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258

Das Bu ch f ü r All e.

unten festen Fuß gewann. Kein Wort wurde dabei
gesprochen.
Scheu sah Lucy über die beiden freundlichen Ge-
stalten hinweg, und Dionysia's Hand an die Lippen
hebend, sprach sie leise mit rührendem Ausdruck: „Ver-
zeihe mir. Der Himmel war so sonnig, die Luft so
warm. Ich sehnte mich sehr nach der frischen Luft
hier draußen —"
„Die Dir sicher gern gegönnt ist," fiel Dionysia
ein, und sie küßte Lucy auf die Stirn, „allein Du
hättest warten sollen, bis Du Dich kräftiger fühltest.
Ich wiederhole zum hundertsten Male: jede Fahrt bringt
Dich in Deinen: Befinden um Monate zurück."
„Nein, Mutter, ich kräftige mich nicht mehr," ver-
setzte Lncy in sanftem Klageton, „ich weiß es genau.
Wenn Du mir nur erlauben wolltest, hier draußen
bei Dir zu sterben —"
„Nicht doch, Kind," schnitt Dionysia spöttelnd das
Weitere ab, und gewahrend, daß bei Lucy's ergreifen-
den: Flehen Helle Thränen Jurassic's guten Augen ent-
stürzten, fügte sie inniger hinzu: „Wie magst Du solche
unbedachtsamen Reden führen? Du befindest Dich auf
dem besten Wege, gänzlich hergestellt zu werden und neu
zn erblühen. Um das aber zu beschleunigen, ist streng
geboten, nicht nur alle körperlichen Anstrengungen, son-
dern auch jede geistige Aufregung zu vermeiden."
Non ihrer Mutter und Jurassic unterstützt, erstieg
sie die Veranda, wo alsbald Alle bemüht waren, einen
bequemen Sitz für sie herzustellen, von dem aus sic,
halb liegend, über die sich vor ihr ausdehnende liebliche
Landschaft hinzublicken vermochte. Der Wagen war
unterdessen nach dein Hofe hinaufgefahren. Vier Stun-
den Aufenthalt bewilligte Dionysia der armen Dulderin
unter Hinweisung auf die gefährliche Abendluft. Was
aber in dieser Zeit zu ihrer Erheiterung nur irgend
hätte beitragen können, das geschah redlich. Und ihre
Wünsche waren ja so bescheiden. Nur ein wenig Wald-
luft wollte sie einathmen, nur einige gütige Warte von
Jurassic hören, und dann wieder in die ärztliche Be-
handlung zurückkehren, die ihr wie ein Gefängnis; er-
schien. Und als dann, nachdem der Doktor ihr neue
Hoffnungen vorgespiegclt hatte, Jurassic eine Weile allein
bei ihr verbrachte und ihre Hand hielt, da lispelte sie
geheimnißvoll, als wäre sie im Begriff gewesen, sich
eines Vergehens schuldig zu machen:
„Die Mutter spricht nur ein längeres Leben zu,
auch Ihr Vater, allein mich kann Niemand täuschen.
Und ich sterbe ja so gern. Was soll ich auch auf Erden?
