Heft 4
Das Buch für Alle
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würden's sich überlegen, aufs Geratewohl zu ihm hereinzutnallen. Der
Erfolg wäre leicht nicht der erwünschte gewesen. Frenchy lieh seine Augen
abschätzend über die Kisten gleiten, auf und hinter denen er sich verschanzt
hatte. Wieviel des hübschen, kitzligen Zeugs da wohl auf einem Haufen
beisammen sein mochte? Tausend, zweitausend Pfund? Konnte stimmen.
Wenn die nun auf einmal hochgingen? Das würde eine Leichenfeier
geben, wie sie seiner würdig war! Und ehe er sich fangen ließ, um dann
zu baumeln, ehe er, der der Polizei in fast allen Großstädten der Union
ein Schnippchen geschlagen hatte, sich von diesen dämlichen Westland-
tölpeln beim Genick nehmen ließ, da sollte denn doch lieber ein Feuer-
werk losgehen, das ihn an den Mond beförderte, gleichzeitig aber auch wo-
möglich den ganzen Berg ins Rutschen brachte mit allem, was drauf und
dran war. Denn wenn man es so bedenkt, so ist es gewiß keine Kleinigkeit,
— so annähernd eine Tonne Dynamit!
Ob sie ihn nun wirklich durch Hunger und Durst zum Äußersten treiben
wollten? Ob sie tatsächlich glaubten, er würde so kindisch sein und die
Hände hochhalten: „Da bin ich, nehmt mich, macht mir den Prozeß,
hängt mich"? Sie kannten doch sein Ultimatum durch den dicken Lager-
meister des Schuppens, den er gestern mit vorgehaltenem Revolver von
seinem Posten verjagt hatte: freier Abzug und drei Tage Vorsprung.
Auf Ehrenwort. Sonst — kamen die unabsehbaren Folgen auf ihr Haupt!
Aber die Sonne war untergegangen, war wieder aufgegangen und
begann, zum zweiten Male sich zu senken, seitdem er hier eingeschlossen
lag. Inzwischen waren auch die Soldaten gekommen. Und aus dem Lager
der Gegner immer noch nichts zu hören. Nun mußte bald etwas ge-
schehen. Hunger und Müdigkeit empfand er zwar nicht im geringsten.
Aber Durst! Entsetzlichen Durst hatte er. Die Zunge lag ihm wie ein
Stück Blei im Munde. In den Ohren klang und sauste es, und feurige
Ringe begannen, vor seinen fieberheißen Augen zu kreisen. Unbegreiflich
langsam schlich die Zeit. Aber immer wütender wurde das jede andere
Empfindung zurückdrängende Durstgefühl. Wie lange er sich wohl noch
so quälen mußte, bevor er, von der Verzweiflung gepackt, den Mut zum
Äußersten fand?
Die Sonne näherte sich schon dem Kamme des Gebirges, da löste sich
vor der Gruppe auf dem Felsvorsprung die Gestalt eines Mannes,
der eiligen, unbefangenen Schrittes auf das Sprengstofflager zu-
ging. Wie elektrisiert fuhr Frenchy auf und starrte dem Kommen-
den entgegen. Sie wollten also doch unterhandeln! Nun, Gott sei
Dank! Es war an der Zeit! Aber dann stieß er einen Fluch aus. In
dem mickrigen, mittelgroßen, abgerissenen Menschen mit dem sträh-
nigen, rötlichen Bart hatte er „den blödsinnigen Jerry" erkannt.
Einen armen Narren, der, niemand wußte woher, vor einiger Zeit
im Lager aufgetaucht war und mit Knöpfen, Messern, Blech-
löffeln und ähnlichen kleinen Bedarfsgegenständen der Arbeiter
einen kümmerlichen Handel trieb. Des Abends pflegte er in der
Kantine zu sitzen. Und da er stets eine gutgefüllte Flasche bei sich
führte, aus der er auch seinen Kunden bereitwillig einen Schluck
überließ, im übrigen aber, fast taub wie er war und nur fähig zu
lallen, kaum zu sprechen, niemandem zu nahe trat, so wurde er dort
geduldet und so wenig beachtet wie ein beliebiger lebloser Gegen-
stand. Nur Frenchy hatte vorübergehend einmal die Empfindung
gehabt, als ob mit Jerry irgend etwas nicht so ganz stimme, diesen
Verdacht aber gleich darauf als unsinnig wieder verabschiedet. Als
er ihn aber jetzt in einem kleinen Hundetrab herankommen sah, schoß
ihm aufs neue ein ungemütlicher Gedanke durch den Kopf. Was
sollte dieser Schwachkopf, mit dem sich nicht reden ließ? Brachte er
Nachrichten vom Feinde, oder hatte man ihn abgeschickt, um zu
spionieren? Frenchys Hand umklammerte fester den Kolben des
Revolvers. „Steh! Hände hoch!" brüllte er, als Jerry dem Schup-
pen auf zwanzig Schritte nahe gekommen war. Und da der ruhig
weitertrabte, donnerte er ihm nochmals aus voller Lungenkraft ent-
gegen: „Steh! Oder ich mach' en Sieb aus dir!"
