar Griffen
schnürte er die Zweige fester um die Antilope, worauf
er sie über den Rand der Abflachung schob. „Die ist
früher zu Hause, als wir," sprach er, der hinunter-
gleitenden Jagdbeute flüchtig nachsehend. „Jetzt halten
Sie sich hinter mir und achten Sie auf mich. Wohin
ich trete, ist's sicher. In einer Viertelstunde sind wir
unten," und ohne eine Erwiederung abzuwarteip, kehrte
er sich dem Pfade zu.
Lionel folgte ihm auf dem Fuße. An einer Fort-
setzung des Gespräches hinderte ihn die beiderseitige
Stellung; aber mit einer gewissen Bewunderung be-
obachtete er die mit eigenthümlicher Zuversicht vor ihm
einherschreitende Gestalt, deren Geschmeidigkeit sich bei
jeder Bewegung kund gab. Von der Natur im höchsten
Grade bevorzugt, wohnten in dem schlanken Körper
neben dem trotzigen Willen eines verwahrlosten, keine
Schranken kennenden Wüstenjägers, die Schüchternheit
eines furchtsamen Kindes und die Gewandtheit und
Vorsicht einer Wildkatze.
Als sie auf dem Hofe des Forts eintrafen, herrschte
noch die gedämpfte Helligkeit des,Abendrothes. Vor
Laboux' Wohnung saßen auf Schemeln und Kisten
der Doktor, Jurassic, Vilandrie und der alte Pelztrader
in heiterem Gespräch beisammen. Marion stand in
der Hausthür. Ihr über die Schulter lugte vorsichtig
Eliza. Das Hereinbrechen der Nacht war für sie das
Zeichen, sich im Freien zu ergehen. Nur einen Blick
warf Vincenti auf die sorglose Gruppe und hastig
kehrte er um.
„Ich muß die Antilope in Sicherheit bringen,"
sprach er im Davonschreiten über die Schulter, obwohl
der Weg an Laboux' Hütte vorbei ein näherer gewesen
wäre.
Lionel schüttelte den Kopf. Wie mochte es in der
Brust des jungen Nimrod wirken und weben, daß er
die Nähe Jurassic's fürchtete und sich dennoch in: Geiste
fortgesetzt mit ihr beschäftigte, die alten Beziehungen
zu Marion, der Spielgefährtin früherer Tage, dagegen
verleugnete. Seine Scheu ging so weit, daß er nie
zum gemeinsamen Mahl in Laboux' Wohnung erschien.
Im Kreise der weißen Arbeiter und Halbindianer
weilend, übte er auf Lionel den Eindruck aus, als
habe er einem gewissen unbestimmten Schamgefühl
nachgegeben. Auf Grund seiner wilden Mannhaftigkeit
sich hoch über allen anderen Menschen wähnend, sank,
angesichts des schönen braungelockten Mädchens und
im Vergleich der eigenen Person mit Lionel, sein Trotz
in das Nichts des peinigenden Bewußtseins seiner
Niedrigkeit dahin.
„Unser Entschluß ist gefaßt," rief Jurassic Lionel zu,
und ihm entgegengehend, suchte sie heimlich in seinen
Augen zu lesen. Und sie war ja zu scharfsinnig, um
zu bezweifeln, daß er die Stunden des Alleinseins
dazu benutzte, sich mit dem Inhalt des erbeuteten Briefes
vertraut zu machen. „Noch zwei Tage, und wir brechen
auf, und zwar in Eliza's und ihres geliebten James
Begleitung."
Lionel war stehen geblieben. Wie zufällig den
vor der Hütte sitzenden Freunden den Rücken zukehrend,
händigte er verstohlen Jurassic das Packetchen mit den
Worten ein: „Ich fand die Lösung eines furchtbaren

Rüthsels. Mein eigenes Urtheil genügt mir nicht.
Ich muß das Ihrige kennen, bevor ich einen festen
Entschluß fasse. Lesen Sie mit Muße. Für Careworn
wie für Vincenti steht Alles auf dem Spiel." Dann
sagte er lauter, indem sie der Hütte langsam zuschritten:
„Eine freundliche Verstärkung unserer Gesellschaft, die
Sie verkünden, um so erwünschter nach dem herben
Verlust, der uns durch Vilandrie's Zurückbleiben bevor-
steht. Auch ich dachte an eine Vermehrung der streitbaren
Hände, und ich müßte mich sehr täuschen, bedürfte es von
Seiten unseres zuvorkommenden Gastfreundes mehr
als der Anregung, um Vincenti zur Mitreise nach Kali-
fornien zu bewegen."
Laboux, der die letzten Worte hörte, sah Lionel
durchdringend an.
„Ist das wahr?" fragte er ungläubig.
„Ich bezweifle es nicht. Mein Vorschlag schien
ihm zu gefallen."
Laboux runzelte die Brauen, preßte die Lippen auf-
einander, daß sie verschwanden, und sah vor sich nieder.
