12 -'!!!!,Das Buch für Alle .. He st 28
einer Nachtigall
Von ber6in3n6
I^eopol^ 8oeser
er unvergessene Dichter Hans Christian
Andersen erzählt in einem Märchen
von einer Nachtigall, die mit Melodien
aus ihrer zarten Kehle sogar den Tod von
der Brust seines Opfers wegzulocken ver-
mag. Im ganzen Land wird ihr Gesang ge-
rühmt; einer erzählt davon dem anderen,
berühmte Gelehrte schreiben dicke Bücher
darüber, — aber wirklich vernommen hat
das seltsame Lied nur ein armes Kind, die
letzte Küchenmagd am Hof des Kaisers.
An diese Geschichte fühlte ich mich erin-
nert, als ich erfuhr, wie in diesen Tagen,
die von frohen Festen laut sind, draußen
am Rande der großen Stadt, unweit mei-
ner Wohnung, arme Studenten, Arbeiter,
Dienstboten, Küchenmägde — wie im
Märchen — spätabends sich einfinden, um
aus den alten Ulmen gegenüber, zwischen
denen die geheimnisvolle Kuppel einer
Sternwarte seltsam-morgenländisch in den
Zimmel ragte, vernahm ich oft ihr Schluch-
zen. — Am häufigsten habe ich ihren Ge-
sang während des Krieges genossen. Das
war im großen Walde vor Luck, in festen
Stellungen, Juni 1916. Die feindlichen
Gräben lagen nicht mehr als zwanzig
Schritte vor uns; das Zwischenfeld voll
undurchdringlichem Drahtverhau. Aus den
eingeflochtenen Traversen ragten mächtige
Baumruinen auf; einstmals waren es Eich en
gewesen, jetzt hing kein grünes Blatt mehr
in den zersplitterten Kronen. Nach Mitter-
nacht herrschte meist tiefster Friede; Leucht-
raketen stiegen und sanken — ein märchen-
hafter Anblick — in funkelnden Bogen durch die blaue Nacht. Und dazu
schlugen Nachtigallen, — sie hatten auch während der tobenden Kämpfe
den „toten Wald" nicht verlassen.
Ihr Gesang ist manches Mal beschrieben worden. Und ist doch nicht zu
schildern! Amseln und Drosseln erinnern entfernt daran; sie bleiben in
achtungsvollem Abstand von der Königin. Ihr Lied ist nicht wiederzu-
geben. Denn es fehlte der tiefe Zauber, — das Geheimnis der Sommer-
mitternacht. Dies Singen, Schlagen und Schluchzen möchte ein „Trans-
ponieren", — ein Abspiegeln leuchtender Sternenräume sein. Mir wenig-
stens erging es stets so, daß ich beim Lauschen unwillkürlich nach den
Sternen sehen mußte. Und das Wort des Weltweisen, der sich damit als
ein nicht minder unsterblicher Dichter erwies, erwacht: „— der bestirnte
Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir!" Und vielleicht ist dieses
der edle Kern in jeder Menschenseele, die unsichtbare Saite, die das Lied
der Nachtigall in uns zum Schwingen bringt.
Die schlichten Menschen, die, wartend am Rande der Stadt, im voraus
das Opfer des weiten Heimweges auf sich nehmen — denn keine Straßen-
bahn bringt sie so spät wieder zurück —, vielleicht empfinden sie solches
beim Gesang der Nachtigall. Liebende sind dabei und Einsame, und
jeglichem tönt die seltsame Weise der unsichtbaren Sängerin wie ein
Nachhall des eigenen, — eines schöneren Selbst.
zu lauschen.
Die Zeit der Rosen ist auch die Zeit der Nachtigallen; aber blühen die
einen erfreulicherweise auch sehr zahlreich und in seltenen Stücken in den
Parkanlagen der Städte, — die scheue, graue Königin unserer Singvögel
meidet diese Plätze. Und nur wenige Großstädter haben die Weise der
verzauberten Mitternachtssängerin je einmal vernommen.
