286
nur derselbe Pfad sein, auf dem Padleton zu ihnen ge-
langt war — wählten sie den letzteren. Die alte
Ordnung wurde indessen beibehalten, zumal sie auch
dort nicht sicher davor waren, gesonderten Trupps der
mordenden und sengenden Aufständischen zu begegnen,
die zum Verkehr unter sich gerade die kürzesten und
meist schwer zugänglichen Richtungen wählten.
Nach einem anstrengenden Marsch durch düstere
Tannenwaldungen, in denen die Flüchtlinge zeitweise
fast allein auf ihren Tastsinn angewiesen waren, er-
reichten sie den sich wogenförmig erstreckenden Kamm
des Höhenzuges, wo der Mond sie wieder begünstigte.
Zwischen den lichter stehenden Bäumen hindurch und
über das niedrigere Buschwerk hinweg bot sich ihnen
sogar hier und da eine verschwommene Fernsicht in das
Umpquathal, wo der Schein größerer Feuer Zeugnis;
von den Verheerungen der Eingeborenen ablegte. Mit
Grauen sahen sic darauf hin; und doch eröffnete sich
zur Zeit kein anderer Ausweg für sie, als auf dem
einmal beschlossenen Unternehmen zu beharren. Nur
zum Theil beschwichtete Pietro die Befürchtungen für
Whecler und seine junge Frau durch die Versicherung,
daß die brennenden Gehöfte weit über deren Farm
hinauslägen. Er fiigte hinzu, daß, wenn das Ehepaar
nicht geflüchtet sei, sie selbst aber nicht auf unvorher-
gesehene Schwierigkeiten stießen, sie noch vor dein
- Anbrechen des Tages mit ihnen vereinigt sein könnten.
Und abermals wanderten sie eine Stunde, jetzt aber
thalwärts in lichter Tannenwaldung, als sic auf einen
Bach stießen, der südlich der Thoröffnung des Kanons
zuricselte.
Der Mond war untergegangen. Matte Beleuchtung
schufen die Heller funkelnden Sterne und der falbe
Schein, der im Osten oberhalb der gekerbten Linie des
Horizontes das heraufziehende Morgenrots; verkündete.
Pietro wollte ebeir in den an dem Bach hinlaufenden
Wildpfad einlenken, als er plötzlich stehen blieb und
ein warnendes Zeichen rückwärts sandte. Alle lauschten
angestrengt. Doch bevor der Doktor, Lionel und Ju-
rassic irgend ein verdächtiges Geräusch vernahmen,
wurden sie von dem Chinook unter den ernstesten Mah-
nungen zur Vorsicht zurückgedrängt. Eine kurze Strecke
verfolgten sie den Lauf des Baches aufwärts. Dann
abbiegend, erreichten sie nach wenigen Schritten einen
umgebrochenen Waldriesen, der noch nicht lange genug
der Verwesung preisgegeben gewesen, um sich tiefer in das
Erdreich einzubetten. Dort legten Alle sich nieder, und
zwar hintereinander und dem Stamm so nahe, daß sie
von seiner. Rundung einigermaßen überdacht wurden.
Neber sie hin reichten außerdem verwitternde Aeste und
Zweige, die durch den stürzenden Baum von den
Wipfeln der Nachbarn heruntergebrochen worden waren.
In dem nothdürftigen Versteck kaum zur Ruhe gelangt,
drang das Geräusch langsam einherschreitender Füße
zu ihnen herüber, das gelegentliche Knacken der unter
ihnen splitternden Reiser und dürren Zweige.
Näher kamen die Männer, die als Eingeborene nicht
zu verkennen waren, bis sie endlich in der Entfernung
eines halben Hunderts Schritte auf dem Ufer des Baches
anhielten und nach einigen gewechselten kurzen Bemer-
kungen sich einer gemeinschaftlich getragenen Last ent-
ledigten.
Wie die unter den Bäumen durch deren Schatten
verdichtete Dunkelheit die Flüchtlinge vor ihren Fein-
den verbarg, entzog sie ihnen auch einen Blick auf
deren Treiben. Sechs Männer waren es, die einen
der erschossenen Stammesgenossen herbeitrugen, um ihn
in einem versteckten Winkel zu verscharren. Der Bach
hatte sich hier tiefer in das Erdreich eingewühlt und
dadurch auf beiden Seiten schroffe Wände geschaffen.
