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Sie achtete nicht darauf, daß ihr Ausdruck „das Alles"
in höchst bedenklicher Weise dehnbar sei.
„Das versteht sich wohl von selbst, Jessie, daß ich
das Alles besorge. Dazu bin ich da. Sollten trotz-
dem Leute sich an Dich herandrängen, unter irgend
welchem Vorwand, so brauchst Du sie nur an mich
oder an meinen Rechtsanwalt, Mr. James Finding in
Lincolnvinn zu verweisen. Finding ist ein sehr ehren-
werther Mann, Jessie, und ich würde Dich bitten, Dir
seinen Rainen zn merken."
„Ich werde ihn nur merken, Onkel."
„Ich danke Dir dafür, Jessie. Du wirst Recht
daran thun. Sollte Dir Vir. Finding gelegentlich ein
Dokument, eine Rechnung oder ein Aktenstück zur Unter-
schrift vorlegeü, so kannst Du ihm vollständig dabei
vertrauen, denn er ist in Wahrheit, ein sehr ehren-
werther Mann- Cs werden sich vermuthlich in Zu-
kunft gerichtliche Schritte nicht umgehen lassem Du
weißt, Jessie, daß Du noch nicht achtzehn Jahre alt
bist und deshalb ein Vormund für Dich nöthig ist.
Das sind nun einmal gesetzliche Vorschriften, an denen
sich leider nichts ändern läßt. Du kannst nur glauben,
mein liebes Kind, daß ich Dich nut solchen Geschichten
gewiß nicht behelligen würde, wenigstens heute nicht,
denn das ist so eilig durchaus nicht, aber meine Ge-
schäfte gestatten mir, wie Du weißt, nicht, alle Tage
nach Westhampton-Court zu fahren, und da ich jetzt
einmal hier bin, so möchte ich Dich wenigstens auf diese
Punkte aufmerksam machen."
„Es ist hier so schrecklich einsam. Es wird mich immer
freuen, Onkel, Dich hier zu sehen," sagte Miß Jessie.
Simon Jefferson zog die Brauen gewichtig in die
Höhe, machte ein bedenkliches Gesicht und erwiederte
endlich nut sicherer Stimme: „Ich habe daran wohl
gedacht, mein liebes Kind, und verstehe es vollständig,
wenn Du Dich jetzt in dem weitläufigen großen West-
Hampton-Court mit seinen endlosen Zimmerreihen und
hallenden Sälen und Korridoren einsam und verlassen
fühlst. Ich habe deshalb schon heute früh, gleich nach-
dem ich den Tod meines armen Bruders erfuhr — es
war schon fast Mittag, und ich befand mich aus der
Börse, da Du mir keine Nachricht hattest zukommen
lassen — —"
„Lieber Onkel, es ist übersehen worden —"
„Ich begreife Alles, Jessie; Du hast nicht nöthig,
Dich deshalb zu entschuldigen. Ich wollte nur betonen,
daß ich es sehr spät erfahren habe, damit Du verstehst,
warum Dein Vetter Hugh, mein Sohn, noch nicht hier
ist, um Dir seinen Beileidsbesuch zu machen. Er war
nicht zu Hause, als ich die traurige Nachricht erhielt,
ich habe ihm aber sofort geschrieben, daß er sich nach
Westhampton-Court begeben solle, um sich Dir zur Ver-
fügung zu stellen. Er hat mehr Zeit wie ich und kann
leichter abkcnnmen. Er wird also die nächste Zeit nut
Deiner Erlaubnis; in Westhampton-Court oder in seiner
Nähe bleiben, damit Du nicht immer allein bist. Ist
Dir das so recht, mein liebes Kind?"
Es war Miß Jessie offenbar nicht recht. Aber sie
hatte auch nichts Besonderes dagegen, wenigstens konnte
sie sich in ihrer augenblicklichen Stimmung nicht dazu
aufraffen, der Ansicht ihres Onkels zu widersprechen.
Sie kannte ihren Vetter Hugh nur sehr flüchtig. Sie
ivar vor längerer Zeit in Brighton mit ihm zusammen-
getroffen. Ob es nun das Lurusbad und seine etwas
leichtfertige Gesellschaft war, oder ihr Vetter Hugh
selbst, das wußte sie nicht; aber er war ihr dort so
unvortheilhaft als möglich erschienen. Seitdem war
der Verkehr zwischen den Beiden erkaltet nnd wenig-
stens von Seiten Jessie's vollständig eingestellt worden.
