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„Dann müssen Sie nachher mit mir das Abteil verlassen! Darf ich um
Ihren Paß bitten."
Ich zeigte ihm meine Papiere. Er schüttelte abermals den Kopf.
Nach zwei Stunden kamen wir wieder auf der kleinen Kopfstation an.
Der Zugführer war mehrfach, mich beobachtend, durch den Gang ge-
schritten. Ich schloß die Augen, und meine Gedanken jagten dem Londoner
Protokoll nach. Oder war es das Edikt zu Nantes?
Endlich hielt der Zug. „Alles aussteigen!" brüllte der Zugführer.
Ich rief ihm zu: „Ich fahre wieder zurück!"
„Herr," befahl er mit drohend erhobenen Armen, „ich sage: Alles aus-
steigen! Sie haben Ihren Fahrschein da unten zu lösen."
„Und ich erkläre Ihnen, ich verlasse das Abteilnicht, ich habe Gründe dafür."
„Herr," schrie er mich an, „Sie verlassen das Abteil!"
Da brüllte ich ihm entgegen: „Nur wenn Sie mir sagen, wann das Lon-
doner Protokoll war!"
Der Stationsvorsteher kam, Beamte kamen. Ich schrie: „Ich kann dies
Abteil nicht verlassen. Ich muß dieses Stück haben! Und nur wer mir
sagen kann, wann das Londoner Protokoll war, kann mich fortbringen!"
Ein Herr mit Schlapphut, Brille und dunklem Bart näherte sich unserer
Gruppe. „Was meinen Sie mit dem Londoner Protokoll?" fragte er.
„Ich habe hier ein Schloß, das ich auf das Protokoll einstellen muß!"
„Das Londoner Protokoll?" fragte er.
„Nein!" schrie ich, „die Testakte oder das Toleranzedikt! Mein Herr,
helfen Sie mir, stellen Sie auf diese Zahlen ein!"
„Vielleicht meinen Sie die Vertreibung der Hugenotten durch Lud-
wig XIV.?" fragte der bebrillte Herr mit Vollbart und Schlapphut.
„Ja!" schrie ich.
Er trat an das Gepäcknetz und stellte die Zahlen ein. Das Schloß bewegte
sich nicht. Er drehte wieder.
„Nein," stotterte ich, „es war vielleicht etwas anderes. Es war die
Toleranzakte!"
„Toleranzakte," sagte der Vollbart, „das gibt es nicht. Mein Herr, es
gibt eine Testakte oder ein Edikt zu Nantes, oder ..."
„Mein Herr, Sie sind ein Schwindler!" erklärte der Stationsvorsteher.
„Lassen Sie auf meine Kosten die Stange zerschlagen und geben Sie
mir das Köfferchen! Ich zahle alles! Dann steige ich aus!"
„Nein," erwiderte der Stationsvorsteher, „Sie werden jetzt den Bahn-
hof verlassen und auf die Polizei kommen!"
„Nein!" schrie ich und rüttelte an der Eisenstange. Vergebens wollten
mich die Beamten zurückreißen. Ich schlug um mich, ich biß, ich stieß. Ich
hatte einen Anfall von Tobsucht. Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem
Getreidesack, dessen Öffnung zugezogen war und fühlte, wie man mich auf
einem Handwagen zur Polizeiwache fuhr.
„Fire Idee!" sagte der Arzt, der mich untersuchte.
„Nein!" schrie ich, „Schloß, Koffer, Toleranzedikt, Hugenottenvertrei-
bung, Protokoll von London, alles hängt zusammen."
Ich erfuhr, daß ich einem Beamten den Arm gebrochen, einem anderen
eine Rippe, dem dritten die Nase eingeschlagen hatte. Ich wurde zur Be-
obachtung in eine Irrenanstalt gebracht. Meine einzige Sehnsucht, mein
einziger Wunsch war das Toleranzedikt. Ich erhielt dank der Toleranz eines
englischen Arztes die Bände der englischen
Geschichte von Lecky und fand das Edikt
für das Jahr 1712. Von dieser Zahl kam
ich nicht wieder los. Überall mußte ich sie
aufschreiben, mit jedem Bleistift auf jedes
Stückchen Papier. DieArzte hatten Grund,
mich für besessen zu halten. Meine Ver¬
wandten machten aus meiner Not ihre
Tugend, sie wollten mich für geistesgestört
erklären, um sich in den Besitz meines großen
Vermögens zu bringen.
„Suchen Sie das Toleranzedikt zu ver-
gessenund das Jahr 1712!" riet mein Rechts¬
anwalt und ebenso der Arzt. Mit Mühsal
konnte ich es durchsetzen, daß man mich irr
das Sanatorium im Isartal überführte."
„Aber, meinHerr," sagte ich zu dem Mit¬
reisenden, „ohne Frage waren Sie doch für
diese Art der Krankl)eit prädestiniert! Wenn
Sie schon eins und sieben wußten, wäre es
doch gar nicht so schwer gewesen für Sie,
die Veränderungen der dritten und vierten
Reihe durchzudrehen. In einer Nacht hätte
sich das doch bewerkstelligen lassen!"
„Sie sind unbelehrbar!" versetzte mir
mein Gegenüber erregt. „Das Geheimnis
ist doch die Bindung des Geistes, Lahm-