Eine das Ufer durchbrechende Regensurche war dazu
auserkoren worden, den Todten aufzunehmen. Den in
eine Decke eingehüllten und fest verschnürten Körper
betteten sie in sicherer Entfernung von dem Bach ge-
rade da, wo die gelegentlich einherstürzenden Wolken-
niederschläge sich zuerst in die Erde hineingebohrt hat-
ten. Eiligst warfen sie Zweige über ihn hin, worauf
sie, ihre Decken als Beförderungsmittel benutzend, den
Rest der Gruft mit aus dem Bach herbeigetragenem
Gestein und Ufersand auffüllten. Nicht viel länger
als eine halbe Stunde dauerte das nut Eifer betriebene
Werk, dessen Fortgang die hinter dem Baumstamm
verborgenen Flüchtlinge mit peinlicher Spannung ver-
folgten. Konnte doch jede neue Minute zu einer verhäng-
nißvollen werden, zumal die Nacht bereits in das
Grauendes Morgens übergegangen war. Nöthlich träumte
es im Osten. Nur die ineinander greifenden Wipfel
wehrten noch in ihrem Bereich dem schnelleren Lichten
der Atmosphäre. Wiederum drangen gedämpft be-
ruhende Stimmen zu den Flüchtlingen herüber. Dann
näherten sich eilige Schritte. Vier der Rogues wählten
den Weg, den die Flüchtlinge selbst gekommen waren.
Die beiden Anderen folgten dem Bachstrom abwärts.
Sie hatten es also immer noch nicht aufgegeben, wie
der Chinook erklärte, den so lange in der Höhle Belager-
ten im Freien aufznlauern und sie aus einem Hinter-
halt niederzuschießen.
Das untere Ende des Stammes mit den hochragen-
Das Buch für Alle.
den Wurzelenden und Anhäufungen von Aesten und
Zweigen umgehend, schritten die vier Ersteren der riesen-
haften Vaumleiche entlang, auf deren anderen Seite
die Flüchtlinge sprungbereit lagen. Eine Minute ver-
strich ihnen in tödtlicher Spannung. Es fesselte den
Athem das Bewußtsein, daß die Entdeckung von dem
geringfügigsten Zufall abhängig, dann aber ein Kampf
auf Leben und Tod unausbleiblich sei. Doch die Wil-
den waren ihrer Sache offenbar zu gewiß, um, nament-
lich bei dem nunmehrigen schnelleren Tagen, ihrer Umge-
bung viel Aufmerksamkeit zu schenken. Rachedurst und
Mordgier umfingen ihre Sinne vollständig. Kein Laut
verließ ihre Lippen, indem sie, Einer hinter dem An-
deren, wie ruhelose Gespenster ihren Weg durch den
dämmerigen Wald verfolgten. Erst nach einer Weile
argwöhnischen Lauschens schlichen die Flüchtlinge aus
dem Versteck hervor. Unwillkürlich prüften sie sich ge-
genseitig mit den Blicken. Tiefer Ernst wohnte auf
allen Physiognomien. Keiner verheimlichte, daß er ihre
Lage für eine verhängnißvolle halte. Jurassic hatte
für den Vater und die Freunde ein mattes Lächeln.
Entschlossenheit prägte sich in ihren Zügen aus. Die
Spuren der ununterbrochenen heftigen Erregungen, wie
der Erschöpfung nach dein langen beschwerlichen Marsch
konnten indessen dadurch nicht verwischt werden.
Schweigend ordnete sich der Zug wieder. Anstatt
den Bach zum Wegweiser zu wählen, der sie binnen
verhältnißmäßig kurzer Frist in das Umpquathal ge-
führt hätte, kreuzte Pietro ihn da, wo der erschossene
Nogue eingescharrt worden war. Auf den: jenseitigen
Ufer bestimmte er die Richtung nach der Lage von
Wheeler's Farm, jedoch ohne den Schutz des Waldes
zu verlassen.
Es war unterdessen vollständig Tag geworden.
Auf dem sich noch immer senkenden Boden wurde es
ihnen erleichtert, zwischen den niedergebrochenen und
verwesenden Stämmen hindurchzuschlüpfen. Es er-
muthigte sie die tiefe Stille ringsum, wie die kühle,
frische Morgenluft sie erquickte. Doch nicht lange soll-
ten sie der Hoffnung auf baldiges glückliches Entkommen
sich erfreuen. Als die den östlichen Bergen sich ent-
windende Sonne die Wipfel der hochragenden Tannen
vergoldete, drang von der Höhe, die sie im Laufe der
Nacht überschritten hatten, deutlich das durchdrin-
gende, seltsam zitternde Gellen herüber, durch welches
Vie Eingeborenen auf weite Strecken hin gelegentlich
miteinander verkehrten. Gleich darauf erfolgte aus der
Richtung des Schluchteinganges eine ähnliche mehrfach
wiederholte Antwort.
