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Heft 2
Das Buch für Alle
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inmal vier Wochen lang nicht mehr die Aus-
klopfstange vor dem Schlafzimmer sehen, nicht
mehr das Pfeifen der Straßenbahnschienen
hören und nicht mehr den Geruch des Kokos-
laüfers wie eine chronische Prise in der Nase
Herumtragen, das wär' doch so schön!" dachte
sich der Vereinszeichenfabrikant Otto Dorn-
busch und fuhr mit Familie zum Sommer-
frischeln in die Berge. Und da konnte man
aus seinem Erleben mit der Schere ein paar Bilderbogen ausschneiden,
so lustig und so traurig, wie sie jeder Sommerfrischler an Leib und
Seele erfahren kann.
In der Wirtsstube
Beim Aussteigen an der zündholzschachtelkleinen Bahnstation brannte
die Sonne mit solcher Hochglut auf die Rücken der Familie Dornbusch,
daß keines wagte, mit der bloßen Hand die Bremsen an des anderen
Rücken totzuschlagen. Dann kamen über die Spitzen der Berge Wolken,
so groß wie Elefanten. Die brachten Blitze und Donner und Regengüsse,
als ob am himmlischen Schwimmbad oben der Boden durchgebrochen
wäre. Und hörten nimmer auf.
Und die durchgeistigten Sitzungen in der Wirtshausstube begannen und
vertieften sich von Tag zu Tag — wie die Regenwolken und Wasserpfützen.
Papa Dornbusch saß stundenlang vor dem an die Wand genagelten Fahr-
plan aus dem Jahre 1913 und studierte ihn mit solcher Gründlichkeit, daß
er die Reihenfolgen, Kilometerentfernungen und Abfahrtszeiten der Bahn-
stationen noch am Weihnachtsabend vorwärts und zurück auswendig her-
sagen konnte. Seine Gemahlin Barbara schrieb sich am Abreißkalender
alle Küchenzettel ins Poesiealbum ein und roch die Türklinken ab, um zu
erfahren, mit welcher Putzpomade sie poliert waren.
Der kleine Schorschi fing die Fliegen aus der Sauermilch, spielte mit
der Hängelampe Flugzeug, kratzte den Glaserkitt aus den Fensterrahmen
und formte daraus seine Mama. Indes Wasserguß um Wasserguß gegen
die Scheiben flog und bald auch durch die Decke tropfte, bis die Familie
Dornbusch eines Abends nur mehr in Gummischuhen und Regenschirmen
in der Wirtsstube saß und Märchen aus dem Lande ewiger Sonne las.
In dieser Verfassung versprach Herr Dornbusch jenem Dienstboten des
Hauses, der zuerst ein pfannkuchengroßes Stück Himmelsbläue sehen würde,
einen Taler. Siehe da, am folgenden Morgen sahen drei Mägde und zwei
Stallburschen zu gleicher Zeit das gewünschte Stück Blau. Und Herr Dorn-
busch dachte: „Ich hätte doch lieber nichts versprechen sollen — es wäre
auch so blau geworden!" Und er rechnete sich noch aus, wie teuer ihn auf
diese Weise das ganze blaue Himmelszelt gekommen wäre ...
Die erste Bergbesteigung
„Und jetzt los, Kinder! Ran und rauf auf die Berge!" Frau Dornbusch
packte ihr Opernglas, die Hühneraugentinktur, das Regensburger Koch-
buch, den Entfet-
tungsroller und
die „Herzenser-
gießungen eines
Klosterbruders" in
den Rucksack mit
der Fabrikmarke
Chemnitz. Dar-
über legte sie das
halbfertige Sofa-
kissen, um dessen
„Ruhe sanft!" sie
oben einenStrauß
Almrosen direkt
nach der Natur
einsticken wollte.
Papa heftete sich
auf den Bauch die
Landkarte, von
der die Gemahlin
an jeder Weg¬
kreuzung die Jäger-
steige mit dem Stiel
ihres Lorgnons ablas.
An jener Stelle, wo der als Autorität bekannte
Reiseführer den Wasserfall und das dreifache Echo
mit drei Sternen rühmend verzeichnete, rief Papa
die Preise seines Vereinszeichenkatalogs in den
"Felsenspalt, der sie alsbald in dreifacher Höhe
zurückwarf ...
Dann wurden die Pfade schmäler und steiler.
Und obwohl die Strecke noch für Kinderwagen befahrbar war, dachte
Papa Dornbusch an das Anseilen, wie er es auf Titelbildern illustrierter
Zeitungen schon oft erschaut hatte. Und die Gattin Barbara bedauerte,
daß sie die Wäscheleine nicht bei sich hatte.
Wenn zur Rechten oder zur Linken ein schiefer Hang von ihrem Weg ab-
glitt, dann hob Papa den Schirm vor Barbaras Antlitz, damit sie die Tiefe
nicht erschaue und schwindlig werde. Schorschi krabbelte auf allen vieren da-
hin, als wollte er unter das heimatliche Kanapee im Wohnzimmer kriechen.
