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Heft 15. Itlnstvi^te Fclmiiien-Deitrrng. Lahrg. 1893.




Roman

Der Talisman.

Lionel löste ihn vom Halse und überreichte ihn.
Lange betrachtete Dionysia die durch Jahrhunderte und
ihre Bedeutung geweihte Münze. Ein schmerzlicher
Seufzer entrang sich ihrer Brust. Hastig, wie um die
Fassung nickt zu verlieren, küßte sie deren beide Seiten.
„Alles, Alles dahin und verschollen," flüsterte sic, den
Talisman zurückgebend, und etwas lebhafter kehrte sie
sich James und Eliza zu. „Ich heiße Sie als Nach-
barn willkommen," sprach sie eintönig, „und hoffe, daß
wenn Sie des Nathes bedürfen, Sie sich vertrauensvoll
an mich wenden." Shnc eine Erwiederung abzuwarten,
verabschiedete sie sich in.wärmerer Weise von dein Dok-
tor und Iurassic. Vincenti stand abseits. Mit cigen-
thümlicher

Spannung überwachte er jede Bewegung
Dionysia's. Als sic vor ihn hintrat
und ihm die Hand bot, richtete er sich
etwas höher aus. An ihr vorbei warf
er einen fragenden Blick auf Lionel. Die-
ser neigte das Haupt streng, und hastig
ergriff er ihre Hand.
„Du hast Dich dafür entschieden, nicht
in meiner Nachbarschaft zu bleiben, Dein
Eigenthum anderen Händen anzuver-
trauen," redete sie ihn an. „Ich tadle
Dich nicht, obwohl ich den Sohn mei-
ner Schwester lieber in meiner Nahe be-
halten hätte, um über sein Glück zu
wachen lind cs zu fördern. Ich selbst
wäre nicht so traurig vereinsamt gewesen :
eine andere Befriedigung hätte ich nicht
mehr erhofft."
„Auf der anderen Seite der Rocky-
Mountains kenne ich ein Grab, das nicht
minder vereinsamt liegt," antwortete
Vincenti Hartl „es zieht mich nach sich,
cs wartet auf mich."
Dionysia's farblose Lippen erbleichten
noch mehr, indem sie dieselben aufeinander
preßte.
„Ich verstehe Dich," sagte sic nach
kurzem Sinnen, „trittst Du aber vor jenes
Grab Hili und Du vergegenwärtigst Dir
Alles, was Du hier erlebtest, dann kleide
es in die Dir mögliche mildeste Form.
Vielleicht wird eS zu freundlichen Träu-
men, die sich in den Schlaf Deiner
Mutter verflechten und ihn zn einem um
so süßeren gestalten."
Vincenti schloß seine Hand mit festerem
Druck um die ihrige. Seine Augen glänz-
ten eigenthümlich feucht. Er kämpfte offen-
bar gegen eine ihn fast überwältigende
Rührung Plötzlich hob er, wie unbe-
wußt, die schmale Hand an seine Lippen.
Gleich darauf hatte Dionysia seinen Hals
-umschlungen, und ihn küssend, sprach sie
unter hervorbrechenden Thronen kaum
verständlich: „Segne Dich Gott für die-
sen letzten und einzigen nur noch denk-
baren Trost. Beten will ich für Dein
Wohlergehen für und für — ich sehe in
Deine Äugen und meine, es seien die
Deiner Mutter, meiner armen Schwester

zarte Antlitz der Hingeschiedenen hatte im
Tode kaum eine Wandlung erfahren. Nur
die bei Lebzeiten sie schmückenden Todes-
rosen auf den abgezehrten
Wangen Lucy's waren end-
giltig verblüht. In die Farbe
der Unschuld gekleidet und mit
dem Kranz weißer Rosen im
Haar erschien sie wie eine von deren
Schwestern. Bevor der Sarg sich schloß,
neigte Dionysia zur letzten Liebkosung sich
noch einmal über die stille Schläserin
hin. Sie weinte nicht, sie seufzte nicht.
Nur noch mechanisches Leben schien in
ihr zu wohnen. Dieselbe Starrheit be¬
wahrte sie auf dem Wege nach der freund¬
lichen Waldlichtung, wo im Schatten
riesenhafter Tannen das Grab geschaufelt
worden war. Dieselbe Starrheit, als die
Erde auf den dumpf dröhnenden Sarg
hinabrieselte und endlich der kleine Hügel
mit reichen Blumengewinden überdeckt
wurde. Dieselbe Starrheit auf dem
Heimwege. Erst als sic der vor dem
Hause haltenden Wagen ansichtig wurde,
die bereit, die einstigen frohen Gäste, bis
auf Wheeler und Eliza, auf Nimmer-
wiedersehen zu entführen, wurde sie un-
ruhig.
Neben Lionel trat sic hin mit der
Frage: „Ist Alles zu Ihrer Zufrieden-
heit geordnet?"
„Alles," lautete die Antwort. „Ihr
Bevollmächtigter wartet darauf, die be¬
treffenden Dokumente zur Unterschrift
vorzulegen. Das eilt indessen nicht. Die
Sachen können mir nach San Francisco
nachgeschickt werden —"
„Nein, nicht unbefriedigt sollen Sie
von dannen ziehen," fiel Dionysia mit
kalter Entschiedenheit ein, „wann reisen
Sie?"
„Uebermorgen."
„So bitten Sie den Rechtsanwalt in
Meinem Namen, morgen heraus zu kom -
Men. Sie werden Werbeland bald Wie-
dersehen?"
„Es mögen fünf, sechs Monate dar-
über hingehen."
Dionysia neigte das Haupt. Wäh¬
renddes langsamen Einherschreitens schien
ste über irgend etwas ernst nachzudenken.

Dann bemerkte sie beinahe rauh: „Einen Gruß von
mir würde er ablehnen. Schildern aber mögen Sie
ihm, was Sie heute hier sahen. Fügen Sie hinzu,
was nur immer mir zur Last gelegt werden könne, das
Schicksal habe es fürchterlich an mir gerächt. Ich sei
vollständig vereinsamt. Ungeliebt und licbeleer würde
ich fernerhin durch'« Leben wandeln. — Sein Geld be-
findet sich in Ihren Händen?"
„In Form von Wechseln. Ebenso die flüssigen
Mittel Vincenti's."
„Möge es Beiden von größerem Segen: sei::, als es
mir gewesen." Sic waren vor der Veranda cingetroffen,
ivo sic stehen blieben. „Zeigen Lic nur noch einmal
Ihren Talisman," bat sie leise.

Balduin Mölltzausrn.
risch Ulift.l

Ln der Fremde. Nach einem Gemälde von A. de Co urteil. (S. 35b)
 
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