„Die Hunde," meinte Pietro unwirsch, „ich fürchtete
es. Sie sind auf unsere Fährten gestoßen und wissen
jetzt, ivo sie uns zu suchen haben."
Niemand knüpfte an diese Aeußerung weitere Be-
merkungen. Erst nach einer Pause fragte der Doktor
mit unverhohlener Besorgnis;: „Ist eine Möglichkeit
der Rettung vorhanden?"
„Vorhanden? Ja," antwortete der Chinook, „ob
wir unbelästigt bleiben, weis; ich nicht."
„Diese unglückselige Fahrt," hieß es plötzlich klein-
müthig zurück, und verstohlen suchte der Doktor Ju-
rassiers Antlitz, „wären wir lieber vor dem Kanon um-
gekehrt."
„Das hätte keinen Unterschied gemacht," erwiederte
Pietro gelassen, „die Rogues und Umpquas schwärmen
zur Zeit überall. Um einen Weg aus der Falle zu
finden, ist's hier nicht schlechter, als überall. Wenn's
unsere junge Lady nur noch eine Weile aushält."
„Durch mich soll Keiner in seinen Bewegungen? ge-
stört werden," versetzte Jurassic ruhig, „seitdem die
Sonne uns wieder leuchtet, fühle ich mich allen An-
strengungen gewachsen, wie an jedem anderen Tage."
Lionel bot ihr den Arm. Freundlich lehnte sie ihn ab.
„Wir möchten uns gegenseitig mehr hindern, als
unterstützen," fügte sie entschuldigend hinzu, „ivo der
Einzelne mühsam hindurchfindet, sind Zwei einander
im Wege."
Damit erreichte das kurze Gespräch ein Ende. Seit-
dem Pietro den unheimlichen Lockruf vernahm, hatte er
die Richtung abermals geändert. Niemand befragte
ihn um seine Absicht. Alan wußte, daß man auf
seine Treue bauen durste, daß er keinen Schritt that,
ohne ihn zuvor reiflich erwogen zu haben. Aber neue
Unruhe bemächtigte sich Aller, als von dem westlich
fließenden Cow-Creek her, wie aus der von Pietro inne
gehaltenen Richtung hin und wieder ein Schuß herüber
schallte. Es stand also zu befürchten, daß gerade da,
wo sie Rettung für sich und Andere zu finden hofften,
die Indianer ihr Vernichtungswerk wieder ausgenommen
hatten. Der Chinook lies; sich dadurch nicht beirren;
nur seine Eile beschleunigte er, so daß Jurassic, um
jedes Säumniß zu vermeiden, sich dennoch der Führung
Lionel's nnvertraute und mit ihm dem Vater voraus-
schritt.
Nach Zurücklegung einer verhältnißmäßig kurzen
Strecke lichtete der Wald sich vor ihnen so weit, daß
sie einen Theil des Umpquathales zu übersehen ver-
mochten. Ihr erster Blick fiel auf den rauchenden
Trümmerhaufen eines Gehöftes. Sogar die zu ihm
Heft lS.
gehörenden Heuschober zeichneten sich nur noch als
dampfende schwarze Erhebungen aus. Vergeblich späh-
ten sie nach irgend welchem Leben. Die einstigen Be-
wohner der friedlichen Heimstätte waren geflüchtet oder
erschlagen; die Wilden aber hatten sich offenbar nach
Beendigung ihres Teufelswerkes einer anderen Farin
zugewendet. Auf der äußersten Grenze des Waldes-
saumes einherschleichend, entdeckten sie weiter östlich
neue Rauchsäulen, die von der Verheerung der Aufstän-
dischen zeugten. In der Nähe dagegen, auf der durch
das Thal führenden Landstraße erblickten sic mit Grausen
die Ueberreste eines verbrannten Lastwagens. Vor
demselben lagen, die Joche noch auf dem Genick, die
niedergeschossenen Ochsen. Ein wenig abseits unter-
schieden sie die leblose Gestalt des Wagenführers.
Schaudernd kehrte Jurassic sich ab. Wie eine Lähmung
durchzitterte es ihren Körper, und doch durfte sie der
Anwandlung von Schwäche nicht nachgeben.
Ein Schuß erdröhnte weiter oberhalb. Pietro blieb
stehen und spähte zwischen den Baumstämmen hindurch.
„Wheeler's Farm steht noch," erklärte er zuversicht-
lich; „hielt er sich bis jetzt, hält er sich auch etwas
länger; dann sind wir bei ihm," und schleunigst nahm
er seine Bewegung wieder auf. Zugleich wählte er
den äußersten Rand des Waldessaumes, wo sie freier
auSzuschreiten vermochten. Vincenti war ganz in's
Thal hinausgeschlichen. Einen forschenden Blick sandte
er über Felder und Wiesen nach dem Umpquakanon
hinüber, gesellte sich indessen alsbald den Freunden
wieder zu und berichtete, daß sie verfolgt würden.
