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Heft Z

Das Buch für Alle

57


Bei Sonnenuntergang über den Wolken


mitander kämpften. Spät erst war Ian Rodekamp heimgekehrt
von dem Klinkerweg, stundenweit weg, an dessen Ausbesserung
er arbeitete. Ihn ein Handwerk erlernen zu lassen, dazu hatte
der Mutter Verdienst nicht ausgereicht. Er mußte, sobald er nur
die Kinderschuhe auszog, Erwerb suchen, wo er ihn fand.
Trinalheid hatte die Abendgrütze für ihren Sohn auf einem
Dreifuß über dem Feuerloch warm gestellt. Spinnend erwartete
sie ihn — eine hagere Frau mit tiefen Kummerfurchen im Gesicht,
aber aus den vielen Fältchen, in die sie eingebettet lagen, schauten
die Augen gütig und verstehend hervor. Der Raum um sie her
erschien ärmlich, aber sauber wie ein Spielzeug. Von torfrauch-
geschwärzten Brettern glänzten blank wie Silber sechs Zinn-
teller — der einzige aus dem Brand des Bauernhofes gerettete
Schatz. Wohlgeordnet hingen Töpfe und Geräte an den Wänden.
Im Hintergrund war ein Verschlag abgeschoren für die Ziege,
ein paar Hühner hockten schlafend auf ihren Stangen. In die
eine Wand war ein Bett eingelassen, Jans Schlafstätte. Die
Mutter schlief in der kleinen Stube linker Hand. Eine winzige
Kammer gab's noch neben dieser Stube. Sonst enthielt die Hütte
außer dem Heuboden keinen Raum.
DieHeppstedterKirchenuhr hatte die neunte Stunde gebrummt,
als endlich die Gartenpforte klang und triefend von Regen
Jan Rodekamp über die Schwelle trat — ein schlanker, rassiger
Bursch mit schmalem Friesenkopf.
„'n Abend, Mudder."
3. 1928

„Jung, Jung! Tropfst ja wie 'n Stauwehr! Ich hab' dir
trocken Zeug all zurechtgekriegt. Flink herunter mit deiner
durchweichten Kleedasche! Gott bewahr' uns! Was für 'n Un-
wetter is dies!"
Jan wechselte rasch seine Kleidung. Dann aß er. Er sprach kein
Wort dabei.
Trinalheid wunderte sich.
„Was is mit dir, Jung? Tut dir was weh?"
„Nee."
„Oder hast einen Verdruß gehabt?"
„Keinen von heute erst. — Mudder, ich muß dir was
sagen. — All lang trag' ich's mit mir herum. Es wird dich schwer
ankommen. Darum hab' ich geschwiegen und geschwiegen — und
bin mit mir zu Rat gegangen — einmal und noch mal — und
immer wieder. Aber da is kein anderer Rat. — — Mudder —
ich muß fort."
„Fort?" Trinalheid verstand nicht gleich.
„Ja, fort! Fort aus Heppstedt! Fort aus dem Lande! — Fort
übers Wasser."
Einen Augenblick war's totenstill. Nur die Kuckucksuhr an
der Wand tickte. Frau Rodekamp meinte das jagende Pochen
ihres Herzens zu hören.
„So'n Herzeleid könntest deiner alten Mudder antun, Jan?"
fragte sie endlich mit zitternder Stimme.
Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar.
 
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