Das Buch für Alle
Heft 4
„Uns Zigeunern zerbricht er nicht die Zunge. In deiner Sprache
heißt er Wilhelm, und wir sagen zu ihm: Wilhelm der Eiserne."
„Der Eiserne? — Ja, das mag woll auf ihn passen."
Wohlgefällig sah erdemMannenach,wie ermitderHaltung eines
Fürsten seinen vierbeinigen Gefährten zurück zum Wagen steuerte.
Aber schon gab's andere Augenweide. An der Hand des
Zigeunerburschen, der Wilm das bejahrte Pferd aufschwatzen
wollte, trat eine junge Dirne auf den Plan, im kurzen, roten
Röckchen, mit flitterbesetztem Samtmieder und brennendrotem
Kopftuch. Sie mochte kaum siebzehn Jahre alt sein, und was
ihr Gewand an Körperformen sehen und erraten ließ, war fein
und anmutig, aber aller Blicke hefteten sich in Überraschung auf
ihr Gesicht, das mit seiner warmen Olivenfarbe, dem klassischen
Schnitt seiner Züge und den in feurigstem Leben aus diesem
Statuengesicht hervorsprühenden schwarzen Augen die Moor-
leute zu staunender Bewunderung hinriß.
Die Arme auf der Brust kreuzend, verneigte die Dirne sich.
Dann nahm sie aus den Händen ihres Begleiters die dünne
Stange, die Seiltänzer zur Bewahrung des Gleichgewichts
benutzen, und während der Bursch die Fiedel zu streichen begann,
stieg sie leichtfüßig die Sprossen zum Seil hinauf. In ihren
weißen Seidenschuhen schritt sie mit der Sicherheit einer Nacht-
wandlerin darauf vorwärts und rückwärts, wandte sich, verneigte
sich, warf die Stange zu Boden, ergriff das Tamburin, das der
Bursch ihr reichte, und begann einen phantastischen Tanz,
während dessen den Feinnervigen unter den Zuschauern der
Atem stockte und die künstlerisch Empfindenden ihr Grauen ver-
gaßen vor Entzücken über die wunderbar plastischen Bewegungen
des jungen, geschmeidigen Körpers. Viel zu früh für die Zu-
schauer stieg sie herab. Wilm Potter stand wie angewachsen.
Diesmal legte er eine ganze Mark auf den Teller.
„Ich merk' wohl, Timm," sagte er zu dem jungen Clüver, der
neben ihm stand, „das sind Verrichtungen, die schaffen nichts,
was man mit Händen greifen kann, und mach en doch ein Menschen-
herz hell wie der liebe Sonnenschein."
Timm lachte. „Kuriose Einfälle hast. Ich hab' nichts bemerkt
als eine ganz gemeine Taterndern, die für'n paar Pfennige
ihren Hals riskiert. Schwach is mir geworden vom Zugucken.
Komm, laß uns einen trinken."
Wilm folgte seinem Genossen in die Schenke. Aber es war ein
Feuerfunke in sein schwerflüssiges Blut gefallen. Eine ziellose
Aufgeregtheit trieb ihn um. War's altes Leid? War's neue Lust?
Gegen seine schweigsame Art begann er zu schwatzen, Geschichten
zu erzählen. Er sprach gut und witzig in den seltenen Stunden,
in denen der Drang zu reden über ihn kam. An seinem Tisch
drängten sich die Moorleute.
„Dieser Wilm Potter! Konnte so fidel sein! — Und nicht sechs
Wochen waren vergangen, seit seine Frau ihm im Moor ver-
schwunden war! — Fir war er damit fertig geworden. — Ein
famoser Kerl!" (Fortsetzung folgt)
Aekorde und Extreme im Naturreich
Von fritz Groißmayr, Direktor der Wetter- und Sonnenwarte St. Viasien
ekorde erregen stets die Aufmerksamkeit weitester Kreise, besonders
solche auf dem Gebiete des Sportes und der Technik. Wenig be-
kannt sind aber die Extreme im Naturreich, so daß gerade eine kleine
Zusammenstellung nicht überflüssig und für manchen von Wert sein
dürfte.