„Dann lohnt's Verbergen nicht mehr," meinte
Pietro, „und ein Vortheil ist's obenein, um sich sehen
zu können. Da drüben, wo das Dach über den Pfahl-
zaun hinauSragt, das ist Wheeler's Farin. Erreichen
wir die, bevor die Hunde heran sind, hat's keine Noth
mehr," und den Schutz der Bäume verlassend, schritt er
offen in's Thal hinaus. Dort wühlte er eine Gruppe
Buschwerk zu seinem Ziel. Sie bezeichnete das Bett
eines Baches, der sich von den bewaldeten Bergabhän-
gen her gerade auf Wheeler's Farm zuschlängelte, und
in dem er wenigstens einigermaßen L-chut; gegen feind-
liche Geschosse zu finden hoffte.
Und die Indianer befanden sich in der That auf
ihren Spuren. Ihrer achte mochten es sein, wilde,
braune Gestalten, die beim Anblick der Flüchtlinge ihre
Eile bis auf's Aeußerste beschleunigten, augenscheinlich
um sie, wenn irgend möglich, von der Farin abzuschnei-
den. Gelang ihnen das nicht, so durften sie doch vor-
aussetzen, ihnen nahe genug zu kommen, um mit Er-
folg von ihren Büchsen Gebrauch machen zu können.
Doch Pietro verlor auch jetzt seine Ueberlegung
nicht. Die Gefährten zur Aufbietung ihrer letzten
Kräfte antreibend, legte er noch einige hundert Ellen
vollen Laufs zurück, dann verschwanden Alle in dem
tief ausgewühlten Bett des Baches. Dessen Windungen
verlängerten zwar den Weg nach der Farm hinüber
erheblich; allein hinter den Uferwänden fanden sie nicht
nur Schutz gegen feindliche Kugeln, sondern auch Ge-
legenheit, aus gedeckter Stellung hin und wieder einen
Schuß auf die Nachsetzenden abzufeuern und sie dadurch
fern zu halten.
Nach der Ueberanstrengung mit gemäßigter Eile
in den seicht rieselnden Fluthen einherschreitend und er-
träglich geschützt, die Rogues fortgesetzt überwachend,
wurden die Flüchtlinge eines Reiters ansichtig, der
augenscheinlich auf dem Wege aus dem Cow-Creekthal
auf den Umpquakanon zulenkte. Er war nicht weit
gekommen, als er die ersten Indianer erblickte und
zugleich mehrere Kugeln über sich hinpfeifen hörte.
Rathlos hielt er an. Wohin er sich wendete, entdeckte
er Feinde. Nur in der Richtung an der Brandstätte
vorbei nach Wheeler's Farm hinüber schien der Weg
noch offen zu sein, und dahin spornte er sein Pferd.
Und abermals drohte Kopflosigkeit sich seiner zu bemäch-
tigen, als er die auf den Führten der Flüchtlinge in
gleicher Höhe mit ihm einherstürmenden Wilden gewahrte
und, rückwärts spähend, sich überzeugte, das; vier be-
rittene Rogues ihn von dem Kanon her verfolgten.
Heftiger spornte er sein Pferd, unbekümmert darum,
wohin die Flucht ihn führte, ob in die Gewalt der
Feinde oder zu Freunden, wenn er nur den nächsten
Gefahren auswich. Erst als er Lionel's ansichtig wurde,
der nach dem Ufer hinaufgesprungen war und ihn her-
beiwinkte, faßte er ein bestimmtes Ziel in's Auge. Die
berittenen Indianer hatten bis dahin ihren Plan ge-
ändert. Anstatt die Verfolgung des einzelnen Mannes
fortzusetzen, beschrieben sie in voller Jagd einen Bogen,
um den Flüchtlingen den Weg nach der Farm abzu-
schneiden und sie wenigstens so lange aufzuhalten, bis
die auf ihre eigenen Füße angewiesenen Stammes-
genossen heAeigeeilt sein würden.
Jnsgesammt mochten es achtzehn Eingeborene sein,
die sich nunmehr an der Verfolgung betheiligten. An-
dere hielten den Hain besetzt, der sich zwischen dem
Umpquaflus; und dem Gehöft in der ungefähren Mitte
erhob, von wo aus sie die nur schwach, wenn auch mit
Tod bringender Sicherheit vertheidigten Palissaden be-
schossen. Der Flüchtlinge ansichtig zu werden, hinderte
nur derselbe Pfad sein, auf dem Padleton zu ihnen ge-
langt war — wählten sie den letzteren. Die alte
Ordnung wurde indessen beibehalten, zumal sie auch
dort nicht sicher davor waren, gesonderten Trupps der
mordenden und sengenden Aufständischen zu begegnen,
die zum Verkehr unter sich gerade die kürzesten und
meist schwer zugänglichen Richtungen wählten.