„Wenn Hugh so freundlich sein null — —" sagte
Jessie leise.
„Davon ist gar keine Rede, Jessie. Hugh kennt
seine Pflicht so gut wie ich. Von Wollen oder Nicht-
wollen kann also nicht die Rede sein. Ich erwarte ihn
jede Stunde. Mich wundert, daß er noch nicht hier ist.
Späterhin, nach einigen Tagen oder Wochen, kannst
Du ja, um die traurigen Erinnerungen an West-
Hampton-Conrt leichter zu überwinden, nach London
übersiedeln. Mein Haus steht Dir natürlich vollständig
zur Verfügung."
„Ich danke Dir, Onkel."
„Und nun, Jessie," fuhr Simon Jefferson fort, in-
dem er aufstand und nach seinem Hut griff, „will ich
Dich nicht mehr belästigen. Weine Dich aus, mein
Kind, vergiß aber auch nicht, daß noch andere Menschen
auf der Welt sind, die ihre Lebensaufgabe darin sehen,
Dich Deinen Schmerz vergessen zu lassen. Und somit
aus Wiedersehen, Jessie."
Miß Jessie stand nun auch auf und gab ihrem
Onkel die Hand zum Abschied.
„Und was Hugh anbelangt —," begann Simon
wieder, unterbrach sich aber und schloß: „Nun, er wird
ja bald selbst hier fein. Dann wirst Du ja sehen."
Damit ging Mmon fort und ließ seine Nichte allein.
Als er aus dein Portal von Westhampton-Conrt her-
austrat, sah er nach der Uhr. Es war zehn Minuten
nach ein Uhr, noch zwanzig Minuten bis zur Ankunft
des nächsten Londoner Zuges, mit dem sein Sohn ein- ,

Das Vu eh f ü r A l l e.

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treffen konnte. Es war ihm sehr darum zu thun, Hugh
noch persönlich zu sprechen, bevor dieser seiner schönen
Base seinen Beileidsbesuch machte, und Simon beschloß,
die zwanzig Minuten zu einem kleinen Spaziergang
durch den Park von Westhampton-Court zu benutzen.
Er ivar seit langen Jahren nicht mehr hier gewesen.
Sein Bruder hatte cs ihm verboten. Heute zum ersten
Riale ging er in dem Schatten der uralten Steineichen
und Bnchen, aus den sauber gepflegten Kieswegen, die,
in zierlichen Bogen an jeder Lichtung vorüberführend,
so wunderbare Aussichtsplätze auf die weitläufigen An-
lagen boten. Rehe sprangen in flüchtigen Sätzen über
die Lichtungen hinweg und verschwanden im Dunkel
des Waldes, der sich endlos bis hinunter nach den
Steinbrüchen von Westhampton-Court erstreckte. Sein
Bruder Bernard hatte ihm einmal, zur Zeit, als er
noch nicht mit ihm entzweit gewesen war, gesagt, daß
er von dem Ertrag der Steinbrüche seine ganze Wirth-
schast bestreite.
Simon rechnete. Was konnte Westhampton-Court
mit dem herrschaftlichen Park, der Jagd, dem L-chloß,
deir Steinbrüchen werth sein? Dreißigtausend Pfund
unter Brüdern. Dazu mindestens das Dreifache dieser
Summe in Aktien der Nhederei-Kompagnie, deren Di-
rektor.Bernard gewesen war, sein Haus am L-trand in
London, sein Gut in Wales — —
Simon Jefferson vertiefte sich immer mehr in sein
Nechenexempel. Er addirte schon in die Millionen.
Seine Augen bekamen einen schillernden Glanz, sein
Athem ging stoßweise, sein Schritt wurde langsamer,
sein Gang schwerer, nachdenklicher. Da er sich un-
beobachtet wußte, verschwand das Salbungsvolle und
Würdige aus seinen Zügen, und statt dessen warfen
Neid und Habsucht ihre Lichter und Schatten darüber
hin. Warum war es ihm nicht so geglückt'im Leben,
wie seinem Bruder? fragte er sich, wo waren seine
Millionen? Du lieber Gott, Millionen! Er hatte immer
mit Schulden zu kämpfen, bald mit seinen, bald mit
denen seines Sohnes, der ein lockerer Bursche war.
Wie kam es, daß die blinde Göttin ihn so ganz vergessen,
während sie auf seinen Bruder Neichthümer über Reich-
thümer gehäuft hatte?