Der Mutter bin ich im Wege. Ich fühle es und fürchte
sie, und doch möchte ich mich an ihren: Herzen aus-
weinen. Nur Sie darf ich lieben und nur zu Ihnen
kam ich heraus. Wem: die Rosen wieder blühe:: —
sie knospen ja schon — dann sind Sie fort, und ich bin
gestorben —"
Mangelnder Athen: machte sie verstummen. Aber ein
schmerzliches Lächeln verklärte ihr abgezehrtes Marmor-
antlitz, während sie den Worten lauschte, die Jurassic
in heiligem Mitleid an sie richtete. Und wie diese nicht
müde wurde, immer neue hoffnungsreiche Bilder vor sic
hinzuzaubern, hätte die arme Todkranke ihr bis. in die
Ewigkeit hinein lauschen mögen. Erst Vincenti störte
Jurassic in ihren: treuen Samariterwerk. Leisen Schrittes
trat er auf die Veranda und vor Lucy hin. In der
Hand trug er einen eben gepflückten Strauß duftender
Blumen. Ihn: mochte die eigene sterbende Mutter vor-
schweben, als er hinausging, um seiner jungen Ver-
wandten eine Freude zu bereiten, ein dumpfes Ge-
rechtigkeitsgefühl ihn bestimmen, an der Tochter den
Haß gegen ihre Mutter zu sühnen, den er nicht aus
seiner Brust zu bannen vermochte.
Schweigend legte er die Blumen auf Lucy's Schoß.
Erstaunt sah sie zu ihn: auf: dann ergriff sie seine
Hand.
„Wie danke ich Ihnen," sagte sie freundlich, „Sie
sind so gut gegen mich. Blumen liebe ich über Alles.
Bevor diese ganz vertrocknet sind, bin ich eingeschlafen —"
„Sie sollen nicht sterben," stieß Vincenti förmlich
hervor, und in der Heftigkeit, mit der er sprach, offen-
barte sich der ganze Umfang seiner aufrichtigen Theil-
nahme.
„Ich soll wohl nicht, aber ich muß," versetzte Lucy
mit eigenthümlichem matten Lächeln, „und diese Blumen
werden auch im Tode noch bei mir bleiben."
Sanft strich Jurassic das weiche Haar von ihrer feuchten
Stirn. Von dem eben Beobachteten war ihr Herz so
voll, daß sie keine Worte fand. Ihr Blick schweifte
nach der Hausthür hinüber. Dort stand Dionysia, vor
sich ein Brett mit Erfrischungen für Lucy tragend.
Wie lange sie dort unbemerkt säumte, wußte Jurassic
nicht. Wohl aber gewahrte sie, daß die Farbe des
Todes sich über ihr Antlitz ausgebreitet hatte, ihre
Augen dagegen seltsam starr, sogar feindselig blickten,
als hätte Vincenti die Eigenschaft eines aus der Geister-
welt zur Erde zurückgekehrten rächenden Phantoms für-
ste besessen. Mit äußerster Kraft schien sie sich dagegen
zu wehren, zuzuspringen, die Blumen den Händen ihrer
Tochter zu entreißen, sie unter die Füße zu treten und
Vincenti mit harten Worten von der Veranda zu weisen.

