Heft 5:
Bariton sang, und es war ein schlichtes, wehmütiges Lied, ein
Zigeunerlied:
„Und treibt hinweg die Blut' der Wind,
Nicht fürchte dich, du Erdenkind.
Bald kommt der schöne Lenz daher,
Bringt Laub und Blüten, schön und schwer.
Doch deine Liebe, Erdensohn,
Flieht aus dem Herzen sie davon,
So findest du sie nimmermehr.
Dein Herz bleibt öde, hohl und leer."
Die Gäste drängten zu den Fenstern.
„Mehr! — Mehr! — Noch ein Lied soll der Tater singen! —
Wir zahlen dir 'n Krug Bier, Zigeuner! — Wir zahlen dir ein
Nachtessen. Sing!"
Und der Bursch sang, ernste Lieder, Schelmenlieder, daß die
auf dem Platz draußen, daß die an den Fenstern drinnen in Jubel
ausbrachen.
Wilm allein war am Tische sitzen geblieben. Nichts hörte er
von allen ferneren Liedern. In seinem Ohr, in seinem Herzen
klangen einzig vier Zeilen nach, die in seine krankhafte Lustigkeit
hineingeschlagen hatten wie Hagel in ein Ahrenfeld:
„Doch deine Liebe, Erdensohn,
Flieht aus dem Herzen sie davon,
So findest du sie nimmermehr.
Dein Herz bleibt öde, hohl und leer." —
„Gina! Gina! Du, blühend wie das Leben selbst — schön wie
das Zigeunerkind vorhin — und bist versunken ohne Spur im
Schlamm der Sünde, im Schlamm des Moores — — Warum
willst du denn nicht versinken auch in meiner Erinnerung?" —
Er legte den Arm auf den Tisch und die Stirn auf den Arm.
Ein trockenes Schluchzen schüttelte ihn. Wenn er doch das Lied
nicht gehört hätte! Daß ein paar absichtslos vorgebrachte Worte,
daß der Klang einer Menschenstimme alles tot geglaubte Leid
in einer Menschenbrust zwingen können, die Augen wieder auf-
zuschlagen, lebendig zu werden, schmerzhaft, qualvoll lebendig! —
Gewaltsam riß er sich zusammen. Schwach sehen sollte ihn
niemand. Nur als die Genossen zurückkehrten, mit Scherzworten
ihn aufstacheln wollten zu seiner vorigen Lustigkeit, wehrte er
unwirsch: „Laßt sein. Gesprochen ist genug. Meine Ruh' laßt mir."
Da standen sie ab. Wilm Potter hatte all seine Tage für ein
wunderlich Kraut gegolten. Man kannte im Moore auch die
rote Wut, die zuzeiten über ihn kam, und scheute sie. Selbst
Hinnerk wählte sich einen Platz am andern Ende des Saales,
sehr zum Verdruß von Trautmarei, die der Meinung war, man
müsse ständig ein Auge auf den Erbschwager behalten.
Wilm hatte sich allein an einen kleinen Tisch gesetzt und ein
Nachtessen bestellt. Aber er berührte die Speisen kaum. Den
Kopf in die Hand gestützt, grübelte er nachdenklich vor sich hin.
„Öd, hohl und leer!"
Das war's. Hätte er
wenigstens Schmerz
empfunden! Schmerz
war immerhin Leben.
Aber diese stumpfe
Gleichgültigkeit gegen
Menschen und Dinge,
die ihn befallen hatte
seit jener furchtbaren
Nacht — das war der
Tod, ehe manins Grab
stieg. Gab es denn ohne
Eina kein Glück auf
der Welt? — Würde er
niemalswiederdas Ge¬
fühl der Freude kennen¬
lernen, wie hart er
auch darum rang? —
Der Wirt, der den Geschmack seiner Gäste kannte, hatte ein
paar musikkundige Zigeuner gedungen, daß sie auf der großen.
