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it einem Seufzer der Erleichterung machte Geert Lanskoy die dicke
Aktenmappe zu, auf deren Deckel mit verschnörkelten Buchstaben zu
lesen war: „Michael Pürringer kontra Merenus Pfleger, vulgo Vogel-
bauer." Für heute war das Tagewerk beendigt. Er stand vom Schreibtisch
auf und ging zu dem weit geöffneten Fenster. Über die altersgrauen Haus-
dächer des kleinen Alpenstädtchens schweifte sein Blick bis zu den schnee-
bedeckten Bergriesen, die das Tal einschlossen.
Drüben am Berghang zog eine glitzernde Schlange dahin, der Nord-
Süd-Erpreß. Wie ein Grutz aus einer fernen Welt scholl jetzt ein Pfiff
der Lokomotive herüber. Geert dehnte die Arme. Da drüben lockte die
große, ferne, weite Welt. Er mußte bitter auflachen. Zugvogel hatte man
ihn einst genannt, damals vor Jahren, als noch die Jugend durch das Blut
brauste. Vorüber und vorbei! Dem Falken waren längst die Flügel gestutzt
worden, und er stak im Käfig des Alltags. Versonnen ging Doktor Lanskoys
Blick durch das Zimmer, bis er auf einigen bunten Mützen und verblaßten
Bändern haften blieb, die in einer Ecke hingen. Wohin waren sie alle zer-
streut worden, die Gefährten lustiger Tage? Und mit ihnen war unwieder-
bringlich vorbei die goldene Jugendzeit mit ihren großen Plänen. Mit einer

müden Handbewegung strich er über den Kopf der großen Dogge: „Ja,
du bist der einzige Getreue geblieben, Toro!"
Plötzlich richtete sich das Tier auf und knurrte leise. Es pochte an die
Tür. Verwundert richtete sich Geert auf. „Herein!" Sonderbar, wer kam
da ihn besuchen? In der Tür stand eine schlanke Damengestalt in grünem
Reisemantel. Ein kleiner Hut deckte das kurzgeschnittene Haar, nur eine
eigenwillige Lockensträhne quoll rostrot unter der Krempe hervor. Der
feingeschnittene Mund, das zarte Profil, die dunkeln Brauen über den
tiefblauen Augen — Geert fuhr sich über die Stirn. Narrte ihn ein Trug-
bild seiner Phantasie? Eine tiefe Stimme riß ihn aus seinem Staunen:
„Sie scheinen sehr verwundert, mich hier zu sehen?"
Da raffte Geert sich zusammen, auf seinem kantigen Gesicht erschienen
zwei jähe Falten: „Sie haben recht, gnädigste Gräfin, denn Ihren Besuch
hatte ich nicht erwartet!" Er streckte ihr die Hand entgegen: „Doch nun
heiße ich Sie willkommen —"
Eine abwehrende Bewegung der Dame: „Sie irren, Geert Lanskoy,
nicht Ihretwegen kam ich, sondern aus einem ganz anderen Grund."
Er schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht ganz —"



Tal . . ." / Nach einem Gemälde von Edmund Cteppes
 
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