Er sprach gelassen. Langsam schritt er an Knecht und Magd
vorüber zur Stube. Da lag in seiner Wiege in tiefem Schlaf
Enno. Finster starrte er auf den Buben.
„Rein wär' mein Haus? Js nich etwas von ihr nachgeblieben.
Etwas, das wachsen wird und werden wie sie — falsch wie Moor-
schlick? — Etwas von ihr — etwas von mir auch — oder — —
oder —"
Er beugte sich über die Wiege, spähte in des Kindes Zügen nach
einer Ähnlichkeit, einer Ähnlichkeit mit dem feinen Kerl mit
schwarzen Haaren und schwarzen Augen. — — Ennos Haare
waren blond, seine Augen blau, indessen —
Da schob ein kräftiger Arm ihn zur Seite. Wöbke drängte sich
zwischen den Bauern und seinen Sohn.
„SchlafendeKinder darf man mit so bösen Augen nich ankucken,"
sagte die Magd.
Und sie faßte mit entschlossenem Griff die Wiege mit dem
Knaben und trug sie hinüber zu sich in ihre Kammer.
Wilm ließ es geschehen. Auf den nächsten Stuhl warf er sich
neben dem zur Seite geschleuderten Tisch, stützte den Ellbogen
darauf und den Kopf in die Hand. So saß er Stunde um Stunde,
stumm, bewegungslos, während die Hängelampe trüber und
trüber brannte und endlich mit leisem Knistern erlosch. Noch als
der Tag dämmerte, saß er so. Er merkte das Rinnen der Stunden
nicht, er dachte nicht, überlegte nicht. Nicht zum Morgenmahl
stand er auf und nicht zur Arbeit. Er hörte auf keinen Ruf, beant-
wortete keine Frage. Wozu? Wozu noch irgend ein Ding? Nach
dem, was geschehen war, war's aus für ihn. Da stand eine Mauer
zwischen ihm und der Welt. Nie wieder würde er über sie Hinweg-
kommen zu den lebendigen Menschen.
Unterdessen verbreitete sich die Kunde von dem Streit auf dem
Vierbeinige Milchhandlungen
Auf Malta wird die Milch direkt vor dem Käufer gemolken. Die Ziegen
tragen Maulkörbe, damit sie sich nicht gegenseitig „melken". (Atlantic)
Potthof und Ginas Verschwinden in der Kolonie. Vom ersten
Tagesstrahl an hatten Wöbke und Marlen Umschau gehalten nach
ihrer Frau. Lüers, der Knecht, zog von Gehöft zu Gehöft, um
zu erkunden, ob die Bäuerin Zuflucht dort gesucht habe.
Niemand wußte von ihr.
Vorsteher Puvogel kam auf den Potthos und der alte Clüoer,
und beide kehrten kopfschüttelnd auf der Stubenschwelle wieder
um, als sie den Bauern in seiner Verstörtheit sahen. Dem konnte
zurzeit keines Freundes Trostwort helfen.
Gegen zehn Uhr kam auch Hinnerk Potter. Der kehrte nicht
um. Er war ja der Bruder, der Blutsverwandte.
„Es is mich leid, Wilm," begann er, „daß es gekommen is, wie
wir das immer erwartend gewesen sind, mein' Frau un ich —"
Er kam nicht weiter.
Wilm sprang vom Stuhl auf, riß den Schrank auf, nahm
fünfzig Mark aus der Lade, warf sie vor seinen Bruder auf den
Tisch.
„Da hast! — Da hast dein Wettgeld! Dein Blutgeld! — Un
nu aus mein' Augen! Weg! Weg! Weg!"
„Es is nich fein, daß du einen treuen Warner dein Unglück ent-
gelten läßt," widersprach Hinnerk.
Aber Wöbke faßte ihn mitten in der Rede beim Kittel und zog
ihn heraus.
„Hast dich genug gefreut an dem Jammer, den du angestiftet
hast. Geh nu."
Gegen Mittag kam Timm Clüver, der junge Ehemann, auf den
Potthof. Zögernd trat er über die Schwelle, ehrliche Trauer in
seinem wenig beweglichen Gesicht. Er war ins Moor hinaus-
gegangen, um die Hütte zu richten, denn in der nächsten Woche
wollten Clüvers mit dem Torfstich beginnen. Und an dem Fleck,
wo das Moor Menschen fraß, hatte er einen Frauenschuh und
ein Tuch gefunden. Und er meinte — er meinte-
Verstummend wies er den Schuh, das Tuch.
Wöbke schrie laut auf.