So kamen sie auf der höchsten Spitze des Berges an, wo in Stein ge-
hauen die erkletterte Höhe sichtbar war. Papa riet auf vier- bis fünf-
tausend Meter. Aber darauf standen nur vierhundertdreizehn Meter über
dem Meere.
„Schwindel! ... Bluff! ..." rief der Gatte, „hier wollen sie unsere
Leistungen herabdrücken! Das ist Höhenschwindel, so schlimm wie Nah-
rungsmittelfälschung ...!"
„Otto, du hast das rechte Wort am rechten Ort gesprochen! Ich schütz'
es auch auf fünftausend! Denn wenn ich die Puste, die ich bis zu unserem
Dachboden verschnaufe, in diese Bergeshöhe teile, dann stimmt unser Baro-
meterstand ...!"
„Und die Luft ist auch dünner geworden! Soll ich an unserem Luftkissen
das Ventil öffnen, damit ich nicht das asthmatische Pfeifen kriege?"
Aber schon pfiff es in Ottos Brustkorb, daß der kleine Schorschi zum
Vater lief in der Meinung, der Vater habe ihn zu sich signalisiert.
Die Burgruine
In der Nähe des Berggipfels lag eine Burgruine, in deren Mauern eine
Kanonenkugel mit der Aufschrift „Schwedengeschoß aus dem Jahre 1641"
steckte. Otto dachte an Schwedenpunsch, und es wurde ihm ganz warm zu-
mute. Die Gattin küßte die Kugel und erlebte bei der Berührung das Ge-
fühl, mitten im Dreißigjährigen Krieg zu stehen und die Stimme Gustav
Adolfs zu hören.
Denn sie konnte ja nicht wissen, daß der Verschönerungsverein dieses
Geschoß zur Hebung des Fremdenverkehrs in die Mauer einsetzen ließ,
daß es jedes Jahr von Waffensammlern geklaut wird und immer neu er-
setzt werden muß.
Und beim Abstieg war Frau Dornbusch von dieser Kanonenkugel noch
derart begeistert, daß sie beschloß, statt der Alpenrosen lauter Geschosse
nach diesem Vorbild um ihr Sofakissen „Ruhe sanft!" zu sticken ...
Heft 2
Das Buch für Alle
c?/7? ^7-26/0zrzr/e/- A/Z/eT-So^eT? e,07? 67-7?// ^o/eT'/Q^/eT' / M'/ZFe/^^^eT? r-e>77 S/<?^
inmal vier Wochen lang nicht mehr die Aus-
klopfstange vor dem Schlafzimmer sehen, nicht
mehr das Pfeifen der Straßenbahnschienen
hören und nicht mehr den Geruch des Kokos-
laüfers wie eine chronische Prise in der Nase
Herumtragen, das wär' doch so schön!" dachte
sich der Vereinszeichenfabrikant Otto Dorn-
busch und fuhr mit Familie zum Sommer-
frischeln in die Berge. Und da konnte man
aus seinem Erleben mit der Schere ein paar Bilderbogen ausschneiden,
so lustig und so traurig, wie sie jeder Sommerfrischler an Leib und
Seele erfahren kann.
In der Wirtsstube
Beim Aussteigen an der zündholzschachtelkleinen Bahnstation brannte
die Sonne mit solcher Hochglut auf die Rücken der Familie Dornbusch,
daß keines wagte, mit der bloßen Hand die Bremsen an des anderen
Rücken totzuschlagen. Dann kamen über die Spitzen der Berge Wolken,
so groß wie Elefanten. Die brachten Blitze und Donner und Regengüsse,
als ob am himmlischen Schwimmbad oben der Boden durchgebrochen
wäre. Und hörten nimmer auf.
Und die durchgeistigten Sitzungen in der Wirtshausstube begannen und
vertieften sich von Tag zu Tag — wie die Regenwolken und Wasserpfützen.
Papa Dornbusch saß stundenlang vor dem an die Wand genagelten Fahr-
plan aus dem Jahre 1913 und studierte ihn mit solcher Gründlichkeit, daß
er die Reihenfolgen, Kilometerentfernungen und Abfahrtszeiten der Bahn-
stationen noch am Weihnachtsabend vorwärts und zurück auswendig her-
sagen konnte. Seine Gemahlin Barbara schrieb sich am Abreißkalender
alle Küchenzettel ins Poesiealbum ein und roch die Türklinken ab, um zu
erfahren, mit welcher Putzpomade sie poliert waren.
Der kleine Schorschi fing die Fliegen aus der Sauermilch, spielte mit
der Hängelampe Flugzeug, kratzte den Glaserkitt aus den Fensterrahmen
und formte daraus seine Mama. Indes Wasserguß um Wasserguß gegen
die Scheiben flog und bald auch durch die Decke tropfte, bis die Familie
Dornbusch eines Abends nur mehr in Gummischuhen und Regenschirmen
in der Wirtsstube saß und Märchen aus dem Lande ewiger Sonne las.