Sein Blick hatte Marion gestreift. Nach Lionel's
Eintreffen war sie aus der Thür getreten und hinter
Vilandrie geschlichen. Der den zarten bräunlichen Hauch
ihrer Wangen durchbrechende rosige Schimmer war ge-
wichen. Verstört blickten die dunklen Augen. Wie
um dem stockenden Athen: mehr Raum zu geben, hatte
sie die Lippen leicht geöffnet. So harrte sie ängstlich
auf weitere Kundgebungen, als wäre für sie ein lllrtheil
über Leben und Tod zu erwarten gewesen.
Laboux hatte sich erhoben und in seiner ganzen
Länge aufgerichtet. Der seine Züge gewöhnlich be-
herrschende Ernst verfinsterte sich nach einem zweiten
Blick auf Marion.
„Kommen Sie mit," wendete er sich an Lionel,
„ein kleiner Gang schadet uns Beiden nicht." Nachdem
sie aus Hörweite der Freunde getreten waren, fuhr er
fort: „Will der Taugenichts Sie begleiten, ist's
mir lieb und recht. Be: Gott, brachte ich ihn schon
vor Jahr und Tag auf den Weg, hätte ich weiser ge-
handelt. Sie redeten zu ihm über Kalifornien?"
„Der Zufall führte das Gespräch darauf. Seine
Bereitwilligkeit, sich mir anzuschließen, hieß ich will-
kommen. Mir wurde klar, daß ich, ohne es zu beab-
sichtigen, einen entscheidenden Einfluß auf ihn gewann.
Nutze ich den vorsichtig aus, so wird er ein Anderer.
Er erscheint zu begabt, um als ungezügelter planloser
Schütze sein Leben zu verbringe::."
Laboux blieb stehen und richtete die spitzen Blicke
fest auf Lionel's Augen.
„Mann," sprach er erregt, „ich will des Henkers
sein, wenn Sie in den Papieren nicht Dinge fanden,
die Sie bewegen, für den Schlingel einzutreten."
„Ich leugne es nicht," gab Lionel zu, „und bin
überzeugt, daß Sie nach einem Einblick in die Ver-
hältnisse meinen Vorschlag billigen werden. Sie nannten
jüngst den Namen Werbeland —"
„Richtig, Mann, als den des Freundes der ster-
benden jungen Frau, dem sie ihr Kind zu übergeben
wünschte."
„Wohlan, dieser Jonas Werbeland ist kein Anderer,
als unser gemeinschaftlicher Freund Careworn."
Laboux prallte zurück.
„Careworn?" fragte er ungläubig.
„Ich kann Ihnen die Beweise dafür vorlegen. Eine
Bestätigung liegt schon allein in dein Umstande, daß er
mich gerade hierher abordnete."
„Wer hätte das geahnt. Aber die Sache klingt
glaubhaft. Verdammt! Kan: er nach dem Tode der
Mutter, anstatt vorher, und er sah den Jungen, möchten
ein paar Worte uns die Augen geöffnet haben. Doch
das läßt sich jetzt nicht mehr ändern. Wollen Sie den
Burschen wirklich mitnehmen, dann um so besser. Er be-
sitzt einige tausend Dollars, davon gebe ich Ihnen —"
„Es wird nicht nöthig sein. Verwende ich von der
mir durch Sie anvertrauten Summe das Entsprechende
zu seinen Gunsten, so handle ich zuverlässig in: Sinne
Careworn's. Auch ist nicht ausgeschlossen, daß in seiner-
ursprünglichen Heimath ein nicht unbedeutendes Ver-
mögen auf ihn als den Erben seiner Mutter entfällt,
was ich übrigens vor ihm geheim zu halten wünsche."
„Dringend rathsam ist's, oder es gereicht der un-
bändigen Natur zum Verderben. Es lebe:: noch Ver-
wandte von ihm?"
„Muthmaßlich, und zwar in Oregon. Das zu er-
forschen ist meine Hauptaufgabe. Hoffentlich bewährt
der Talisman sich fernerhin. Ich wüßte sonst nicht,
wie ich ohne schriftliche Beglaubigung und Vollmacht
auf den betreffenden Stellen mich ausweisen sollte."
„Wunderbar, wunderbar," meinte Laboux nach-
denklich; „doch gleichviel, je schneller der Bursche meiner
Marion aus den Augen kommt, um so besser ist's.
Ausrüsten will ich ihn obenein zum Angedenken an
Careworn, daß Sie sich seiner nicht zu schämen brauchen.
Vielleicht gelingt es Ihnen, einen brauchbaren Menschen
aus ihn: zu machen, und mir, meine Marion zur Ver-
nunft zu bringen. Nebenbei wird er Ihnen eine Hilfe
unterwegs sein, vorausgesetzt, Sie verstehen es, seinen
guten Willen lebendig zu erhalten."
 
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