„Ha? He?" quäkte Jerry und hielt sich, stehen bleibend, mit einem
unglaublich törichten Lächeln die flache Hand an die Ohrmuschel.
„He? Ha?" Dabei spähte er, wie ein Vogel den Kopf drehend und
wendend, nach links, nach rechts, nach dem Dach und ganz zuletzt
erst geradeaus in der Richtung, aus der der Anruf gekommen war.
Scheinbar bedurfte es längerer Zeit, bevor seine geblendeten Augen
sich an das Halbdunkel im Inneren des Schuppens gewöhnt hatten.
Als er dann aber genau in die auf ihn gerichtete Mündung des
Schießeisens sah, erschrak er dermaßen, daß er förmlich zusammen-
knickte, unverständliche Töne ausstieß und eiligst mit fliegenden Hän-
den ein Blatt Papier aus dem an der Brust offenstehenden Hemde
hervorzog und Frenchy entgegenstreckte.
„Hände hoch und Herkommen!" schrie Frenchy so laut, daß es von
der Bergwand drüben zurückschallte. Und diesmal hatte Jerry ihn
offenbar verstanden. Mit ängstlichen, kleinen Schritten legte er die letzte
Strecke zurück und stolperte über die Schwelle. „Rumdrehen! Gesicht gegen
die Wand!" Jerry gehorchte. Den Revolver in der ausgestreckten Rechten
trat Frenchy hinter ihn und nahm ihm das Papier aus der Hand. Und
mit der Mündung der Waffe am Ohre des Voten las er: „Jacques Che-
valier! Hat es eigentlich viel Sinn, Eure und unsere Zeit mit einer Posse
zu vergeuden? Ergebt Euch, ehe Ihr dazu gezwungen werdet, und ich
bürge Euch für anständige Behandlung und für Euer Leben! Captain
O'Neill."
„Verfluchte Bande!" knirschte Frenchy, ballte wütend das Papier zu-
sammen und schleuderte es auf den Boden. „Werdet's schon erfahren, ob
es eine Posse ist! Und anständige Behandlung! Damit wollt ihr mich
kirre machen? Haha! Lieber tot als anständig behandelt im Zuchthaus!
Und du, alter Junge, wagst es, mir einen solchen Wisch zu bringen?"
Er versetzte dem immer noch mit dem Gesicht der Wand zugekehrten Jerry
einen Stoß, daß er mit der Stirn hart gegen das Wellblech schlug.
„Oh, oh! Frenchy! Nich doch, bitte, nich doch!" wimmerte Jerry und
rieb sich mit der einen Hand den verbeulten Kopf, während er die andere
flehend dem Wütenden entgegenstreckte. Er bot solch einen bemitleidens-
werten Anblick, daß Frenchys Erbitterung sich für einen Augenblick legte.
Aber sie kehrte sofort wieder zurück. „Gesicht zur Wand und Hände hoch,
oder —!" schrie er. Und dann untersuchte er mit der freien Hand die
Taschen des Blödsinnigen, um sich zu überzeugen, daß keine Waffe darin
war. Nein, Waffen hatte Jerry nicht. Aber eine wohlgefüllte Flasche
steckte in seiner Hüfttasche, und es ist nicht zu beschreiben, mit welcher
Gier, mit welcher rasenden Freude Frenchy diesen kostbaren Fund an
sich riß.
„Hahaha!" lachte er triumphierend, zog den Korken mit den Zähnen
heraus, setzte die Flasche an den Mund und tat ein paar tiefe, durst ge
Schlucke. „Das ist gut! Ha! Das war's, was ich brauchte!"
Wie das Zeug aber brannte in dem ausgedörrten Schlund! Wie weiß-
glühendes Metall lief es durch Frenchys Gurgel. Er mußte absetzen. „War
auch dein Glück, Söhnchen," krächzte er, „dein wahres Glück, daß du das
hier mitgebracht hast! Sonst, zum Henker, hätte ich dir den Kragen rum-
„... Als er den blödsinnigen Jerry jetzt in einem kleinen Hunde- ' .
trab herankommen sah, schoß ihm.ein ungemütlicher Gedanke
durch den Kopf. Hatte man ihn abgeschickt, um zu spionieren? Frenchys Hand
umklammerte den Kolben des Revolvers. ,Steh! Hände hoch!° brüllte er ..."