Nach einem anstrengenden Marsch durch düstere
Tannenwaldungen, in denen die Flüchtlinge zeitweise
fast allein auf ihren Tastsinn angewiesen waren, er-
reichten sie den sich wogenförmig erstreckenden Kamm
des Höhenzuges, wo der Mond sie wieder begünstigte.
Zwischen den lichter stehenden Bäumen hindurch und
über das niedrigere Buschwerk hinweg bot sich ihnen
sogar hier und da eine verschwommene Fernsicht in das
Umpquathal, wo der Schein größerer Feuer Zeugnis;
von den Verheerungen der Eingeborenen ablegte. Mit
Grauen sahen sic darauf hin; und doch eröffnete sich
zur Zeit kein anderer Ausweg für sie, als auf dem
einmal beschlossenen Unternehmen zu beharren. Nur
zum Theil beschwichtete Pietro die Befürchtungen für
Whecler und seine junge Frau durch die Versicherung,
daß die brennenden Gehöfte weit über deren Farm
hinauslägen. Er fiigte hinzu, daß, wenn das Ehepaar
nicht geflüchtet sei, sie selbst aber nicht auf unvorher-
gesehene Schwierigkeiten stießen, sie noch vor dein
- Anbrechen des Tages mit ihnen vereinigt sein könnten.
Und abermals wanderten sie eine Stunde, jetzt aber
thalwärts in lichter Tannenwaldung, als sic auf einen
Bach stießen, der südlich der Thoröffnung des Kanons
zuricselte.
Der Mond war untergegangen. Matte Beleuchtung
schufen die Heller funkelnden Sterne und der falbe
Schein, der im Osten oberhalb der gekerbten Linie des
Horizontes das heraufziehende Morgenrots; verkündete.
Pietro wollte ebeir in den an dem Bach hinlaufenden
Wildpfad einlenken, als er plötzlich stehen blieb und
ein warnendes Zeichen rückwärts sandte. Alle lauschten
angestrengt. Doch bevor der Doktor, Lionel und Ju-
rassic irgend ein verdächtiges Geräusch vernahmen,
wurden sie von dem Chinook unter den ernstesten Mah-
nungen zur Vorsicht zurückgedrängt. Eine kurze Strecke
verfolgten sie den Lauf des Baches aufwärts. Dann
abbiegend, erreichten sie nach wenigen Schritten einen
umgebrochenen Waldriesen, der noch nicht lange genug
der Verwesung preisgegeben gewesen, um sich tiefer in das
Erdreich einzubetten. Dort legten Alle sich nieder, und
zwar hintereinander und dem Stamm so nahe, daß sie
von seiner. Rundung einigermaßen überdacht wurden.
Neber sie hin reichten außerdem verwitternde Aeste und
Zweige, die durch den stürzenden Baum von den
Wipfeln der Nachbarn heruntergebrochen worden waren.
In dem nothdürftigen Versteck kaum zur Ruhe gelangt,
drang das Geräusch langsam einherschreitender Füße
zu ihnen herüber, das gelegentliche Knacken der unter
ihnen splitternden Reiser und dürren Zweige.
Näher kamen die Männer, die als Eingeborene nicht
zu verkennen waren, bis sie endlich in der Entfernung
eines halben Hunderts Schritte auf dem Ufer des Baches
anhielten und nach einigen gewechselten kurzen Bemer-
kungen sich einer gemeinschaftlich getragenen Last ent-
ledigten.
Wie die unter den Bäumen durch deren Schatten
verdichtete Dunkelheit die Flüchtlinge vor ihren Fein-
den verbarg, entzog sie ihnen auch einen Blick auf
deren Treiben. Sechs Männer waren es, die einen
der erschossenen Stammesgenossen herbeitrugen, um ihn
in einem versteckten Winkel zu verscharren. Der Bach
hatte sich hier tiefer in das Erdreich eingewühlt und
dadurch auf beiden Seiten schroffe Wände geschaffen.