Ihr Name klingt doch schon wie aus einem halbvergessenen Gedicht, aus
einem Kindermärchen stammend. Und trotzdem schlagen just in diesen
Nächten sogar im Bereich von Weltstädten mancherorts Nachtigallen! Die
Wächter, die das weitgedehnte Gebiet großstädtischer Friedhöfe abzu-
schreiten haben, wissen von dein schier unwirklich-schönen Singen und
Schluchzen zahlreicher Nachtigallen zu erzählen. Und auch in den stilleren
Gärten der Vorstädte ist ihr Lied nicht unbekannt; ich selbst habe es manches
Mal auf nächtlichen Spaziergängen vernommen.
Allerdings, die Uhr vom nächsten Kirchturm muß schon Mitternacht
verkündet haben. Die letzte Straßenbahn hat den schlummernden Stadt-
teil passiert, und nur vom Ufer des Stromes, der blaß in der Tiefe schim-
mert, tönt der Pfiff einer Lokomotive durch die Stille. Dann beginnt die
Nachtigall zu schlagen ...
Eine kannte ich, die hatte ihren Lieblingsitz im Efeu eines Garten-
häuschens, das einem greisen Maler Heim und Arbeitstätte bot. Aber auch
Kleine E
Mutterliebe bei -en Irokesen. Bei den Irokesen herrscht eine eigen-
tümliche, aber rührende Sitte, die Zeugnis ablegt von der stark ausge-
prägten Mutterliebe der Jrokesenfrauen. Stirbt bei dem Stamm ein noch
im Säuglingsalter befindliches Kind, so wird es zunächst im Beisein aller
übrigen Mütter des Stammes feierlich begraben. Ist das geschehen, so
füllt die Mutter die nun leer gewordene Wiege ihres verstorbenen Kindes
mit schwarzen Federn und trägt sie von jetzt ab immer auf dem Rücken
mit sich. Abends stellt sie die Wiege neben die Wohnhütte und spricht so
liebevoll zu ihr hinüber, als läge ihr Kind-
chen noch darin. Tag für Tag trägt sie
die schwere, drückende Wiege mit größter
Vorsicht umher, ohne dabei ihre sonstigen
Pflichten zu vernachlässigen. — Erst nach
einem Jahr, vom Tage der Beerdigung
an gerechnet, setzt sie die Wiege ab und
stellt sie wieder in den dafür nach altem
Gesetz bestimmten Raum zurück. G.Br.
Unpraktisch. Krause zieht um. Ganz
traut er den Ziehleuten doch nicht, die
Sachen, die kaputtgehen können, trägt er
lieber selbst in die neue Wohnung hin-
über. Auch die große Standuhr seines
Herrenzimmers.
Erschöpft von der ungewohnten Arbeit
bleibt er an der Straßenecke stehen, stellt
die Uhr sorgfältig nieder und wischt sich
eschichten
den Schweiß von der Stirn. Da kommt Freund Schulze des Wegs und
betrachtet das Bild. Dann meint er: „Lieber Krause, du bist doch recht
unpraktisch, weshalb trägst du denn eigentlich keine Taschenuhr?" P.v.Z.
Die verfrühte Thronrede. König Georg II. von England erfuhr, daß
ein Redakteur bestraft werden sollte, weil er, um die Thronrede des Königs
in seinem Blatte möglichst früh bringen zu können, selbst eine Thronrede
geschrieben hatte. — „Ich hoffe," sagte der König zu dem vortragenden
Minister, „daß der Mann sehr milde bestraft werden wird, denn ich habe
seine und meine Rede verglichen und finde,
daß die seinige bei weitem besser ist." E. K.
Mißverstanden. Ein Bauer kommt, um
einzukaufen, zur Stadt. Er bestellt aller-
hand, und zum Schluß meint der Kauf-
mann: „Ich habe hier auch etwas für
Fliegen."
Der Bauer schüttelt energisch mit dem
Kopf. „Wenn de Fleegen dat nich freien
wollen, wat et bi mi gifft, ertra för se
kopen do ick nir!" P.v. Z.
Durchschaut. Ein Landstreicher steht bei
Frau Müllers Küchentür und sagt: „Gute
Frau, wollen Sie nicht einem armen,
schwerarbeitenden Mann etwas zu essen
geben?"
„Jawohl," erwidert Frau Müller,
wenn einer da wäre." O. B.