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würden's sich überlegen, aufs Geratewohl zu ihm hereinzutnallen. Der
Erfolg wäre leicht nicht der erwünschte gewesen. Frenchy lieh seine Augen
abschätzend über die Kisten gleiten, auf und hinter denen er sich verschanzt
hatte. Wieviel des hübschen, kitzligen Zeugs da wohl auf einem Haufen
beisammen sein mochte? Tausend, zweitausend Pfund? Konnte stimmen.
Wenn die nun auf einmal hochgingen? Das würde eine Leichenfeier
geben, wie sie seiner würdig war! Und ehe er sich fangen ließ, um dann
zu baumeln, ehe er, der der Polizei in fast allen Großstädten der Union
ein Schnippchen geschlagen hatte, sich von diesen dämlichen Westland-
tölpeln beim Genick nehmen ließ, da sollte denn doch lieber ein Feuer-
werk losgehen, das ihn an den Mond beförderte, gleichzeitig aber auch wo-
möglich den ganzen Berg ins Rutschen brachte mit allem, was drauf und
dran war. Denn wenn man es so bedenkt, so ist es gewiß keine Kleinigkeit,
— so annähernd eine Tonne Dynamit!
Ob sie ihn nun wirklich durch Hunger und Durst zum Äußersten treiben
wollten? Ob sie tatsächlich glaubten, er würde so kindisch sein und die
Hände hochhalten: „Da bin ich, nehmt mich, macht mir den Prozeß,
hängt mich"? Sie kannten doch sein Ultimatum durch den dicken Lager-
meister des Schuppens, den er gestern mit vorgehaltenem Revolver von
seinem Posten verjagt hatte: freier Abzug und drei Tage Vorsprung.
Auf Ehrenwort. Sonst — kamen die unabsehbaren Folgen auf ihr Haupt!
Aber die Sonne war untergegangen, war wieder aufgegangen und
begann, zum zweiten Male sich zu senken, seitdem er hier eingeschlossen
lag. Inzwischen waren auch die Soldaten gekommen. Und aus dem Lager
der Gegner immer noch nichts zu hören. Nun mußte bald etwas ge-
schehen. Hunger und Müdigkeit empfand er zwar nicht im geringsten.
Aber Durst! Entsetzlichen Durst hatte er. Die Zunge lag ihm wie ein
Stück Blei im Munde. In den Ohren klang und sauste es, und feurige
Ringe begannen, vor seinen fieberheißen Augen zu kreisen. Unbegreiflich
langsam schlich die Zeit. Aber immer wütender wurde das jede andere
Empfindung zurückdrängende Durstgefühl. Wie lange er sich wohl noch
so quälen mußte, bevor er, von der Verzweiflung gepackt, den Mut zum
Äußersten fand?
Die Sonne näherte sich schon dem Kamme des Gebirges, da löste sich
vor der Gruppe auf dem Felsvorsprung die Gestalt eines Mannes,
der eiligen, unbefangenen Schrittes auf das Sprengstofflager zu-
ging. Wie elektrisiert fuhr Frenchy auf und starrte dem Kommen-
den entgegen. Sie wollten also doch unterhandeln! Nun, Gott sei
Dank! Es war an der Zeit! Aber dann stieß er einen Fluch aus. In
dem mickrigen, mittelgroßen, abgerissenen Menschen mit dem sträh-
nigen, rötlichen Bart hatte er „den blödsinnigen Jerry" erkannt.
Einen armen Narren, der, niemand wußte woher, vor einiger Zeit
im Lager aufgetaucht war und mit Knöpfen, Messern, Blech-
löffeln und ähnlichen kleinen Bedarfsgegenständen der Arbeiter
einen kümmerlichen Handel trieb. Des Abends pflegte er in der
Kantine zu sitzen. Und da er stets eine gutgefüllte Flasche bei sich
führte, aus der er auch seinen Kunden bereitwillig einen Schluck
überließ, im übrigen aber, fast taub wie er war und nur fähig zu
lallen, kaum zu sprechen, niemandem zu nahe trat, so wurde er dort
geduldet und so wenig beachtet wie ein beliebiger lebloser Gegen-
stand. Nur Frenchy hatte vorübergehend einmal die Empfindung
gehabt, als ob mit Jerry irgend etwas nicht so ganz stimme, diesen
Verdacht aber gleich darauf als unsinnig wieder verabschiedet. Als
er ihn aber jetzt in einem kleinen Hundetrab herankommen sah, schoß
ihm aufs neue ein ungemütlicher Gedanke durch den Kopf. Was
sollte dieser Schwachkopf, mit dem sich nicht reden ließ? Brachte er
Nachrichten vom Feinde, oder hatte man ihn abgeschickt, um zu
spionieren? Frenchys Hand umklammerte fester den Kolben des
Revolvers. „Steh! Hände hoch!" brüllte er, als Jerry dem Schup-
pen auf zwanzig Schritte nahe gekommen war. Und da der ruhig
weitertrabte, donnerte er ihm nochmals aus voller Lungenkraft ent-
gegen: „Steh! Oder ich mach' en Sieb aus dir!"