Eine das Ufer durchbrechende Regensurche war dazu
auserkoren worden, den Todten aufzunehmen. Den in
eine Decke eingehüllten und fest verschnürten Körper
betteten sie in sicherer Entfernung von dem Bach ge-
rade da, wo die gelegentlich einherstürzenden Wolken-
niederschläge sich zuerst in die Erde hineingebohrt hat-
ten. Eiligst warfen sie Zweige über ihn hin, worauf
sie, ihre Decken als Beförderungsmittel benutzend, den
Rest der Gruft mit aus dem Bach herbeigetragenem
Gestein und Ufersand auffüllten. Nicht viel länger
als eine halbe Stunde dauerte das nut Eifer betriebene
Werk, dessen Fortgang die hinter dem Baumstamm
verborgenen Flüchtlinge mit peinlicher Spannung ver-
folgten. Konnte doch jede neue Minute zu einer verhäng-
nißvollen werden, zumal die Nacht bereits in das
Grauendes Morgens übergegangen war. Nöthlich träumte
es im Osten. Nur die ineinander greifenden Wipfel
wehrten noch in ihrem Bereich dem schnelleren Lichten
der Atmosphäre. Wiederum drangen gedämpft be-
ruhende Stimmen zu den Flüchtlingen herüber. Dann
näherten sich eilige Schritte. Vier der Rogues wählten
den Weg, den die Flüchtlinge selbst gekommen waren.
Die beiden Anderen folgten dem Bachstrom abwärts.
Sie hatten es also immer noch nicht aufgegeben, wie
der Chinook erklärte, den so lange in der Höhle Belager-
ten im Freien aufznlauern und sie aus einem Hinter-
halt niederzuschießen.
Das untere Ende des Stammes mit den hochragen-
Das Buch für Alle.
den Wurzelenden und Anhäufungen von Aesten und
Zweigen umgehend, schritten die vier Ersteren der riesen-
haften Vaumleiche entlang, auf deren anderen Seite
die Flüchtlinge sprungbereit lagen. Eine Minute ver-
strich ihnen in tödtlicher Spannung. Es fesselte den
Athem das Bewußtsein, daß die Entdeckung von dem
geringfügigsten Zufall abhängig, dann aber ein Kampf
auf Leben und Tod unausbleiblich sei. Doch die Wil-
den waren ihrer Sache offenbar zu gewiß, um, nament-
lich bei dem nunmehrigen schnelleren Tagen, ihrer Umge-
bung viel Aufmerksamkeit zu schenken. Rachedurst und
Mordgier umfingen ihre Sinne vollständig. Kein Laut
verließ ihre Lippen, indem sie, Einer hinter dem An-
deren, wie ruhelose Gespenster ihren Weg durch den
dämmerigen Wald verfolgten. Erst nach einer Weile
argwöhnischen Lauschens schlichen die Flüchtlinge aus
dem Versteck hervor. Unwillkürlich prüften sie sich ge-
genseitig mit den Blicken. Tiefer Ernst wohnte auf
allen Physiognomien. Keiner verheimlichte, daß er ihre
Lage für eine verhängnißvolle halte. Jurassic hatte
für den Vater und die Freunde ein mattes Lächeln.
Entschlossenheit prägte sich in ihren Zügen aus. Die
Spuren der ununterbrochenen heftigen Erregungen, wie
der Erschöpfung nach dein langen beschwerlichen Marsch
konnten indessen dadurch nicht verwischt werden.
Schweigend ordnete sich der Zug wieder. Anstatt
den Bach zum Wegweiser zu wählen, der sie binnen
verhältnißmäßig kurzer Frist in das Umpquathal ge-
führt hätte, kreuzte Pietro ihn da, wo der erschossene
Nogue eingescharrt worden war. Auf den: jenseitigen
Ufer bestimmte er die Richtung nach der Lage von
Wheeler's Farm, jedoch ohne den Schutz des Waldes
zu verlassen.
Es war unterdessen vollständig Tag geworden.
Auf dem sich noch immer senkenden Boden wurde es
ihnen erleichtert, zwischen den niedergebrochenen und
verwesenden Stämmen hindurchzuschlüpfen. Es er-
muthigte sie die tiefe Stille ringsum, wie die kühle,
frische Morgenluft sie erquickte. Doch nicht lange soll-
ten sie der Hoffnung auf baldiges glückliches Entkommen
sich erfreuen. Als die den östlichen Bergen sich ent-
windende Sonne die Wipfel der hochragenden Tannen
vergoldete, drang von der Höhe, die sie im Laufe der
Nacht überschritten hatten, deutlich das durchdrin-
gende, seltsam zitternde Gellen herüber, durch welches
Vie Eingeborenen auf weite Strecken hin gelegentlich
miteinander verkehrten. Gleich darauf erfolgte aus der
Richtung des Schluchteinganges eine ähnliche mehrfach
wiederholte Antwort.
