Ein Reiseabenteuer
von Friedrich Freksa
^c^>ein Herr!" rief der dunkelgekleidete Mitreisende, indem er mich erregt an-
!pschaute. „Bei Ihrer Seligkeit, bei Ihrem Weib, wenn Sie eins haben, bei
Ihrem Sohn, bei Ihrer Mutter, bei Ihrem Vater beschwöre ich Sie, tun Sie es nicht!"
„Warum sollte ich es nicht tun! Nur aus diesem einen Grunde habe ich die Sicher-
heitskette mit dem veränderlichen Schloß erworben, um die Aktentasche zu sichern,
während ich in den Speisewagen gehe."
„Nein, meinHerr,Siewissennicht, was Sietun! Siewerden sich unglücklich machen!
Glauben Sie, daß Sie die Zahl behalten können, auf die das Schloß eingestellt ist?"
„Oh," sagte ich, „die Zahl habe ich notiert und auswendig gelernt. Außerdem
habe ich die Gedächtnishilfe, die mir der Verkäufer gegeben hat."
„Mein Herr, Sie irren sich!" erwiderte der fremde Reisende. „Setzen Sie sich
bitte hierher, lassen Sie sich erzählen, was ich mit einem solchen Schlosse erlebt
habe. Ich komme aus einem Sanatorium im Isartal. Acht Monate brauchte ich, um
meine Nerven von einer Irrenanstalt zu erholen, in der ich interniert war. Ein Jahr
lang hat mich der Staatsanwalt verfolgt, und eine Meute habgieriger Verwandten
war hinter mir her, um sich meines Vermögens zu bemächtigen. Bitte, mein Herr,
geben Sie mir Kette und Schloß, es beruhigt mich, wenn ich sie in den Fingern habe.
Wissen Sie, was die Toleranzakte ist? Der Verkäufer sagte mir, als er mir eine
solche Kette mit einem auf vier Zahlen gestellten Permutationsschloß verkaufte:
„Denken Sie, Herr, wann in London die Toleranzakte unterzeichnet wurde. Das
war Anno 1712! Merken Sie sich das genau, mein Herr, und dann wer-
den Sie nie verfehlen, die vier Zahlen richtig einzustellen, und das Schloß
springt mit einem Drucke auf."
Ich fuhr damals von Aachen nach Mecklenburg, um meine Lieblings-
nichte zu vermählen. Mein Brautgeschenk sollte der Hochzeitsschmuck meiner
Frau sein. Es waren Brillanten im Werte von achtzigtausend Mark. Ich
kaufte ein kleines Stahlköfferchen, das ich mit der Hand umspannen konnte,
und die Kette, die mir der Verkäufer aufschwatzte, imponierte mir.
Solange ich im Schnellzug war, der mich vom Rhein nach dem Osten
entführte, hatte ich keinerlei Gedanken, aber als ich nun einen Wagen der
Seitenlinie bestieg, die über Stendal hinausführte, und in eines dieser
dunklen Käfigabteile geriet, in denen das Gaslicht unsicher brannte und
zuckte, da überlief es mich. Der schnauzbärtige, blasse Schaffner, der herein-
kam, machte auf mich den Eindruck eines Bolschewiken, zudem war ich der
einzige Mensch auf dieser Strecke, der erster Klasse fuhr. Ich mußte an den
Schmuck und die Verdorbenheit der Menschen im Nachkriegsdeutschland den-
ken, kurz und gut, ich nahm das Köfferchen aus der Tasche und schloß es
hinten im Winkel des Gepäcknetzes mit der Kette an die Eisenstange an.
Meinen Handkoffer setzte ich davor. Jetzt war ich ruhig. Wollte sich einer des
Köfferchens bemächtigen, mußte er das Eisen des Gepäcknetzes zerstören.