„Ha? He?" quäkte Jerry und hielt sich, stehen bleibend, mit einem
unglaublich törichten Lächeln die flache Hand an die Ohrmuschel.
„He? Ha?" Dabei spähte er, wie ein Vogel den Kopf drehend und
wendend, nach links, nach rechts, nach dem Dach und ganz zuletzt
erst geradeaus in der Richtung, aus der der Anruf gekommen war.
Scheinbar bedurfte es längerer Zeit, bevor seine geblendeten Augen
sich an das Halbdunkel im Inneren des Schuppens gewöhnt hatten.
Als er dann aber genau in die auf ihn gerichtete Mündung des
Schießeisens sah, erschrak er dermaßen, daß er förmlich zusammen-
knickte, unverständliche Töne ausstieß und eiligst mit fliegenden Hän-
den ein Blatt Papier aus dem an der Brust offenstehenden Hemde
hervorzog und Frenchy entgegenstreckte.
„Hände hoch und Herkommen!" schrie Frenchy so laut, daß es von
der Bergwand drüben zurückschallte. Und diesmal hatte Jerry ihn
offenbar verstanden. Mit ängstlichen, kleinen Schritten legte er die letzte
Strecke zurück und stolperte über die Schwelle. „Rumdrehen! Gesicht gegen
die Wand!" Jerry gehorchte. Den Revolver in der ausgestreckten Rechten
trat Frenchy hinter ihn und nahm ihm das Papier aus der Hand. Und
mit der Mündung der Waffe am Ohre des Voten las er: „Jacques Che-
valier! Hat es eigentlich viel Sinn, Eure und unsere Zeit mit einer Posse
zu vergeuden? Ergebt Euch, ehe Ihr dazu gezwungen werdet, und ich
bürge Euch für anständige Behandlung und für Euer Leben! Captain
O'Neill."
„Verfluchte Bande!" knirschte Frenchy, ballte wütend das Papier zu-
sammen und schleuderte es auf den Boden. „Werdet's schon erfahren, ob
es eine Posse ist! Und anständige Behandlung! Damit wollt ihr mich
kirre machen? Haha! Lieber tot als anständig behandelt im Zuchthaus!
Und du, alter Junge, wagst es, mir einen solchen Wisch zu bringen?"
Er versetzte dem immer noch mit dem Gesicht der Wand zugekehrten Jerry
einen Stoß, daß er mit der Stirn hart gegen das Wellblech schlug.
„Oh, oh! Frenchy! Nich doch, bitte, nich doch!" wimmerte Jerry und
rieb sich mit der einen Hand den verbeulten Kopf, während er die andere
flehend dem Wütenden entgegenstreckte. Er bot solch einen bemitleidens-
werten Anblick, daß Frenchys Erbitterung sich für einen Augenblick legte.
Aber sie kehrte sofort wieder zurück. „Gesicht zur Wand und Hände hoch,
oder —!" schrie er. Und dann untersuchte er mit der freien Hand die
Taschen des Blödsinnigen, um sich zu überzeugen, daß keine Waffe darin
war. Nein, Waffen hatte Jerry nicht. Aber eine wohlgefüllte Flasche
steckte in seiner Hüfttasche, und es ist nicht zu beschreiben, mit welcher
Gier, mit welcher rasenden Freude Frenchy diesen kostbaren Fund an
sich riß.
„Hahaha!" lachte er triumphierend, zog den Korken mit den Zähnen
heraus, setzte die Flasche an den Mund und tat ein paar tiefe, durst ge
Schlucke. „Das ist gut! Ha! Das war's, was ich brauchte!"
Wie das Zeug aber brannte in dem ausgedörrten Schlund! Wie weiß-
glühendes Metall lief es durch Frenchys Gurgel. Er mußte absetzen. „War
auch dein Glück, Söhnchen," krächzte er, „dein wahres Glück, daß du das
hier mitgebracht hast! Sonst, zum Henker, hätte ich dir den Kragen rum-
„... Als er den blödsinnigen Jerry jetzt in einem kleinen Hunde- ' .
trab herankommen sah, schoß ihm.ein ungemütlicher Gedanke
durch den Kopf. Hatte man ihn abgeschickt, um zu spionieren? Frenchys Hand
umklammerte den Kolben des Revolvers. ,Steh! Hände hoch!° brüllte er ..."