legung der Aktivität, Fixierung der Seele auf einen Denkpunkt. Machen
wir eine kleine Probe! Wissen Sie die Zahl, auf der Ihr Schloß steht?"
„Leicht zu merken!" erwiderte ich. „Das Ableben Kaiser Ferdinands I.
Er wurde zweiundsechzig Jahre alt, regierte bis 1562. Außerdem habe ich
sie in meinem Notizbuch aufgeschrieben!"
Ehe ich mich versehen konnte, waren meine Handgelenke gefesselt und
die Kette mit dem Schloß gesichert.
„Hilfe!" schrie ich, überrascht durch die Geschwindigkeit seines Handelns.
„Bitte, sagen Sie mir die Zahl, ich öffne sofort!"
„Londoner Protokoll! Wann war es doch?" sagte ich.
„1712!" sagte er und stellte die Zahl ein. Aber das Schloß öffnete sich nicht.
„Sie führen mich irre!"
Der Mann lächelte. „Sie sehen nun selbst, wie teuflisch solch ein Schloß ist!"
„Bitte," erwiderte ich, „greifen Sie in meine linke Manteltasche, darin
ist mein Notizbuch. Zwischen der Zweiten und dritten Seite liegt ein kleiner
Zettel, auf dem die Zahl vermerkt ist."
Er erhob sich, öffnete das Taschenbuch, aber der Wind riß den kleinen
Zettel durch das offene Fenster in die vorübersausende Landschaft.
„Mein Gott!" schrie ich. „Der Zettel!"
„Ja," sagte er, „das sind die Tücken der Schlösser. Wie war also die
Zahl?" Und dabei beugte er sich über mich. Freundlich sah er mich an:
„Sicher haben Sie doch eine Verkaufsnota bekommen. Liegt sie nicht in
Ihrer Brieftasche? Dann können wir die Zahl vielleicht feststellen."
Die Tür öffnete sich, zwei Herren und der Schaffner traten ein. „Was
geht hier vor?" frug der Beamte.
„Wir proben nur ein Vexierschloß!" sagte der Mitreisende.
„Er hat mich wider meinen Willen gefesselt!" brüllte ich.
„Ich habe diesem Herrn nur beweisen wollen, wie gefährlich es ist, sich
auf solche Umstellungsschlösser zu verlassen!"
Der Beamte untersuchte das Schloß. „Wie war denn die Nummer?"
fragte er mich.
„Mein Herr, wann war das Londoner Protokoll? Nein! Die Toleranz-
akte! 1712! Nein! Es war etwas anderes! Erlauben Sie einmal. Ich bin
von allen guten Geistern verlassen. Sagen Sie mir, wann Kaiser Ferdi-
nand seinem Sohne Max die Mitregentschaft in Böhmen übergeben hat."
Der Beamte fuhr zurück. „Was soll das heißen?" rief er.
„Es sind nur Gedächtnisklammern!" erwiderte ich. „Versuchen Sie doch,
bitte, 1564! Nein! 1564 nein! Herrgott!"
Mein Mitreisender versuchte. Es ging nicht.
Aus dem Wagen drängte sich ein Herr heran. „Gestatten Sie, daß ich
mich vorstelle, Zellerini, Entfesselungskünstler. Diese Kleinigkeit werden
wir bald haben! Nehmen Sie die Hände einmal über Kreuz hinweg. Die
Fesselung ist eine ganz einfache. Jetzt haben Sie die Möglichkeit, die
Daumen nach innen zu drehen. Bitte, vorsichtig! Ja, wenn Sie es so
machen, dann verletzen Sie sich die Haut! Sehen Sie, Sie bluten schon."
Es tat furchtbar weh, denn ich hatte nicht so trainierte Finger wie der
Entfesselungskünstler. Aber endlich gelang es. Ich konnte meine Finger
herausziehen. Ich konnte mich freimachen. Die Kette, an den beiden Enden
durch das Schloß zusammengehalten, lag vor uns. Der Zugführer war
gekommen. Mit Interesse hatte er das Manöver verfolgt.
„Nun ja, es ist ja alles gut gegangen!
Aber darf ich die Pässe der Herren noch ein-
mal sehen?"
Ich zog meine Brieftasche, reichte ihm
meinen Paß und steckte sie wieder ein. Ich
betrachtete die Brieftasche des anderen
Herrn. Die Reise nahm ihren Fortgang.
Nürnberg war erreicht. Mein Mitreisender
verabschiedete sich. Ich ging in den Speise-
wagen. Ich wollte zahlen. Meine Brief-
tasche war fort. Der Zugführer kam.
„Ja!" sagte er. „Der Fall läßt sich un-
schwer feststellen. Ich werde sofort telegra-
phieren, wir haben ja den Namen Ihres
Mitreisenden!"
Zwei Tage danach erhielt ich einen Brief.
Der lautete: „Sehr geehrter Herr! Sehen
Sie, wie es Ihnen mit der Toleranzakte
und 1712 ergangen ist. Ähnlich wie mir.
Verlassen Sie sich nicht auf diese Schlösser,
sie bringen immer Unglück! Im übrigen
empfehle ich Ihnen, lassen Sie die Polizei
nach dem Entfesselungskünstler suchen. So
wahr 1712 die Toleranzakte in London ge-
schlossen wurde, so wahr ist es, daß Ihnen
dieser Mann die Brieftasche geraubt hat.
Er allein war immer neben Ihnen."


„... Ich wurde zur Beobachtung
in eine Irrenanstalt gebracht..."
 
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