Der Blick Jurassic's gab sie sich selbst zurück. Eine
unerhörte Willenskraft mußte in ihr wohnen, daß fast
gleichzeitig ihre Züge sich milder belebten. Mit sanften:
Zuspruch stellte sie das Brett auf einen nahen Tisch.
Thränen perlten in ihren Augen, während sie Vincenti
für seine Aufmerksamkeit lobte und zu Jurassic ge-
wendet fortfuhr: „Ich beobachtete die ergreifende Scene
von der Thüre aus, scheute mich aber, sie zu stören."
Sie küßte Lucy auf die Stirn und sprach in demselben
Athen: weiter: „Fühlst Du Dich den einen Tag matter
als den andern, so lasse deshalb den Muth nicht sinken.
Befolge nur pünktlich die Dir ertheilten Nathschläge
und Du wirst binnen kurzer Frist gesunden, zur Freude
Aller, die jetzt um Dich sorgen."
Jurassic hätte aufschreien mögen vor Entsetzen über
die Leichtigkeit, mit der Dionysia von der einen Nolle
in die andere übersprang, über die Gewandtheit, mit
der sie jede gegebene Blöße zu beschönigen, ihren
Gesichtsausdruck zu beherrschen verstand.
Lucy schüttelte zu der Mutter TrosteSwortcn un-
gläubig das Haupt und schloß die Augen. „Nur ein
halbes Stündchen möchte ich schlafen," lispelte sie bittend,
„ich fühle mich so matt —"
„Die Fahrt, die unglückselige Fahrt," fiel Dionysia
tadelnd ein, „und gar die Rückreise! Du mußt un-
bedingt in der Stadt sein, bevor die kühle Abendluft
von den Bcrgabhängen herunter weht. Doch schlafe
immerhin ein wenig. Ich wecke Dich, wenn es so
weit ist —"
„Und ich begleite Sie," nahm Jurassic einfallend
das Wort, „neben Ihnen will ich sitzen, in meinen
Armen sollen Sie eine sanfte Stütze finden." Zwischen
Lucy's geschlossenen Wimpern quollen Thränen hervor,
Thränen des Dankes und inniger Befriedigung. Sie
schlief nicht, aber es war ersichtlich, die eben empfangenen
Eindrücke erfüllten ihre ganze Seele, steigerten zugleich
ihre Furcht vor deren Verkürzung durch neue Warnungen
und Ermahnungen.
So lange hatte Vincenti gewartet. Er wußte nicht,
ob er gehen oder bleiben sollte. Bis an die Brüstung
der Veranda zurückgetreten, beobachtete er düsteren
Blickes die Leidende. Mit scharfem Verstände unter-
schied er die Regungen, von denen diese oder jene
Aeußerung eingegeben wurde. Haß fand zur Zeit
keine Stätte bei ihn:, nur Verehrung für die gütige
Reisegefährtin, und Trauer um die einzige Verwandte,
die in ihren: Leid ihn so eindringlich an die todte
Mutter erinnerte. Ein kurzes leises Gespräch, welches
Dionysia mit Jurassic führte, nutzte er endlich aus,
sich geräuschlos zu entfernen. Dann herrschte Todten-
stille auf der Veranda. Dionysia, wähnend, daß Lucy
in einen kräftigenden Schlummer gesunken sei, begab
sich zu ihren Güsten nach den: Garten. Sich von der
Haushälterin vertreten zu lassen und sie zu begleiten,
lehnte Jurassic ab. Ernst überwachte sie die Leidende.
Das Herz hätte ihr brechen mögen bei dein Gedanken,
daß solch' junges unschuldiges Geschöpf, welches die
Natur ursprünglich dazu bestimmte, durch die holdesten
Reize zu entzücken, durch die liebenswürdigsten Eigen-
schaften des Gemüthes Glück und Freude um sich her-
zu verbreiten, nur noch eine kurze Spanne Zeit von
dem Grabe trennte. Fortgesetzt Lucy's Hand haltend,
wechselte sic immer wieder flüsternd kurze Bemerkungen
nut ihr. Diese schien den Aufbruch herbeizusehnen,
um das Alleinsein während der Fahrt mit der gütigen
Freundin in vollen: Maße zu genießen.
Erst als Lucy wirklich iu eine Art Halbschlaf verfiel
und Dionysia erschien, um Jurassic abzulösen, wie sie
es nannte, zugleich andeutete, daß Nachrichten von
Padleton eingetroffen seien, der seit zwei Tagen in:
Gebirge weilte, entschloß sie sich, Lionel aufzusuchen.
Sie traf ihn vor den: Eingänge des Gartens, wo er
sie bereits erwartete.
„Sie sehen mich erschüttert," hob sie ungesäumt an,
und in ihren: guten Antlitz spiegelten sich gewissermaßen
alle Erregungen, denen sie seit der Anwesenheit Lucy's
in: elterlichen Hause unterworfen gewesen war, „ich
ertrage es nicht länger hier. Die Bedingungen, unter
denen ich gezwungen bin, mich fortgesetzt selbst zu ver-
leugnen, sind zu schrecklich. Meine äußersten Kräfte
muß ich aufbicten, eine Maske zu tragen, die mir
entwürdigend erscheint."
„Ich wage nicht, Einwendungen zu erheben," ver-
setzte Lionel herbe, „aber möchten Sie nicht dennoch, wenn
nicht um unserer Freundschaft, dagegen um einer ge-
rechten Sache willen, noch einige Tage länger aus-
harren? Ich gestehe offen: bis jetzt bin ich der Lösung
meiner Aufgabe noch nicht um einen Schritt näher ge-
rückt; aber jede neue Stunde kann Aufschlüsse bringen,
die mir Anhaltepunkte bieten. Es ist, wie Sie schrieben:
sehr scharfsinnige Menschen stehen uns gegenüber; um
so vorsichtiger muß ich in der Wahl des Zeitpunktes
zum Vorlegen des vielleicht entscheidend wirkenden Talis-
mans sein."
„Und was gehört dazu, diesen Zeitpunkt näher zu
rücken?" fragte Jurassic zögernd.
„Vor allen Dingen, daß ich in der Lage bin, irgend
welche bestimmte Forderungen zu stellen."

