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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 29.1894

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Heft 20
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474

Das V n eh f ü r A l l c.

Ljest LO.

druck hervorgebracht, der Gedanke, daß es so sein müsse
und doch nicht so ivar, sprach rührend hilflos, engel-
schön und doch zugleich unendlich traurig aus ihnen.
„Ist mein Vater gekommen?" fragte sie tonlos.
„Ach, du großer Gott," jammerte Mary, '„ja, er
ist da."
Miß Jessie zuckte zusammen und sah ihre Dienerin
forschend an. Dann reckte sie sich plötzlich kerzengerade
in die Höhe. Steif und still stand sie fast eine Minute
lang so da. Mary wurde es unheimlich und furchtsam
zu Muth, als sie ihre Herrin so sah. Mas sollte sie
thun? Was sagen? Es schien, als ob Miß Jessie
etwas fragen wollte, aber sich vor der Antwort selbst
gefürchtet hätte. Erst nach einer langen Pause fragte
sie leise und in einem kalten, fast gleichgiltigen Don:
„Ist er todt?"
Der Dienerin lief es bei diesem Don eiskalt über
den Nucken. „Herr meines Lebens, Miß Jessie, was
ist Ihnen? Sind Sie krank? Soll ich den Arzt rufen?
Sofort soll das geschehen, nur einen Augenblick— ewiger
Schöpfer, Miß Jessie, was ist Ihnen?"
Mary weinte ihre bittersten Thränen. Miß Jessie
aber stieß einen erschütternden Schrei aus und stürzte
ohnmächtig zu Boden.

2.
In der Bestürzung und Verwirrung, die der plötz-
liche und unerwartete Tod Sir Bernard Jefferson's in
Westhampton-Court hervorbrachte, war es übersehen
worden, die gebräuchlichen Anzeigen an die näheren und
weiteren Verwandten des Verstorbenen zu machen. Aber
auch ohne dies verbreitete sich die Nachricht blitzschnell,
so daß sie schon am nächsten Morgen in der City von
London, in der eigentlichen Londoner Geschäftsstadt, wo
Sir Bernard Jefferson eine bekannte Persönlichkeit war,
das allgemeine Tagesgespräch bildete. Der Verstorbene
war Direktor und zugleich Hauptaktionär einer großen
Rhederei in London, in welcher Eigenschaft er nicht nur
mit den ersten Import- und Exporthäusern in Ver-
bindung getreten war, sondern auch feinen persönlichen
Bekanntenkreis in der Londoner Handelswelt immer
weiter ausgedehnt hatte.
Sir Bernard Jefferson kannte dort Alle und wurde
von Allen gekannt. Sein plötzliches Ableben mußte
also eine gewisse Aufregung hervorbringen. Da aber
vom Handel, und besonders vom Londoner Großhandel
das gilt, was man in Deutschland von der Politik sagt,
nämlich daß dadurch der Charakter verdorben würde,
so war diese Aufregung über den Tod Jefferson's mehr
ein ungeheurer Jnteressenwettlauf, als ein allgemein
menschliches Bedauern. Jedermann dachte dabei zu-
nächst an sich, und der Gedankengang der Meisten war:
„Jefferson ist todt. Ein Sohn ist nicht da. Mit seinem
Bruder war er uneinig. Seine Aktien werden fallen,
also kann ich auf Baisse spekuliren."
Sir Bernard Jefferson war in seinem Leben nie
sentimental gewesen. Es hatte ihn nie sonderlich ge-
kümmert, was die Leute nach seinem Tode von ihm
dächten und fühlten. Er hatte als echter Großkaufmann
der Maxime gehuldigt: „Ich kann nichts gewinnen, wenn
der Andere nichts verliert," und war allmälig mit diesem
Grundsatz in moralischer Hinsicht auf eine schiefe
Ebene gelangt, was namentlich in der Art und Weise
zum Ausdruck kam, in der er an der Börse mit seinen
eigenen Aktien spielte. Als Direktor einer großen Ge-
sellschaft konnte er das Papier „flau" machen, sobald
ihm das erwünscht war. Er kaufte dann. Wenn aber
ein günstiger Jahresabschluß erzielt war, und das Papier
dementsprechend gestiegen war, so schob er seinen Vor-
rath wieder ab und heimste die Differenz ein. Bei
alledem war Sir Bernard Jefferson nicht schlechter von
Gemüth, als viele Andere an der Londoner Börse, aber
er war ebenso selbstsüchtig und rücksichtslos, denn sonst
wäre er vermuthlich nicht das geworden, was er ge-
worden war. In einem solchen Leben, in einem solchen
unermüdlichen Ringen und Kämpfen um das Mein und
Dein gab es natürlich auch viele Feinde, viel Haß und
Rache, dagegen keine Liebe, und die meisten Geschäfts-
leute in der City waren daher zu der Annahme geneigt,
daß Sir Bernard Jefferson das Opfer eines Racheaktes
geworden sei.
Westhampton-Court war von London mit der Eisen-
bahn in etwa fünfundzwanzig bis dreißig Minuten zu
erreichen. Kein Wunder also, daß bald nach dem Be-
kanntwerden der Unglücksnachricht eine Menge Menschen
nach Westhampton-Court kamen, die weniger das Mit-
gefühl und die Menschenfreundlichkeit, als vielmehr ihr
eigenes Interesse hinausführte. Da waren Agenten von
Begrübnißanstalten, welche die Hinterbliebenen ihres
aufrichtigen Schmerzes versichern und nebenbei fragen
wollten, in welcher Klasse das Begräbnis; gewünscht
würde, da waren Advokaten, denen der jähe Unglücks-
fall das Herz abdrückte, und die aus purer Menschen-
liebe ihre Gesetzeskenntniß zur Verfügung stellten, um
die Rechte der Hinterbliebenen zu vertheidigen: da waren
ferner Verwandte, die der Verstorbene nie in seinem
Leben gesehen halte, und die sich nun über den ent-