„Bauer! Bauer! — So hart wirst gestraft für deine sündhafte
Jachheit! In ihrer Todesangst is dein' Eina in den Moorschlick
geraten. Nich mal ein christlich Grab hat sie gefunden. Oh, mein'
Bäuerin! — mein' arme Bäuerin!"
Wilm sah auf das Tuch, auf den Schuh.
„Gott hat gerichtet," sagte er dumpf. „Es is gut, wie es is."
Und allmählich kam Leben in ihn, ein fieberhaft krankes Leben.
Aus Hof und Haus merzte er aus, was Gina gehört hatte, was
an Gina gemahnen konnte. All ihre Kleider warf er Wöbke zu.
„Schenk' sie weg oder schmeiß sie ins Feuer. Nur fort, fort,
aus meinen Augen!"
In die Herdglut warf er das Tuch, an dem sie gestickt hatte,
ihre Schere, ihren Fingerhut, das Gesangbuch, aus dem sie ge-
betet hatte. Die Bilder, die sie liebgehabt hatte, riß er von der
Wand, zertrat, verbrannte sie. Die Blumen, die sie gepflegt hatte,
warf er auf den Misthaufen.
„Rein muß mein Haus werden! Rein von ihrem Schmutz!"
„Bauer," sagte Wöbke, „ich hab' dich auf meinen Armen ge-
tragen, ich hab' deiner seligen Mutter beigestanden in ihrer letzten
schweren Stunde, und ich bin eine altersschwache Person ohne Ver-
wandte und Heimat.-Aber wär' es nicht um deiner Gina ihr
Kind — ich blieb' nicht eine Stunde länger in deinem Dienst.
Das sollst du wissen."
„Halt das, wie du willst," antwortete Wilm. „Ich frag' nach
keinem Menschen mehr was nach."
„Aber ich frag' was nach dem unschuldigen, verlassenen Waisen-
kind, von dem sein schlecht beratener Vadder nir wissen will. Und
darum bleib' ich."
/^L ina war aus ihres Mannes Hause fortgestürmt in die Nacht, in
vO/der die Eisriesen des Winters noch ihren alten Kampf kämpf-
ten mit den Geistern des Lenzes, einen Kampf, kaum bemerkt zwi-
schen den Steinmauern der Städte, wilder in den Bergen, grauen-
voll auf der weiten Fläche des Moores, wo die Windsbraut un-
gehemmt über die baumlose Endlosigkeit wirbelt, jauchzt und
vorüber zur Stube. Da lag in seiner Wiege in tiefem Schlaf
Enno. Finster starrte er auf den Buben.
„Rein wär' mein Haus? Js nich etwas von ihr nachgeblieben.
Etwas, das wachsen wird und werden wie sie — falsch wie Moor-
schlick? — Etwas von ihr — etwas von mir auch — oder — —
oder —"
Er beugte sich über die Wiege, spähte in des Kindes Zügen nach
einer Ähnlichkeit, einer Ähnlichkeit mit dem feinen Kerl mit
schwarzen Haaren und schwarzen Augen. — — Ennos Haare
waren blond, seine Augen blau, indessen —
Da schob ein kräftiger Arm ihn zur Seite. Wöbke drängte sich
zwischen den Bauern und seinen Sohn.
„SchlafendeKinder darf man mit so bösen Augen nich ankucken,"
sagte die Magd.
Und sie faßte mit entschlossenem Griff die Wiege mit dem
Knaben und trug sie hinüber zu sich in ihre Kammer.
Wilm ließ es geschehen. Auf den nächsten Stuhl warf er sich
neben dem zur Seite geschleuderten Tisch, stützte den Ellbogen
darauf und den Kopf in die Hand. So saß er Stunde um Stunde,
stumm, bewegungslos, während die Hängelampe trüber und
trüber brannte und endlich mit leisem Knistern erlosch. Noch als
der Tag dämmerte, saß er so. Er merkte das Rinnen der Stunden
nicht, er dachte nicht, überlegte nicht. Nicht zum Morgenmahl
stand er auf und nicht zur Arbeit. Er hörte auf keinen Ruf, beant-
wortete keine Frage. Wozu? Wozu noch irgend ein Ding? Nach
dem, was geschehen war, war's aus für ihn. Da stand eine Mauer
zwischen ihm und der Welt. Nie wieder würde er über sie Hinweg-
kommen zu den lebendigen Menschen.
Unterdessen verbreitete sich die Kunde von dem Streit auf dem
Vierbeinige Milchhandlungen
Auf Malta wird die Milch direkt vor dem Käufer gemolken. Die Ziegen
tragen Maulkörbe, damit sie sich nicht gegenseitig „melken". (Atlantic)
Potthof und Ginas Verschwinden in der Kolonie. Vom ersten
Tagesstrahl an hatten Wöbke und Marlen Umschau gehalten nach
ihrer Frau. Lüers, der Knecht, zog von Gehöft zu Gehöft, um
zu erkunden, ob die Bäuerin Zuflucht dort gesucht habe.