„Geduld, nur Geduld," murmelte Simon für sich
hin, „man muß das Glück im Leben zu korrigiren
wissen. Nnr Klugheit, und seine Millionen sind —"
Plötzlich störte ihn in seinen: Nachdenken ein junger
Mann, der ihn schon von Weitem anrief: „Vater! Was
zum Henker ist denn mit Dir? Du gehst ja so tiefsinnig
einher, uns weiland König Saul!"
Der junge Mairn kam rasch näher. Er war eiir
echter Londoner Dandy, ein Stutzerchen von höchster
Eleganz, etwas bleichen, blasirten Zügen, und von
einem müden, in's Graue spielenden, rvie verbrauchtem
Teint. Nur seine Augen waren, ganz im Gegensatz
zu denen seiires Vaters, der sie kalt nnd stahlgrau
hatte, von einer lustigen Gutmüthigkeit, von einer sym-
pathischen Bläue. Der etwas sehr spärliche schwarze
Schnurrbart war in Spitzen gedreht. Die einzelnen
Haare schienen wie auf der Haut aufgeklebt zu sein.
Hübsch war also Hugh Jefferson nicht besonders, aber
um seiner Augen willen vergab man ihm Vieles.
„Hugh! Bist Du es?" fragte sein Vater zurück und
reichte ihm die Hand zum Gruß. „Du willst zu Deiner
hübschen Base Jessie, Hugh?"
„Ich gehe zu meiner Base Jessie, Vater, und da-
mit gut."
„Sie ist sehr, sehr hübsch, Hugh. Verstanden?"
sagte Simon wieder mit eigenthüinlicher Betonung.
„Sie ist bleichsüchtig, Vater; sie muß eisenhaltiges
Wasser trinken."
„Du bist ein Esel, Hugh," fuhr sein Vater zornig
auf, „der nicht englisch versteht. Ich sage Dir, es hat
ein Ende mit Deinen dummen Streichen, es ist hohe
Zeit, daß Du einmal einen klugen machst. Bei Gott,
Bursche," fuhr sein Vater immer hitziger und fast
drohend fort, „ich weiß keinen Rath mehr. Wenn Du
mir auch jetzt noch auf Deinem tollen Kops bestehst, so
kannst Du nach Westen gehen. G Verstanden?"
Hugh war durchaus kein Esel. Mit dem kleinen
zierlichen Spazierstocke, den er in der Hand hatte, bohrte
er kleine Löcher in den Kiesweg und sagte endlich ruhig
und überlegt: „Gut, Vater. Ich gehe zu meiner hüb-
schen Base Jessie. Meinethalben mag sie so hübsch sein,
wie die Engel in der Paulskirche. Wenn sie aber nun
nicht so hübsch sein will?"
Auch sein Vater war wieder ruhiger geworden.
„Geh' Du nur zu Deiner hübschen Base Jessie," er-
widerte er, „das klebrige wird sich finden. Du wirst
einige Wochen in Westhampton-Court bleiben. Nütze
sie aus, Hugh, tröste Deine hübsche Base, vertreibe ihr
die Einsamkeit, die Melancholie, und wenn ihr dann
nach London kommt — — Geh', sage ich, geh' zu
Deiner hübschen Base Fessle."

ch Wo io (Geh nach Westen! d h. nach Amerika)
ist eine englische Redensart, mit der man sagen will : „Wan-
dere aus, nimm Hacke und Spaten upd nähre Dich von Dei-
ner Arbeit'!"

Damit wandte sich sein Vater ab nnd schritt nach
der Eisenbahnstation zu.
Hugh ging auch weiter. Wenige Minuten später
trat er durch das große Portal in Westhampton-
Court ein.

3.
Was Lincolnsinn ist, das weiß in London jedes
Kind. In Lincolnsinn wohnen fast lauter Advokaten!
Es liegt gleich hinter dein Justizpalast und ist also eine
Oertlichkeit, wo vorzugsweise Gerechtigkeit gemacht wird.
Seiner Zeit, als noch der ehrenwerthe Mr. James
Finding seine Advokatur in Lincolnsinn betrieb, war
von den Prachtbauten der Neuzeit dort noch nichts zu
sehen. Die Häuser von Lincolnsinn waren fast lauter
alte, gemüthliche, winkelige, baufällige, altersschwache
Gebäude. In den Bureaustuben lag der Staub finger-
dick auf den Aktenstücken, gerade als ob in den Akten
nur von Leichen die Rede gewesen wäre, und nicht von
lebendigen Menschen von Fleisch und Blut, die das
Warten mit der Zeit satt bekommen, besonders das
Warten aus Gerechtigkeit. Selbst an den Fenster-
scheiben des Bureaus von James Finding, die seit
Menschengedenken nicht in Berührung mit einem
Waschlappen gekommen waren, hatten sich Staubthcilchen
zu einer idyllischen Kruste vereinigt, so daß die Sonne,
wenn sie ja einmal die Dunstwolke durchdrang, in der
sich London jahraus jahrein befindet, nur lächerlich
bleiche, schwindsüchtige 'Strahlen in das Bureau hinein-
sandte.