setzlichen Verlust, den sie erlitten, durchaus nicht trösten
lassen wollten, bis sie endlich hörten, daß ihr theurer
Vetter überhaupt kein Testament hinterlassen habe, und
somit Alles der Haupterbin, seiner Tochter, zufiele. . . .
Es waren etwa zwanzig Personen, die in dem großen
Empfangssalon von Westhampton-Court versammelt
waren und die Alle Miß Jessie Jefferson sprechen
wollten.
„Nein, nein!" erklärte Mary Wimpleton mit eigen-
sinniger Energie, „Niemand kann sie sprechen. Miß
Jessie ist krank. Dabei bleibe ich und wenn man mich
in Stücke sägt."
Manche der Anwesenden zuckten verächtlich die Achseln
über die „alberne Person", die nicht wisse, was sich ge-
höre. Andere thaten beleidigt und gekränkt, weil sie da-
durch in ihrer Menschenliebe behindert seien, wieder An-
dere versuchten die Frau zu bestechen, durch Schmeiche-
leien und auch durch Geld, aber es war Alles umsonst.
Mary Wimpleton beharrte dabei, daß sie eher in Stücke
gesägt werden, als Jemand zu ihrer Herrin führen wolle.
Mit dem Mittagszug kam ein Herr in Westhampton-
Court an, der eine gewisse Unruhe in diese Versamm-
lung brachte. Er war ein Mann von einigen vierzig
Jahren, mit tadelloser Eleganz gekleidet, aber, einem
besonderen Geschmack zufolge, waren seine Kleider alle
sehr weit und bequem. Er zeigte im Aeußeren eine
gewisse gedrungene Korpulenz, so daß man Hütte auf
die Idee kommen können, er trüge sich in seiner Klei-
dung so auffallend weit, weil er Angst vor einem Herz-
schlag habe. Das war aber nicht der Fall. Es war
! seine Geschmackssache. Sein Gesicht war sehr markig
und kräftig, etwas feist, mit dunkeln, buschigen Augen-
brauen und schwarzem Kotelettenbart, nach englischer
Manier verschnitten. Er trat sehr selbstbewußt auf, fein
ganzes Wesen hatte etwas Salbungsvolles, etwas Wür-
diges, das aber zu den scharfen, durchdringenden und
verschlagenen Augen nicht paßte und gemacht erschien.
„Sie kennen mich?" fragte er Mary Wimpleton.
„Ja, Sir. Sie sind der Bruder unseres gnädigen
Herrn," antwortete Mary.
„Gut. Melden Sie mich meiner Nichte," sagte Mr.
Simon Jefferson lässig, aber doch bestimmt und jeden
Einwand ausschließend. Mary Wimpleton überlegte
einen Augenblick. Simon Jefferson war der nächste
Verwandte ihrer Herrschaft, den abzuwcisen sie weder
befugt war, noch den Muth hatte. Sie ging also schließ-
lich langsam hinauf in den ersten Stock, wo sich die
Zimmer von Miß Jessie befanden.
„Miß Jessie, Ihr Onkel Simon ist da und will mit
Ihnen sprechen," sagte sie zu der jungen Dame.
Diese lag bleich und theilnahmlos in einem Lehn-
stuhl und schaute, wie in sich verloren, hinaus auf die
grünen Wiesen und die rauschenden Laubwaldungen des
Parkes von Westhampton-Court, offenbar ohne etwas
von der sommerlichen Pracht der Anlagen zu bemerken.
Ausdruckslos schweiften ihre Augen hierhin und dorthin.
Mary Wimpleton wiederholte ihre Meldung noch
einmal, weil sie keine Antwort erhielt, und endlich sagte
Miß Jessie eintönig und fast erstaunt:
„Onkel Simon?"
„Ja,.er ist da und will mit Ihnen sprechen."
„So mag er kommen."
„Sie wollen ihn also empfangen?"
„Warum sollte ich nicht? Ist er doch mein Onkel."
Mary seufzte leicht auf und ging wieder hinunter,
um den Bescheid ihrer Herrin zu überbringen. Als sie
den Salon im Erdgeschoß betrat, hörte sie, wie Simon
Jefferson mit Würde und Wichtigkeit sagte: „Meine
Herren, ich würde Ihnen rathen, sich mit Ihren An-
liegen an meinen Rechtsanwalt, Herrn James Finding
in Lineolnsinn zu wenden. Ich werde dafür sorgen,
daß er bis heute Abend in der Lage ist, das Nöthige
zu arrangiren."
Die Versammelten beeilten sich, ihre Hochachtung
vor Simon Jefferson, den sie allgemein für die hier
allein ausschlaggebende Persönlichkeit hielten, auszu-
drücken. Einige von ihnen, die mit den Verhältnissen
näher vertraut waren und, wie man zu sagen pflegt,
das Gras wachsen hörten, erkundigten sich sogar in ziem-
lich familiärer Vertraulichkeit nach dem Sohne Mr. Si-
mon's, dem lustigen Hugh Jefferson, und blinzelten da-
bei mehr oder weniger schlau mit den Augen, als ob
sie noch viel mehr wüßten und sagen könnten, wenn
sie nur Zeit und Ort für angemessener gehalten hätten.
„Sie möchten hinaufkommen, Sir: Miß Jessie will
Sie empfangen," sagte endlich Mary Wimpleton gerade-
zu und fast grob, als wäre es ihr nur darum zu thun
gewesen, dieser komödienhaften Unterhaltung ein Ende
zu machen.
Simon Jefferson sah sie ziemlich vornehm an. Ihre
Art und Weise gefiel ihm offenbar nicht. Er sagte aber
nichts, sondern ging an ihr vorüber.und die Treppe
hinauf.
Miß Jessie lag noch genau so apathisch und leidend
in ihrem Sessel, wie vorher und wie schon die ganze
vorhergehende Nacht. Das so rasch und fürchterlich über
sie hereingebrochene Unglück hatte offenbar ihre ohnehin
sehr zirte und wohl auch etwas schwächliche Konstitution