Halbdunkel, Wärme und der im Speisewagen genossene Kognak über-
wältigten mich, so daß ich einschlief. Als ich aufwachte, war es dunkel um
mich und kalt. Der Wagen stand. Ich schaute hinaus. Nebel dunstete über
den Schienen, ungewisse Umrisse eines unerleuchteten Stationsgebäudes
zeigten sich in grauer Dämmerung. Was war das? Ich legte mich aus dem
Fenster. Die ganze Wagenreihe des Zuges war ohne Licht. Als ich auf das
Leuchtzifferblatt meiner Uhr schaute, bemerkte ich, daß es gegen vier Uhr
morgens war. Sofort griff ich in meine Pistolentasche und versicherte mich
meines Brownings, denn ich glaubte an ein Komplott. Vorsichtig schritt
ich durch den Gang des Wagens, über die Plattform zum nächsten. Mit
meinen Wachsstreichhölzern leuchtete ich in jedes Abteil: alle waren leer
und verlassen. Vorsichtig lugte ich aus dem Zuge, der ohne Lokomotive
stand. Ich stieg hinaus, hastete zum Bahnhofgebäude und merkte, ich war
auf einer Kopfstation der Linie, und kombinierte ganz ruhig: Das Gaslicht
ist ausgegangen, der Schaffner war zu faul, eines einzelnen Reisenden
wegen noch einmal den Gang abzuschreiten, kurz und gut, ich war liegen
geblieben, irgendwo. Ich geriet in mein Abteil zurück, um mir mein Ge-
päck zu sichern. Übrigens, wie war die Zahl doch?
Ich wußte nur noch: Toleranzedikt. Aber ich hatte vergessen, wann das
Toleranzedikt stattgefunden hatte. Ja, siebzehnhundert! Aber wann sieb-
zehnhundert? Herr Gott noch einmal, wenn ...! Ich lachte über mich
selbst, setzte mich in die Ecke und zündete eine Zigarre an. Die Zahl mußte
doch wiederkommen! Aber sie kam nicht! Ein alterprobtes Gedächtnismittel
„... Bei Ihrer Seligkeit beschwöre ich Sie, tun Sie es nicht!"
fiel mir ein. Ich Zündete ein Wachsstreichholz an und schrieb auf alle Seiten
meines Taschenbuches: Toleranzedikt siebzehnhundert! Aber die Endzahl
erschien nicht unter dem Strich meines Bleistifts. Ich rauchte meine Zigarre
zu Ende und sagte mir: Ruhe! Unterkunft brauchst du nicht zu suchen, denn
du kannst aus dem Wagen nicht fort. Schlaf, bis der Dienst wieder beginnt.
Ich wickelte mich in meine Decke und schlief wirklich ein. Helles Klingen
von Eisen weckte mich. Ah, dachte ich, jetzt ist es Zeit. Aber, zum Teufel,
wann war das Toleranzedikt?
Ich richtete mich auf, als der Name einer kleinen Haltestelle gerufen
wurde. Reisende kamen mit den griesgrämigen Gesichtern des frühen
Morgens. Richtung Stendal! rief ein Beamter. Der Zug füllte sich. Kein
Mensch betrat das Abteil erster Klasse. Wann war das Toleranzedikt? Der
Zug setzte sich wieder in Bewegung. Ich rauchte. Der Zugführer schaute
vom Trittbrett durchs Fenster, öffnete. Ich übergab ihm meine Fahrkarte
nach Völke. Er schaute mich an.
„Warum sind Sie gestern in Stendal nicht umgestiegen?"
„Es hat mich kein Mensch in Stendal geweckt."
„Warum sind Sie auf der Kopfstation nicht ausgestiegen?"
„Es hat mich kein Mensch geweckt."
Der Mann richtete sich vor mir auf. Ich sah in ein Feldwebelgesicht mit
weißem Schnauzbart und strengen blauen Bullaugen.
„Zunächst müssen Sie einmal nachzahlen, Stendal hin und zurück!" sagte
der Mann.
Ich gab ihm das Geld.
„So, damit wäre der Fall fürs erste erledigt."
Ich fiel in meine Ecke zurück. Wann war doch ... aber es kam nichts.
„Stendal! Alles aussteigen!"
Aber ich schaute auf mein Köfferchen und blieb sitzen.
„Sie dürfen nicht sitzen bleiben!" sagte der Schaffner, der durch den
Gang kam. Ich gab ihm ein paar Mark und bat: „Lassen Sie mich nur,
ich fahre nach der kleinen Station."
„Gut," sagte er, „aber wir rangieren um. Zeigen Sie sich nur nicht am
Fenster."
Eine halbe Stunde hatte ich Zeit, zu denken. Und ich fragte mich: Wann
war doch das Londoner Protokoll? Nein, das Toleranzedikt. Das war ja
unter Ludwig XIV. Herrgott noch einmal, was war es also? Toleranzakte
zu London? Ah, ich hab^s! Der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt. Der
schnauzbärtige Zugführer öffnete das Abteil.
„Ich dachte, Sie wollten nach Stendal!" bellte er.
„Ich habe es mir überlegt, ich fahre wieder zurück."
„Ihr Fahrschein, bitte!"
„Ich möchte nachzahlen!"
ms mMberteLM