In dieser Verfassung versprach Herr Dornbusch jenem Dienstboten des
Hauses, der zuerst ein pfannkuchengroßes Stück Himmelsbläue sehen würde,
einen Taler. Siehe da, am folgenden Morgen sahen drei Mägde und zwei
Stallburschen zu gleicher Zeit das gewünschte Stück Blau. Und Herr Dorn-
busch dachte: „Ich hätte doch lieber nichts versprechen sollen — es wäre
auch so blau geworden!" Und er rechnete sich noch aus, wie teuer ihn auf
diese Weise das ganze blaue Himmelszelt gekommen wäre ...
Die erste Bergbesteigung
„Und jetzt los, Kinder! Ran und rauf auf die Berge!" Frau Dornbusch
packte ihr Opernglas, die Hühneraugentinktur, das Regensburger Koch-
buch, den Entfet-
tungsroller und
die „Herzenser-
gießungen eines
Klosterbruders" in
den Rucksack mit
der Fabrikmarke
Chemnitz. Dar-
über legte sie das
halbfertige Sofa-
kissen, um dessen
„Ruhe sanft!" sie
oben einenStrauß
Almrosen direkt
nach der Natur
einsticken wollte.
Papa heftete sich
auf den Bauch die
Landkarte, von
der die Gemahlin
an jeder Weg¬
kreuzung die Jäger-
steige mit dem Stiel
ihres Lorgnons ablas.
An jener Stelle, wo der als Autorität bekannte
Reiseführer den Wasserfall und das dreifache Echo
mit drei Sternen rühmend verzeichnete, rief Papa
die Preise seines Vereinszeichenkatalogs in den
"Felsenspalt, der sie alsbald in dreifacher Höhe
zurückwarf ...
Dann wurden die Pfade schmäler und steiler.
Und obwohl die Strecke noch für Kinderwagen befahrbar war, dachte
Papa Dornbusch an das Anseilen, wie er es auf Titelbildern illustrierter
Zeitungen schon oft erschaut hatte. Und die Gattin Barbara bedauerte,
daß sie die Wäscheleine nicht bei sich hatte.
Wenn zur Rechten oder zur Linken ein schiefer Hang von ihrem Weg ab-
glitt, dann hob Papa den Schirm vor Barbaras Antlitz, damit sie die Tiefe
nicht erschaue und schwindlig werde. Schorschi krabbelte auf allen vieren da-
hin, als wollte er unter das heimatliche Kanapee im Wohnzimmer kriechen.
So kamen sie auf der höchsten Spitze des Berges an, wo in Stein ge-
hauen die erkletterte Höhe sichtbar war. Papa riet auf vier- bis fünf-
tausend Meter. Aber darauf standen nur vierhundertdreizehn Meter über
dem Meere.
„Schwindel! ... Bluff! ..." rief der Gatte, „hier wollen sie unsere
Leistungen herabdrücken! Das ist Höhenschwindel, so schlimm wie Nah-
rungsmittelfälschung ...!"
„Otto, du hast das rechte Wort am rechten Ort gesprochen! Ich schütz'
es auch auf fünftausend! Denn wenn ich die Puste, die ich bis zu unserem
Dachboden verschnaufe, in diese Bergeshöhe teile, dann stimmt unser Baro-
meterstand ...!"
„Und die Luft ist auch dünner geworden! Soll ich an unserem Luftkissen
das Ventil öffnen, damit ich nicht das asthmatische Pfeifen kriege?"
Aber schon pfiff es in Ottos Brustkorb, daß der kleine Schorschi zum
Vater lief in der Meinung, der Vater habe ihn zu sich signalisiert.
Die Burgruine
In der Nähe des Berggipfels lag eine Burgruine, in deren Mauern eine
Kanonenkugel mit der Aufschrift „Schwedengeschoß aus dem Jahre 1641"
steckte. Otto dachte an Schwedenpunsch, und es wurde ihm ganz warm zu-
mute. Die Gattin küßte die Kugel und erlebte bei der Berührung das Ge-
fühl, mitten im Dreißigjährigen Krieg zu stehen und die Stimme Gustav
Adolfs zu hören.
Denn sie konnte ja nicht wissen, daß der Verschönerungsverein dieses
Geschoß zur Hebung des Fremdenverkehrs in die Mauer einsetzen ließ,
daß es jedes Jahr von Waffensammlern geklaut wird und immer neu er-
setzt werden muß.
Und beim Abstieg war Frau Dornbusch von dieser Kanonenkugel noch
derart begeistert, daß sie beschloß, statt der Alpenrosen lauter Geschosse
nach diesem Vorbild um ihr Sofakissen „Ruhe sanft!" zu sticken ...