bedenklich erschüttert und zwar nicht nur ihre körperlichen,
sondern auch ihre geistigen Kräfte momentan gelähmt.
Das starre Auge, die matte und müde Theilnahmlosig-
keit gegenMlles, was um sie herum vorging, der Mangel
an jedem eigenen Impuls, an jeder Aktivität, an jeder
geistigen und körperlichen Regsamkeit, ließ auf eine hoch-
gradige Nervenverstimmung schließen. Eine sanfte, liebe-
volle Pflege, Ruhe und trostreicher Zuspruch hätten viel-
leicht die Gefahr beschworen: gegenüber den aufregenden
Ansprüchen aber, die Welt und Menschen an das plötz-
lich zu einer steinreichen Erbin gewordene, weltfremde,
junge Mädchen stellten, gegenüber diesen unendlichen
Jntriguen, Lügen, Täuschungen, die Jessie von den
- spekulationswüthigen und habgierigen Menschenbrüdern
zu erwarten hatte, konnte ihr jetziger Zustand leicht der
Ausgang dauernder Geistesstörung, tiefer Melancholie
oder anderer Erscheinungsformen des stillen Wahnsinns
werden.
„Jessie, die Hand des Schicksals hat uns schwer
getroffen," sagte ihr Onkel Simon salbungsvoll. Seine
Stimme zitterte sogar ein wenig.
Jessie antwortete nichts. Sie schluchzte nur leise.
„Du hast Deinen Vater, ich habe meinen Bruder
verloren," fuhr Simon fort. „Gegenüber einem so
erschütternden Unglück treten alle die vorübergehenden
flüchtigen Verstimmungen des täglichen Lebens zurück.
Im herben Schmerz halten die Zurückgebliebenen zu-
sammen, um mit vereinten Kräften den harten Schlag
zu überwinden, Einer dem Anderen eine Stühe, ein
Trost, eine Hilfe zu sein! So soll es auch bei mir
sein, Jessie. Gib mir Deine Hand, Nichte."
Die junge Dame sah ihrem Onkel flüchtig in das
Gesicht.
Er weinte auch.
Sie reichte ihm langsam und zitternd die kleine,
zarte Hand, aber vermochte auch jetzt noch nicht zu
sprechen.
„Liebe Jessie," sagte Simon wieder mit zitternder
Stimme, als wenn er nur mit Mühe das Schluchzen
unterdrücken könne, „was mir der Verstorbene war,
kannst Du ermessen, wenn Du bedenkst, was er Dir
war."
„Vater, Vater!" murmelte Jessie schlicht und einfach.
„Ja, ein Vater!" betonte Simon schwer und würdig.
„In diesem Wort liegt eine ganze Welt von Herz und
Gemüth, feine beste Leichenrede wird fein: Bernard
Jefferson war Dein Vater! In diesen: Wort liegt ein
Leben voll Arbeit und Sorge, voll Kampf und Mühe
— und das Alles war für Dich, Jessie, für sein
Kind."
„Sie sollen Alles nehmen. Ich will nichts. Ich