Einer der Schreiber des Advokaten Finding, ein ge-
wisser William Tapperday, ein sanguinischer Gesell, der
bald übermüthig lustig, bald wieder elend traurig und
griesgrämlich in die Welt sah, so daß man nie wußte,
ob man über ihn lachen oder weinen sollte, machte sich
öfter den Spaß, in die staubige, trockene Atmosphäre
des BureauS von James Finding eine Blume mitzu-
bringen. Er beging diese Grausamkeit lediglich um zu
sehen, wie lange sie es aushalten würde. Bis jetzt
hatte er aber noch keine gefunden, die es über zwei
Stunden ausgehalten hätte, ohne zu verdorren und zu
verwelken.
Nach diesen Versuchen schlug dann Tapperday ge-
wöhnlich mit großer Energie aus den Tisch und sagte
prahlerisch: „Und ich habe es nun schon drei Jahre
ausgehalten!"
Er sah aber auch darnach aus! . . .
Einige Tage nach dein Tode Sir Bernard Jesfer-
son's trat dessen Bruder Simon Jefferson in das Bureau
von James Finding. Kaum hatte ihn William Tapper-
day bemerkt, als sich unwillkürlich seine dürre knochige
Faust fest zusammenballte nnd er wild nach einer arm-
seligen Fliege schlug, die zufällig und ahnungslos über
sein Pult lief. Er traf sie aber nicht und fluchte leise
für sich.
„Wollen Sie mich Herrn James Finding anmelden,
junger Herr?" sagte Jefferson würdig und ruhig zu ihm.
Tapperday machte ein Gesicht, als hätte er in einen
Holzapfel gebissen. „Wollen, Sir? Von wollen ist
keine Rede, sondern nur von müssen. Ich werde Sie
anmelden, Sir, weil ich muß, ich bin sozusagen da-
zu da."
Damit ging er stolz wie ein Spanier in das Privat-
bureau Finding's. Verblüfft schaute Simon dem jungen
Manne nach. War der Kerl toll geworden, daß er so
dumme Redensarten machte? Wer war er? Was hatte
er mit ihm zu thun?
Der Rechtsanwalt James Finding war die Regel-
mäßigkeit, die Gesetzmäßigkeit und Ordnung selbst. Jede
Unordnung cvar ihm ein Greuel, und deshalb sagte er
jetzt zu seinem Schreiber in sehr strengen: Toi::
„Tapperday, ich habe zu meinem großen Bedauern
bemerkt, daß Sie es in: Verkehr nut meinen Klienten
an der unbedingt erforderlichen Zuvorkommenheit und
Exaktheit fehle,: lassen. Ich wüßte nicht, was Sie für
eine,: Grund haben könnten, dem sehr ehrenwerthen
Mr. Simon Jefferson in einer — gelinde gesagt,
lächerlichen Weise gegenüber zu treten."
„Hm
„Seien Sie still, Tapperday, dein: ich bu: sicher,
daß Sie irgend eine ungehörige oder mindestens über-
flüssige Bemerkung, wie sie nun, Gott sei's geklagt,
einmal Ihre Spezialität sind, auf der Zunge haben.
Was in aller Welt Habei: Sie dem: immer zu raison-
niren? — Ich bitte mir sehr aus," fuhr der Advokat
strenger fort, „daß Sie nicht vergessen, was Sie sind,
und was ich bin."
„Mr. Finding," entgegnete Tapperday nut einer
Aufregung, die eigentlich schon an und für sich eine
Unverschämtheit war, „seien Sie sicher, daß ich es nie
vergessei: werde. Niemals in meinem Leben: werde ich
die Thatsache vergessen, daß Sie mein Punnzipal waren
und ich Ihr Schreiber bin," sagte Tapperday mit
scharfer Betonung der einzelnen Worte.
Mißbilligend schüttelte Finding den: steifen: Kopf,
der aussah, als ob er aus Holz geschnitzt sei, so glatt,
so regelmäßig, so ordentlich und tadellos sah er aus.
 
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