M kl.

„Und wenn die Veranlassung dazu in weiter Ferne
liegt?"
„Finde ich sie in den nächsten Tagen nicht hier,
so wird sie mir vielleicht auf der Heimstätte Werbe-
laud's geboten, wo die Erinnerungen an die jäh unter-
gegangene Familie nicht verweht sein können. Und
wie für Vincenti Großes auf den: Spiele steht, können
auch Werbeland's Rechte nicht verjährt sein."
„Trotz aller sich Ihnen entgegenstcllenden Hinder-
nisse hoffen Sie Licht in das herrschende Dunkel zu
bringen?"
„Ich hoffe es zuversichtlich. Ich muß durchaus ein
anderes Bild von dem verehrten Freunde gewinnen, als
sich nur jetzt zuweilen gewaltsam aufdrängt. Schmerzlich
untre es nur, müßte ich bei meinem weiteren Vorgehen
Ihren treuen Freundesrath, Ihr unbefangenes Urtheil
entbehren."
„Nein, das sollen Sie nicht," versetzte Jurassic
lebhaft und entschieden, „hier ist mein Hand darauf.
Neben der aufrichtigen Theilnahme für den räthsel-
haften Jonas, ist der Gedanke, in Ihrer Gesellschaft
das Umpquathal zu besuchen, zu tief gewurzelt, um
ihn leicht aufgeben zu können. Ich befand mich eben
zu sehr unter dein Eindruck der Lieblosigkeit der Mutter
gegen ihre sterbende Tochter."
„Auch ich möchte lieber heute als morgen auf-
brechen," erklärte Lionel nachdenklich, „allein scheiden
wir von hier, so muß es, schon allein um der ge-
nossenen Gastfreundschaft willen, mit allen gebührenden
Rücksichten geschehen. Dahin gehört, daß mir uns an
dem auf morgen festgesetzten Ausfluge in's Gebirge,
der mindestens drei Tage in Anspruch nimmt, betheiligen.
Padleton befindet sich bereits dort, und nach der von
ihm eingetroffenen Botschaft zu schließen, eröffnet sich
die Aussicht auf eine seltene Jagd. Er blieb dort,
um Alles dazu einzuleiten. Er ist überhaupt wie um-
gewandelt. Seine Zuvorkommenheit ist endlos."
„Seine Zuvorkommenheiten erscheinen aber be-
denklich."
„Ich pflichte Ihnen bei. -sie sind eine Mahnung,
fortgesetzt auf der Hut zu sein."
„Was meint der Vater dazu?"
„Mit wahrer Begeisterung begrüßte er den Vor-
schlag Dionysia's."
„Während sie auf immer neue Vergnügungen sinnt,
siecht ihre Tochter, das arme süße Geschöpf, seinem Ende
entgegen," versetzte Jurassic bewegt, „und es kann mit
der sanften Dulderin doch nicht lange mehr dauern.
Seit den drei Wochen, in denen ich sie nicht sah, ist
eine traurige Veränderung mit ihr vorgegangen. Meine
letzte Hoffnung schwand. Ich werde mit ihr zu,- Stadt
fahren. Es wäre ein furchtbares Verhängnis;, cnftlte
der Tod die Beklagenswerthe schon unterwegs auf der
Landstraße."
„Sie erlauben nur, Sie zu begleiten?"
„Ich erwartete diesen Vorschlag. Doch da ist der
Vater. Vermeiden wir, wenn auch nur durch An-
deutungen, ihn mit in unsere Sorgen hineinzuziehen."
Gleich darauf wandelten sie mit ihm durch die ver-
schlungenen Gänge des Gartens. Sie waren schweigsam
geworden. Nur mit halbem Ohr lauschten sie seinem
belehrenden Vortrage über den Charakter des Gebirgs-
zuges, in welchen die Reise des folgenden Tages sie
hineinführen sollte. —
Anscheinend gekräftigt verließ Lucy die Veranda, um
den davor haltenden Wagen zu besteigen. Mit zärt-
lichen Worten nahm Dionysia Abschied von ihr. Wie
Hohn klang es für Jurassic, als sie der Tochter auf-
munternd versprach, sie beim Eintritt des Hochsommers
auf längere Zeit zu sich zu nehmen. Langsam rollte der
Wagen davon. Wie Schutz und Hilfe bei ihr suchend,
schmiegte Lucy sich an Jurassic an. Lionel saß auf
der vorderen Bank und führte die Zügel. Ein Weilchen
blickte Dionysia den Scheidenden nach; dann rief sie
Pietro, der von seiner Thür aus Lucy's Aufbruch finster-
überwachte, um mit ihm die Vorbereitungen zu dem,
folgenden Morgens in die Frühstunden verlegten Auf-
bruch zu berathen.

Drsiurrözrvcrnzigftes Kapitel'.
Eine halbe Tagereise betrug die Entfernung von
der Sägemühle durch das Thal nach der Grenze hinüber,
auf der die Waldungen begannen und sich nach den Ab-
hängen des wildzerklüfteten Kaskadengebirges hinaufzogen.
Wo sie ausschließlich aus den weltberühmten Douglas-
tannen bestanden, hatten sich im Laufe unberechenbarer
Zeiträume Größenverhältnisse entwickelt, die zum Er-
staunen und zur Bewunderung hinrissen. Wie nach
einem Loth gewachsen und, wie die Halme in einem
Rohrfelde entsprechend dicht beieinander stehend, er-
hoben die bis zu zehn Fuß und darüber im Durchmesser-
haltenden Bäume sich zu einer Höhe von über drei-
hundert Fuß. Die ersten zweihundert entfielen auf
die glatten, zweiglosen Stämme. Dann erst begannen
die ineinander verwachsenen Wipfel. Eine Art Be-
dachung bildend, vervollständigten sie in der That
Säulenhallen, hinter die Alles, was Menschenhände
 
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