will nur meinen Vater!" stöhnte Jessie halb unbewußt
und noch immer mit starren Augen stumpf vor sich
hinblickend. Ein rascher, durchdringender Blick Simon's
fuhr über das unglückliche Kind hin. Sah ihr Onkel,
in welcher Gefahr das arme, schwächliche Geschöpf
schwebte?
Nach einer Pause fuhr er in seinem gewöhnlichen
salbungsvollen Tone fort: „Und gerade diese Zärtlich-
keit, die Dein Vater Tag und Nacht für Dich an den
Tag gelegt, mit der er Dich vor jeder rauhen Be-
rührung mit Welt und Menschen behütet und bewahrt
hat, die Dich in Unkenntnis; aller Gefahren des Lebens
ließ, sie fordert gebieterisch, das; Dir auch ferner ein
Ersatz für Deinen Vater, für Deines Vaters Zärtlich-
keit geboten werde. Sie macht es mir zur eisernen
Pflicht, bei Dir und in Deinem Hause nach dem Rechten
zu sehen, Dir, so gut ich es kann, den Verlust zu er-
setzen."
Miß Jessie begriff, das; in ihrem Hause Jemand
da sein müsse, um, wie es ihr Onkel nannte, nach dem
Rechten zu sehen. Es gab da Manches zu sagen, zu
befehlen, zu ordnen, zu besprechen, wovon sie selbst keine
Ahnung hatte, und so sehr es der jungen Dame wider-
strebte, jetzt an irgend etwas Anderes zu denken, als
an ihren Vater, so war es ihr doch lieb, daß ihr Onkel
es übernehmen wollte — nach dem Rechten zu sehen.
Sie wußte sehr wohl, daß ihr Vater bei seinen Leb-
zeiten nie sonderlich mit Onkel Simon harmonirt hatte.
Sie erinnerte sich sogar dunkel — sie war damals
noch ein Kind gewesen — daß Beide einmal einen
Prozeß gegen einander geführt hatten, bei dem es sich
um eine Fälschung handelte, die Onkel Simon be-
gangen haben sollte. Der Prozeß war aber dann von
ihrem Vater aufgegeben worden, und Onkel Simon
hatte an seinen Bruder viel Geld bezahlen müssen.
Aber Jessie hatte nie erfahren, nm was es sich eigent-
lich bei dem Prozeß gehandelt habe. Zur damaligen
Zeit ivar Jessie wohl kaum zehn Jahre gewesen, eS
hätte also keinen Zweck gehabt, mit ihr davon zu
sprechen. Später war wieder Gras über die Geschichte
gewachsen, und Jeder hütete sich, sic wieder von Neuem
aufzurühren. Am allerwenigsten war Miß Jessie jetzt
in der Stimmung, solchen Erinnerungen nachzuhängen.
Sie sagte also zu Simon: „Es wird mir lieb sein,
Onkel, wenn Du das Alles besorgen würdest."
Miß Jessie dachte bei diesen Worten wohl nur an
das Begräbnis; und was etwa damit zusammenhängt.
 
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