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Heft II.

Ilinstvivto Farrriiierr"Deitnng>

Slihrg. 1893.



Der Talisman

Roman

Mga, Königin-ZSittwe von ZSürttemöerg. -s- 30. «dktover 1892.
Nach einem Gemälde von H. von Angeli. (S. 263)
Photographieverlag von Louis Nath in Stuttgart.

Fremden. Er vermied sogar geflissentlich, ihnen näher
zu treten und sie dadurch zu einer Anrede zu veran-
lassen. Lionel durchschaute ihn und trug seiner Laune
peinlich Rechnung; er war überzeugt, das; sich ihm
nur die Gelegenheit zu bieten brauche, um gänzlich
auf seine.Seite zu treten. —
Das Mittagsmahl war beendigt, und auf der Ve-
randa saßen die Hausgenossen in heiterem Verkehr bei-
einander, als aus der Richtung von Oregon-City ein
leichter Wagen herbeirollte, auf dem außer dem
Kutscher nur noch eine einzelne Dame saß. Jurassie
sah sie nicht zum ersten Mal und erkannte sie aus der
Ferne. Indem aber ein Ausdruck ernster Theilnahme
in ihren Zügen zum Durchbruch gelangte, wendete sic

ihre Aufmerksamkeit Dionysia zu. Und ernster noch
schaute sie darein, als sie gewahrte, daß diese die Lippen
fester aufeinander legte, peinliche Ueberraschung und
Unzufriedenheit sich auf ihrem Antlitz spiegelten. Flüchtig
kehrte sie sich Lionel zu, und leise, daß es nicht über
seine Ohren hiuausdrang, sprach sie: „Sie werden
Unglaubliches erleben. Achten Sie auf Alles und bilden
Sie darnach Ihr Urtheil."
Lionel neigte zum Zeichen des Verständnisses das
Haupt kaum merklich. Näher rollte der Wagen. Auf
der Veranda war L-chweigen eingetreteu. Alle Blicke
hingen an einer zarten Mädchengestalt, die wie erschöpft
in der Bankecke lehnte und von deren Befinden offen-
bar die ' '

langsamen Bewegungen der Pferde abhängig
waren.
Nur noch eine kurze Strecke war der
Wagen von dem Hause entfernt, als Dio-
nysia sich mit den tadelnden Worten er-
hob: „Das unbesonnene Kind! Es weiß,
daß die Anstrengung des Fahrens nach-
theilig auf seine Gesundheit eiuwirkt, und
doch läßt cs sich immer wieder verleiten,
der Obhut seiner Pfleger zu entschlüpfen.
Meine Tochter Lucy," bemerkte sie wie
entschuldigend zu Lionel, „sie ist so leidend,
daß ich mich gezwungen sah, sie nach der
Stadt zu geben, wo ärztlicher Rath ihr
stets nahe ist."
Unheimlich berührten Lionel diese Worte.
Das Mißvergnügen, welches sich in ihnen
offenbarte, crfchieu ihm als erster und ein-
ziger uugeheuchelter Gefühlsausbruch. Es
befchlich ihn die Empfindung, als wäre die
erwachsene Tochter der jugendlich 'auftre-
tenden Blutter unbequem gewesen. Diese
mochte ihre Worte bereuen, denn sie schritt
alsbald von der Veranda hinunter, vor der
eben der Wagen anhielt. Ihre Gäste blie-
ben zurück, um die erste Begegnung zwi-
schen Mutter und Tochter nicht zu stören,
die Verlegenheit der Letzteren wohl gar zu
erhöhen. Aber hinüber spähten sie mit einer
Theilnahme, die allmälig in Wehmuth
überging. Und ein Wehmuth erzeugendes
Bild ivar es, die jugendlich schlanke Ge-
stalt mit den Merkmalen schweren Siech-
thums in Haltung und Bewegung; ein
Bild des Jammers, das marmorbleiche
süße Antlitz mit den scharf begrenzten To-
desroseu auf den eingefallenen Wangen,
den großen blauen Äugen, die furchtsam
nichts Anderes suchten und sahen, als das
Antlitz der Mutter. Indem die junge
Märtyrerin, die kaum ihr sechzehntes Jahr
vollendet hatte, sich mühsam von ihrem Sitz
erhob, glitt der breitrandige Strohhut von
ihrem Haupte. Zugleich lösten sich die
Fesseln des Haares. Wie eine Fluth
fchivarzer Seidenfäden wogte es ringsum
nieder, traurig kontrastireud zu der zarten
Gesichtsfarbe. Gleich darauf standen Lio-
nel und Jurassie neben dem Wagen, 'sie
sanft und vorsichtig unterstützend, bis sie

Äufbruchuach dem Umpquathalc
trieb, ging eine Woche dahin, be-
vor der Plan wirklich zur Aus-
führung gelangte. Brachte doch
jeder Tag neue Gelegenheit, die
schönen Frühsommertage in einer anderen
Umgebung zu verleben. Dionysia war ja
unerschöpflich im Erfinden neuer Genüsse
und Unterhaltungen, die sie mit aufopfern-
der Liebenswürdigkeit und bis zu einem
gewissen Grade verschwenderisch für ihre
^iäste vorbereitete. War Lionel gewappnet
tzegen die ungewöhnlichen Reize der lc-
dmslustigen Mexikanerin, so gab es doch
stunden, in denen er sich fragte, ob der
shn beseelende Argwohn nicht dennoch einer
üchereu Unterlage entbehre. In demselben
Maße aber, in dem sie ihn sichtbar be-
vorzugte, wuchs der heimlich getragene Haß
stndleton's, der, so oft er irgend auf sei-
uer Sagemühle abkömmlich war, .herüber-
°om, um sich an den geselligen Zusam-
menkünften zu betheiligen. Äuch er ver-
stund es, sich zu beherrschen, jedoch nicht
M.einem Grade, daß Lionel seine Feind-
seligkeit nicht gleichsam herausgefühlt hätte.
Auf Vincenti übten dagegen die ihm er-
lesenen Freundlichkeiten keinen anderen
lstfluß aus, als daß sie seinen Haß gegen
st-ionysia und Padleton schürten. Er blieb
Miessen Lionel's Rathschlägen stets einge-
denk. Unbeweglich erschien sein Antlitz.
Aach ivie vor bewahrte es den an Theil-
Nahmlosigkeit grenzenden Ernst. Selbst
Mrassic, zu der er wie zu einer Heiligen
enyporsah,'vermochte keine Wandlung in
stnnem Wesen zu bewirken. Und so boten
Alle in ihrer Vereinigung das Bild einer
dstrch nichts zu störenden fröhlichen Ein-
Nistthigkeit, hinter der inan schwerlich bei
Fwsem oder Jenem andere Empfindungen,
ins die der Sorglosigkeit geahnt hätte.
Mit dem alten Chinook hatte Lionel
nur noch einmal gesprochen. Darauf fußend,
Psi; er längere Zeit im Umpquathal hauste,
überredete er ihn leicht, ihn als Führer
begleiten, sofern Dionysia damit ein-
orynnden. Im klebrigen verhielt Pietro
stch anscheinend völlig gleichgiltig gegen die

von
Balduin Müll Hausen.
(Fortsetzung )
-— (Nachdruck verboten )
Irooiundzrvcrrrzigstcs Kapitol.
l der Doktor, hingerissen von seinem
glühenden Forschungseifer, fortgesetzt zum
 
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