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Das Buch für Alle 19


Oer Raubmörder Stcrnickel (links) und die Handschrift des Verbrechers

Oesielit

und dssVerorseliers

Vor» Dr. zur. Haus 8cliusichert, Berlin

werde, deren Zusammenvorkommen an einem zweiten Fall in den höchst
denkbaren Graden unwahrscheinlich sei. Früher ging man den Weg der
einfachen, aber übertriebenen Zeichendeuterei, indem man gewissen Merk-
malen der Gesichts- und Kopfbildung oder der Handschrift eine entsprechende
Charaktereigenschaft zulegte. Heute erkennt man die Doppeldeutigkeit
solcher Merkmale an und verlangt eine Bildung von komplexen, sich er-
gänzenden oder unterstützenden Merkmalen, wenn man Schlußfolgerungen
daraus wagen darf.
Wie die Gesichter, so interessieren uns die Verbrecherhandschriften von
einem zweifachen Gesichtspunkte aus: einmal zur Wiedererkennung von
Verbrechern, zweitens zum Zwecke der Charaktererforschung. Die erste
Frage gehört in das Gebiet der gerichtlichen Schriftvergleichung, die zweite
in das Gebiet der Graphologie. Die Frage, ob man der Handschrift eines
Menschen ansehen kann, daß er ein Verbrecher sei oder wenigstens ver-
brecherische Neigungen habe, beantwortet der Uneingeweihte ebenso leicht
und schnell wie die ganz ähnlich liegende Frage der Verbrecherphysio-
gnomien. Wie der Typus des „geborenen Verbrechers", so muß auch der
Typus der „Verbrecherhandschrift" wissenschaftlich abgelehnt werden.
Dr. Alfred Binet, Direktor der physiologischen Psychologie an der Pariser
Sorbonne, hat im Jahre 1906 einige lehrreiche Versuche mit französischen
Berufsgraphologen angestellt, die er in einem Buche veröffentlicht hat.
Den Graphologen wurden unter anderen auch Handschriftproben von sechs
Mördern zur Charakterdeutung vorgelegt, ohne daß ihnen die Verbrecher-
eigenschaft der Schreiber bekanntgegeben war. Die von den Graphologen


enn wir physiognomisch urteilen, sagt Schopenhauer, können wir uns
leicht für einen Menschen dahin verbürgen, daß er nie ein unsterb-
liches Werk hervorbringen, nicht aber, daß er nie ein großes Verbrechen be-
gehen werde. Denn das Moralische, cher Charakter des Menschen sei viel
schwerer physiognomisch zu erkennen, weil er als Metaphysisches ungleich
tiefer liege als das Intellektuelle und trotz'des Zusammenhanges mit dem
Organismus nicht so unmittelbar und nicht an einen bestimmten Teil und
System desselben geknüpft sei wie der Intellekt. DerCharakter eines Men-
schen oder eine bestimmte Charaktereigenschaft kann niemals im Wege der
Einzelmethodik erforscht werden, das heißt weder die Physiognomik noch die
Graphologie bieten ausschließliche oder hinreichende Mittel zur Erforschung
des menschlichen Charakters, seiner seelischen Artung. Analog treffen wir
diese Tatsache zum Beispiel auch bei den physiologischen oder biologischen
Merkmalen, die nie für sich allein das Wesen des Menschen umfassend und
zuverlässig kennzeichnen können. Professor Dr. Poll in Hamburg sagt da-
her mit Recht, daß die Individualität eines Menschen, wie die jedes anderen
Organismus, auf der unerschöpflichen Kombinationszahl derErbeigentüm-
lichkeiten beruht, die in dem Keimplasma der menschlichen Rassen vor-
handen sind. Eine individuelle erbbiologische Diagnose könne sich daher
immer nur auf dem Nachweise aufbauen, daß nebeneinander bei dem-
selben Individuum
eine ganze Anzahl
von Merkmalen erb-
lich erN atur g efund en




Oec Raubmörder Eyraud (links) und die Handschrift des Verbrechers
 
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