„Die Hunde," meinte Pietro unwirsch, „ich fürchtete
es. Sie sind auf unsere Fährten gestoßen und wissen
jetzt, ivo sie uns zu suchen haben."
Niemand knüpfte an diese Aeußerung weitere Be-
merkungen. Erst nach einer Pause fragte der Doktor
mit unverhohlener Besorgnis;: „Ist eine Möglichkeit
der Rettung vorhanden?"
„Vorhanden? Ja," antwortete der Chinook, „ob
wir unbelästigt bleiben, weis; ich nicht."
„Diese unglückselige Fahrt," hieß es plötzlich klein-
müthig zurück, und verstohlen suchte der Doktor Ju-
rassiers Antlitz, „wären wir lieber vor dem Kanon um-
gekehrt."
„Das hätte keinen Unterschied gemacht," erwiederte
Pietro gelassen, „die Rogues und Umpquas schwärmen
zur Zeit überall. Um einen Weg aus der Falle zu
finden, ist's hier nicht schlechter, als überall. Wenn's
unsere junge Lady nur noch eine Weile aushält."
„Durch mich soll Keiner in seinen Bewegungen? ge-
stört werden," versetzte Jurassic ruhig, „seitdem die
Sonne uns wieder leuchtet, fühle ich mich allen An-
strengungen gewachsen, wie an jedem anderen Tage."
Lionel bot ihr den Arm. Freundlich lehnte sie ihn ab.
„Wir möchten uns gegenseitig mehr hindern, als
unterstützen," fügte sie entschuldigend hinzu, „ivo der
Einzelne mühsam hindurchfindet, sind Zwei einander
im Wege."
Damit erreichte das kurze Gespräch ein Ende. Seit-
dem Pietro den unheimlichen Lockruf vernahm, hatte er
die Richtung abermals geändert. Niemand befragte
ihn um seine Absicht. Alan wußte, daß man auf
seine Treue bauen durste, daß er keinen Schritt that,
ohne ihn zuvor reiflich erwogen zu haben. Aber neue
Unruhe bemächtigte sich Aller, als von dem westlich
fließenden Cow-Creek her, wie aus der von Pietro inne
gehaltenen Richtung hin und wieder ein Schuß herüber
schallte. Es stand also zu befürchten, daß gerade da,
wo sie Rettung für sich und Andere zu finden hofften,
die Indianer ihr Vernichtungswerk wieder ausgenommen
hatten. Der Chinook lies; sich dadurch nicht beirren;
nur seine Eile beschleunigte er, so daß Jurassic, um
jedes Säumniß zu vermeiden, sich dennoch der Führung
Lionel's nnvertraute und mit ihm dem Vater voraus-
schritt.
Nach Zurücklegung einer verhältnißmäßig kurzen
Strecke lichtete der Wald sich vor ihnen so weit, daß
sie einen Theil des Umpquathales zu übersehen ver-
mochten. Ihr erster Blick fiel auf den rauchenden
Trümmerhaufen eines Gehöftes. Sogar die zu ihm
Heft lS.
gehörenden Heuschober zeichneten sich nur noch als
dampfende schwarze Erhebungen aus. Vergeblich späh-
ten sie nach irgend welchem Leben. Die einstigen Be-
wohner der friedlichen Heimstätte waren geflüchtet oder
erschlagen; die Wilden aber hatten sich offenbar nach
Beendigung ihres Teufelswerkes einer anderen Farin
zugewendet. Auf der äußersten Grenze des Waldes-
saumes einherschleichend, entdeckten sie weiter östlich
neue Rauchsäulen, die von der Verheerung der Aufstän-
dischen zeugten. In der Nähe dagegen, auf der durch
das Thal führenden Landstraße erblickten sic mit Grausen
die Ueberreste eines verbrannten Lastwagens. Vor
demselben lagen, die Joche noch auf dem Genick, die
niedergeschossenen Ochsen. Ein wenig abseits unter-
schieden sie die leblose Gestalt des Wagenführers.
Schaudernd kehrte Jurassic sich ab. Wie eine Lähmung
durchzitterte es ihren Körper, und doch durfte sie der
Anwandlung von Schwäche nicht nachgeben.
Ein Schuß erdröhnte weiter oberhalb. Pietro blieb
stehen und spähte zwischen den Baumstämmen hindurch.
„Wheeler's Farm steht noch," erklärte er zuversicht-
lich; „hielt er sich bis jetzt, hält er sich auch etwas
länger; dann sind wir bei ihm," und schleunigst nahm
er seine Bewegung wieder auf. Zugleich wählte er
den äußersten Rand des Waldessaumes, wo sie freier
auSzuschreiten vermochten. Vincenti war ganz in's
Thal hinausgeschlichen. Einen forschenden Blick sandte
er über Felder und Wiesen nach dem Umpquakanon
hinüber, gesellte sich indessen alsbald den Freunden
wieder zu und berichtete, daß sie verfolgt würden.