Diele zum Tanz aufspielten. Nun drehte sich dort, was jung und
lebensfroh war. Die aber in der Wirtsstube zurückblieben, ent-
schädigten sich durch üppige Mahlzeiten, die sie sich auftragen,
ließen. Das Geld klapperte in den Taschen und die Seidel auf
den Tischen. Wer einen guten Handel gemacht hatte, ließ was-
draufgehen. Es war nicht alle Tage Markt in Scharmbeck und
nicht alle Tage Feiertag.
Zur offenen Tür herein kam das Zigeunerweib, das gesammelt-
hatte, gefolgt von der reizenden Seiltänzerin. Sie gingen von.
Tisch zu Tisch.
„Beliebt es den vermögenden Herren und ihren feinen Ehe-
frauen, einen Blick zu tun in die Zukunft? — Es ist nützlich, die
Dinge voraus zu wissen, die kommen sollten. Die Sterne stehen
günstig, und günstig sind Tag und Stunde, die nicht zu allen
Zeiten günstig sind."
Viele Bauern fanden sich bereit, „aus Scherz", wie sie trotzig,
versicherten, und doch in heimlichem Aberglauben. Denn die
Tatern, ob sie gleich Schelme und Erzspitzbuben waren, geheime
Kräfte hatte der Herrgott ihnen verliehen, das stand fest.
So hielten sie willig ihre schwieligen Hände hin, auf daß die
Kundigen die Linienschrift darin entzifferten. Die meisten freilich
wollten sie nicht von der Alten, sondern von der Jungen ent-
ziffert haben, weil aus schönem Munde das Schöne doppelt an-
genehm klingt, und das Unangenehme nicht gar so bitter.
Die Bäuerin vom Snakenhof aber winkte sich die Alte herbei
in der eingewurzelten Abneigung der Alternden gegen blühende
Jugend, der Unansehnlichen gegen die Schönheit.
„Mir liegt nur eine einzige Angelegenheit im Sinn, Frau,"
sagte sie leise, dem Weibe die Hand entgegenstreckend. „Ob die
mir gelingt, das will ich wissen, sonst nichts. Kannst mir das
sagen?"
Die Zigeunerin betrachtete die Bäuerin. Sie war Menschen-
kennerin. Die da mit den unruhigen Flimmeraugen, dem
gierigen Zug um die schmalen, trockenen Lippen, war voraus-
sichtlich Beute, gute Beute. Hier galt's klug sein.
Unterwürfig und demütig neigte sie ihr Gesicht über die
rissige Hand mit den scharf eingekerbten Linien.
„Hast nicht ein Silberstück bei dir, daß ich das Kreuz machen
kann über deine Hand?" fragte sie.
Trautmarei zögerte.
„Muß das sein?"
Wo es um Geld ging, war sie mißtrauisch.
Das Weib zuckte die Achseln.
„Wir sind Kreuzmacher, Katholiken sind unser ganzer Stamm,
haben nichts zu tun mit bösen Geistern. Kommt unser Wissen
alles vom erwachsenen Gott und vom kleinen Gott, seinem
Sohn. Müssen das Kreuz machen mit edlem Metall, wenn wir
die Zukunft verkünden, darf nicht sein rotes Eisen (Kupfer)."
Widerwillig wühlte
Trautmarei den Leder-
beutel unter dem Rock
hervor, gab widerwillig
demWeib dieverlangte
Münze. Sie würde sie
ja wiederbekommen.
Die Zigeunerin zog
das Kreuz, murmelte
Unverständliches und
steckte das Markstück in
die Tasche.
„Nein, du!" wider-
sprach die Snakenbäue-
rin, „so war's nicht ge-
meint. Ich dacht' —"
Aber schon redete
die Zigeunerin. „Dein
Vorhaben, Herrin, steht
Ihr erster Brief / Dem Leben abgelauscht von Lorenz Fridli in Zürich