Niemand wußte von ihr.
Vorsteher Puvogel kam auf den Potthos und der alte Clüoer,
und beide kehrten kopfschüttelnd auf der Stubenschwelle wieder
um, als sie den Bauern in seiner Verstörtheit sahen. Dem konnte
zurzeit keines Freundes Trostwort helfen.
Gegen zehn Uhr kam auch Hinnerk Potter. Der kehrte nicht
um. Er war ja der Bruder, der Blutsverwandte.
„Es is mich leid, Wilm," begann er, „daß es gekommen is, wie
wir das immer erwartend gewesen sind, mein' Frau un ich —"
Er kam nicht weiter.
Wilm sprang vom Stuhl auf, riß den Schrank auf, nahm
fünfzig Mark aus der Lade, warf sie vor seinen Bruder auf den
Tisch.
„Da hast! — Da hast dein Wettgeld! Dein Blutgeld! — Un
nu aus mein' Augen! Weg! Weg! Weg!"
„Es is nich fein, daß du einen treuen Warner dein Unglück ent-
gelten läßt," widersprach Hinnerk.
Aber Wöbke faßte ihn mitten in der Rede beim Kittel und zog
ihn heraus.
„Hast dich genug gefreut an dem Jammer, den du angestiftet
hast. Geh nu."
Gegen Mittag kam Timm Clüver, der junge Ehemann, auf den
Potthof. Zögernd trat er über die Schwelle, ehrliche Trauer in
seinem wenig beweglichen Gesicht. Er war ins Moor hinaus-
gegangen, um die Hütte zu richten, denn in der nächsten Woche
wollten Clüvers mit dem Torfstich beginnen. Und an dem Fleck,
wo das Moor Menschen fraß, hatte er einen Frauenschuh und
ein Tuch gefunden. Und er meinte — er meinte-
Verstummend wies er den Schuh, das Tuch.
Wöbke schrie laut auf.
„Bauer! Bauer! — So hart wirst gestraft für deine sündhafte
Jachheit! In ihrer Todesangst is dein' Eina in den Moorschlick
geraten. Nich mal ein christlich Grab hat sie gefunden. Oh, mein'
Bäuerin! — mein' arme Bäuerin!"
Wilm sah auf das Tuch, auf den Schuh.
„Gott hat gerichtet," sagte er dumpf. „Es is gut, wie es is."
Und allmählich kam Leben in ihn, ein fieberhaft krankes Leben.
Aus Hof und Haus merzte er aus, was Gina gehört hatte, was
an Gina gemahnen konnte. All ihre Kleider warf er Wöbke zu.
„Schenk' sie weg oder schmeiß sie ins Feuer. Nur fort, fort,
aus meinen Augen!"
In die Herdglut warf er das Tuch, an dem sie gestickt hatte,
ihre Schere, ihren Fingerhut, das Gesangbuch, aus dem sie ge-
betet hatte. Die Bilder, die sie liebgehabt hatte, riß er von der
Wand, zertrat, verbrannte sie. Die Blumen, die sie gepflegt hatte,
warf er auf den Misthaufen.
„Rein muß mein Haus werden! Rein von ihrem Schmutz!"
„Bauer," sagte Wöbke, „ich hab' dich auf meinen Armen ge-
tragen, ich hab' deiner seligen Mutter beigestanden in ihrer letzten
schweren Stunde, und ich bin eine altersschwache Person ohne Ver-
wandte und Heimat.-Aber wär' es nicht um deiner Gina ihr
Kind — ich blieb' nicht eine Stunde länger in deinem Dienst.
Das sollst du wissen."
„Halt das, wie du willst," antwortete Wilm. „Ich frag' nach
keinem Menschen mehr was nach."
„Aber ich frag' was nach dem unschuldigen, verlassenen Waisen-
kind, von dem sein schlecht beratener Vadder nir wissen will. Und
darum bleib' ich."
/^L ina war aus ihres Mannes Hause fortgestürmt in die Nacht, in
vO/der die Eisriesen des Winters noch ihren alten Kampf kämpf-
ten mit den Geistern des Lenzes, einen Kampf, kaum bemerkt zwi-
schen den Steinmauern der Städte, wilder in den Bergen, grauen-
voll auf der weiten Fläche des Moores, wo die Windsbraut un-
gehemmt über die baumlose Endlosigkeit wirbelt, jauchzt und