Beginnen wir mit der Tierwelt, so finden wir als gewaltigsten Ver-
treter den Walfisch, dessen Gewicht bis zu 16 Tonnen beträgt. Das Gegen-
stück zu diesem Ungetüm ist der erst bei tausendfacher Vergrößerung im
Mikroskop sichtbare Grippebazillus. Aber wie harmlos ist der erstere im
Vergleiche zu seinem winzigen Gegenstück. Das lauteste Tier ist der Glocken-
vogel. Im Pflanzenreich gilt als „höchster" Vertreter der australische
Gummibaum, dessen Höhe bis zu 200 Meter beträgt. Hinsichtlich des
Umfangs schlägt jedoch der afrikanische Baobab- oder Affenbrotbaum
mit 20 bis 25 Meter alle Rekorde. Von allen Weltmeeren ist der Stille
Ozean nicht nur das größte, sondern es weist auch mit 10430 Meter die
größte Tiefe auf. Von den Binnenseen ist das Kaspische Meer das flächen-
größte, die tiefste Stelle findet sich jedoch mit mehr als 1400 Meter im
Baikalsee. Von den Strömen ist der Nil mit 5900 Kilometer der längste,
die größte Stromtiefe findet sich im Unterlaufe des Kongo mit 300 Meter.
Der breiteste Strom ist der Amazonenstrom mit 80 bis 83 Kilometer.
Der höchste Berg ist der Everest mit 8840 Meter, die größte Insel
Australien. Der hellste Stern ist der Sirius.
Von besonderem Interesse sind die klimatischen Extreme, greifen sie
doch unmittelbar in das Leben und das Wirken des Menschen ein. Dies
gilt vornehmlich für die Temperatur, deren Spielraum auf der Erdober-
fläche fast 130 Grad erreicht. Azizia, ein unbedeutendes Arabernest, 40 Kilo-
meter südlich Tripolis, erlangte durch seinen Hitzerekord mit 58,8 Grad
Celsius am 13. September 1922 Weltruf. Das ist die bisher höchste
Tagestemperatur. Das höchste Temperaturjahresmittel hat aber Massau
am Roten Meere mit 30,2 Grad; die höchste Monatstemperatur hat
hinwiederum das Todestal in Kalifornien mit einem Julimittel von
39 Grad. Das Gegenstück zu diesen „Bratöfen" ist der nordostsibirische
Kältepol, der Ort Werchojansk, wo bis zu 70 Grad Celsius Kälte ge-
messen wurden. Die mittlere Januartemperatur dieses Kältepols be-
trägt — 51,2 Grad Celsius. Das tiefste Jahresmittel mit — 25,8 fand
Amundsen in der Antarktis. Der regenreichste Ort unserer Mutter Erde
ist Cherapoonji in den Khassia Hills in Assam, woselbst die mittlere jähr-
liche Niederschlagshöhe sich auf 12^ Meter, also das Zwanzigfache wie
in Deutschland, beläuft. Im Jahre 1861 wurden sogar 23 Meter ge-
messen. Baguio auf den Philippinen hatte die größte Regenmenge inner-
halb 24 Stunden mit 1168 Millimeter. Das trockene Gegenstück ist der
Ort Jquique am kalten Perustrom an der Westküste Südamerikas mit
einer jährlichen Niederschlagssumme von nur 5 Millimeter. Welch ge-
waltiger Gegensatz! Der heiterste Ort ist Husseinabad in Seistan mit nur
5 Prozent Bewölkung, die trübste Gegend ist ein Küstenstrich am Weißen
Meer mit 88 Prozent. Die größte Anzahl Regentage hat die Insel Ja-
luit in der Südsee mit 336 Niederschlagstagen. Die meisten Gewitter,
etwa 214 im Jahr, toben sich auf den Hochflächen Abessiniens aus. Der
gewaltigste Orkan war wohl der Manilataifun am 20. Oktober 1882, wo-
bei das Anemometer eine Windstärke von 54 Sekundenmeter anzeigte,
ein noch stärkerer Stoß entführte das Instrument und legte die auf-
blühende Stadt in Trümmer. Von allen atmosphärischen Katastrophen
forderte die Sturmflut des Jahres 1767 an der Mündung des Hugli die
meisten Opfer. 100000 Menschen wurden von den entfesselten Elementen,
den Wogen des Indischen Ozeans, verschlungen.
Diese Zusammenstellung ließe sich noch weiter fortführen, denn un-
erschöpflich ist die Natur; ihre geheimnisvollen, unergründlichen Kräfte
rüsten stets zu neuen Rekorden.