Junges Volk / Scherenschnitt von Fritz Boldt
einer Nachtigall
Von ber6in3n6
I^eopol^ 8oeser
er unvergessene Dichter Hans Christian
Andersen erzählt in einem Märchen
von einer Nachtigall, die mit Melodien
aus ihrer zarten Kehle sogar den Tod von
der Brust seines Opfers wegzulocken ver-
mag. Im ganzen Land wird ihr Gesang ge-
rühmt; einer erzählt davon dem anderen,
berühmte Gelehrte schreiben dicke Bücher
darüber, — aber wirklich vernommen hat
das seltsame Lied nur ein armes Kind, die
letzte Küchenmagd am Hof des Kaisers.
An diese Geschichte fühlte ich mich erin-
nert, als ich erfuhr, wie in diesen Tagen,
die von frohen Festen laut sind, draußen
am Rande der großen Stadt, unweit mei-
ner Wohnung, arme Studenten, Arbeiter,
Dienstboten, Küchenmägde — wie im
Märchen — spätabends sich einfinden, um
aus den alten Ulmen gegenüber, zwischen
denen die geheimnisvolle Kuppel einer
Sternwarte seltsam-morgenländisch in den
Zimmel ragte, vernahm ich oft ihr Schluch-
zen. — Am häufigsten habe ich ihren Ge-
sang während des Krieges genossen. Das
war im großen Walde vor Luck, in festen
Stellungen, Juni 1916. Die feindlichen
Gräben lagen nicht mehr als zwanzig
Schritte vor uns; das Zwischenfeld voll
undurchdringlichem Drahtverhau. Aus den
eingeflochtenen Traversen ragten mächtige
Baumruinen auf; einstmals waren es Eich en
gewesen, jetzt hing kein grünes Blatt mehr
in den zersplitterten Kronen. Nach Mitter-
nacht herrschte meist tiefster Friede; Leucht-
raketen stiegen und sanken — ein märchen-
hafter Anblick — in funkelnden Bogen durch die blaue Nacht. Und dazu
schlugen Nachtigallen, — sie hatten auch während der tobenden Kämpfe
den „toten Wald" nicht verlassen.
Ihr Gesang ist manches Mal beschrieben worden. Und ist doch nicht zu
schildern! Amseln und Drosseln erinnern entfernt daran; sie bleiben in
achtungsvollem Abstand von der Königin. Ihr Lied ist nicht wiederzu-
geben. Denn es fehlte der tiefe Zauber, — das Geheimnis der Sommer-
mitternacht. Dies Singen, Schlagen und Schluchzen möchte ein „Trans-
ponieren", — ein Abspiegeln leuchtender Sternenräume sein. Mir wenig-
stens erging es stets so, daß ich beim Lauschen unwillkürlich nach den
Sternen sehen mußte. Und das Wort des Weltweisen, der sich damit als
ein nicht minder unsterblicher Dichter erwies, erwacht: „— der bestirnte
Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir!" Und vielleicht ist dieses
der edle Kern in jeder Menschenseele, die unsichtbare Saite, die das Lied
der Nachtigall in uns zum Schwingen bringt.
Die schlichten Menschen, die, wartend am Rande der Stadt, im voraus
das Opfer des weiten Heimweges auf sich nehmen — denn keine Straßen-
bahn bringt sie so spät wieder zurück —, vielleicht empfinden sie solches
beim Gesang der Nachtigall. Liebende sind dabei und Einsame, und
jeglichem tönt die seltsame Weise der unsichtbaren Sängerin wie ein
Nachhall des eigenen, — eines schöneren Selbst.
zu lauschen.
Die Zeit der Rosen ist auch die Zeit der Nachtigallen; aber blühen die
einen erfreulicherweise auch sehr zahlreich und in seltenen Stücken in den
Parkanlagen der Städte, — die scheue, graue Königin unserer Singvögel
meidet diese Plätze. Und nur wenige Großstädter haben die Weise der
verzauberten Mitternachtssängerin je einmal vernommen.