„Dann lohnt's Verbergen nicht mehr," meinte
Pietro, „und ein Vortheil ist's obenein, um sich sehen
zu können. Da drüben, wo das Dach über den Pfahl-
zaun hinauSragt, das ist Wheeler's Farin. Erreichen
wir die, bevor die Hunde heran sind, hat's keine Noth
mehr," und den Schutz der Bäume verlassend, schritt er
offen in's Thal hinaus. Dort wühlte er eine Gruppe
Buschwerk zu seinem Ziel. Sie bezeichnete das Bett
eines Baches, der sich von den bewaldeten Bergabhän-
gen her gerade auf Wheeler's Farm zuschlängelte, und
in dem er wenigstens einigermaßen L-chut; gegen feind-
liche Geschosse zu finden hoffte.
Und die Indianer befanden sich in der That auf
ihren Spuren. Ihrer achte mochten es sein, wilde,
braune Gestalten, die beim Anblick der Flüchtlinge ihre
Eile bis auf's Aeußerste beschleunigten, augenscheinlich
um sie, wenn irgend möglich, von der Farin abzuschnei-
den. Gelang ihnen das nicht, so durften sie doch vor-
aussetzen, ihnen nahe genug zu kommen, um mit Er-
folg von ihren Büchsen Gebrauch machen zu können.
Doch Pietro verlor auch jetzt seine Ueberlegung
nicht. Die Gefährten zur Aufbietung ihrer letzten
Kräfte antreibend, legte er noch einige hundert Ellen
vollen Laufs zurück, dann verschwanden Alle in dem
tief ausgewühlten Bett des Baches. Dessen Windungen
verlängerten zwar den Weg nach der Farm hinüber
erheblich; allein hinter den Uferwänden fanden sie nicht
nur Schutz gegen feindliche Kugeln, sondern auch Ge-
legenheit, aus gedeckter Stellung hin und wieder einen
Schuß auf die Nachsetzenden abzufeuern und sie dadurch
fern zu halten.
Nach der Ueberanstrengung mit gemäßigter Eile
in den seicht rieselnden Fluthen einherschreitend und er-
träglich geschützt, die Rogues fortgesetzt überwachend,
wurden die Flüchtlinge eines Reiters ansichtig, der
augenscheinlich auf dem Wege aus dem Cow-Creekthal
auf den Umpquakanon zulenkte. Er war nicht weit
gekommen, als er die ersten Indianer erblickte und
zugleich mehrere Kugeln über sich hinpfeifen hörte.
Rathlos hielt er an. Wohin er sich wendete, entdeckte
er Feinde. Nur in der Richtung an der Brandstätte
vorbei nach Wheeler's Farm hinüber schien der Weg
noch offen zu sein, und dahin spornte er sein Pferd.
Und abermals drohte Kopflosigkeit sich seiner zu bemäch-
tigen, als er die auf den Führten der Flüchtlinge in
gleicher Höhe mit ihm einherstürmenden Wilden gewahrte
und, rückwärts spähend, sich überzeugte, das; vier be-
rittene Rogues ihn von dem Kanon her verfolgten.
Heftiger spornte er sein Pferd, unbekümmert darum,
wohin die Flucht ihn führte, ob in die Gewalt der
Feinde oder zu Freunden, wenn er nur den nächsten
Gefahren auswich. Erst als er Lionel's ansichtig wurde,
der nach dem Ufer hinaufgesprungen war und ihn her-
beiwinkte, faßte er ein bestimmtes Ziel in's Auge. Die
berittenen Indianer hatten bis dahin ihren Plan ge-
ändert. Anstatt die Verfolgung des einzelnen Mannes
fortzusetzen, beschrieben sie in voller Jagd einen Bogen,
um den Flüchtlingen den Weg nach der Farm abzu-
schneiden und sie wenigstens so lange aufzuhalten, bis
die auf ihre eigenen Füße angewiesenen Stammes-
genossen heAeigeeilt sein würden.
Jnsgesammt mochten es achtzehn Eingeborene sein,
die sich nunmehr an der Verfolgung betheiligten. An-
dere hielten den Hain besetzt, der sich zwischen dem
Umpquaflus; und dem Gehöft in der ungefähren Mitte
erhob, von wo aus sie die nur schwach, wenn auch mit
Tod bringender Sicherheit vertheidigten Palissaden be-
schossen. Der Flüchtlinge ansichtig zu werden, hinderte