Ihr Name klingt doch schon wie aus einem halbvergessenen Gedicht, aus
einem Kindermärchen stammend. Und trotzdem schlagen just in diesen
Nächten sogar im Bereich von Weltstädten mancherorts Nachtigallen! Die
Wächter, die das weitgedehnte Gebiet großstädtischer Friedhöfe abzu-
schreiten haben, wissen von dein schier unwirklich-schönen Singen und
Schluchzen zahlreicher Nachtigallen zu erzählen. Und auch in den stilleren
Gärten der Vorstädte ist ihr Lied nicht unbekannt; ich selbst habe es manches
Mal auf nächtlichen Spaziergängen vernommen.
Allerdings, die Uhr vom nächsten Kirchturm muß schon Mitternacht
verkündet haben. Die letzte Straßenbahn hat den schlummernden Stadt-
teil passiert, und nur vom Ufer des Stromes, der blaß in der Tiefe schim-
mert, tönt der Pfiff einer Lokomotive durch die Stille. Dann beginnt die
Nachtigall zu schlagen ...
Eine kannte ich, die hatte ihren Lieblingsitz im Efeu eines Garten-
häuschens, das einem greisen Maler Heim und Arbeitstätte bot. Aber auch
Kleine E
Mutterliebe bei -en Irokesen. Bei den Irokesen herrscht eine eigen-
tümliche, aber rührende Sitte, die Zeugnis ablegt von der stark ausge-
prägten Mutterliebe der Jrokesenfrauen. Stirbt bei dem Stamm ein noch
im Säuglingsalter befindliches Kind, so wird es zunächst im Beisein aller
übrigen Mütter des Stammes feierlich begraben. Ist das geschehen, so
füllt die Mutter die nun leer gewordene Wiege ihres verstorbenen Kindes
mit schwarzen Federn und trägt sie von jetzt ab immer auf dem Rücken
mit sich. Abends stellt sie die Wiege neben die Wohnhütte und spricht so
liebevoll zu ihr hinüber, als läge ihr Kind-
chen noch darin. Tag für Tag trägt sie
die schwere, drückende Wiege mit größter
Vorsicht umher, ohne dabei ihre sonstigen
Pflichten zu vernachlässigen. — Erst nach
einem Jahr, vom Tage der Beerdigung
an gerechnet, setzt sie die Wiege ab und
stellt sie wieder in den dafür nach altem
Gesetz bestimmten Raum zurück. G.Br.
Unpraktisch. Krause zieht um. Ganz
traut er den Ziehleuten doch nicht, die
Sachen, die kaputtgehen können, trägt er
lieber selbst in die neue Wohnung hin-
über. Auch die große Standuhr seines
Herrenzimmers.
Erschöpft von der ungewohnten Arbeit
bleibt er an der Straßenecke stehen, stellt
die Uhr sorgfältig nieder und wischt sich
eschichten
den Schweiß von der Stirn. Da kommt Freund Schulze des Wegs und
betrachtet das Bild. Dann meint er: „Lieber Krause, du bist doch recht
unpraktisch, weshalb trägst du denn eigentlich keine Taschenuhr?" P.v.Z.
Die verfrühte Thronrede. König Georg II. von England erfuhr, daß
ein Redakteur bestraft werden sollte, weil er, um die Thronrede des Königs
in seinem Blatte möglichst früh bringen zu können, selbst eine Thronrede
geschrieben hatte. — „Ich hoffe," sagte der König zu dem vortragenden
Minister, „daß der Mann sehr milde bestraft werden wird, denn ich habe
seine und meine Rede verglichen und finde,
daß die seinige bei weitem besser ist." E. K.
Mißverstanden. Ein Bauer kommt, um
einzukaufen, zur Stadt. Er bestellt aller-
hand, und zum Schluß meint der Kauf-
mann: „Ich habe hier auch etwas für
Fliegen."
Der Bauer schüttelt energisch mit dem
Kopf. „Wenn de Fleegen dat nich freien
wollen, wat et bi mi gifft, ertra för se
kopen do ick nir!" P.v. Z.
Durchschaut. Ein Landstreicher steht bei
Frau Müllers Küchentür und sagt: „Gute
Frau, wollen Sie nicht einem armen,
schwerarbeitenden Mann etwas zu essen
geben?"
„Jawohl," erwidert Frau Müller,
wenn einer da wäre." O. B.
Junges Volk / Scherenschnitt von Fritz Boldt