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Frimmel, Theodor von [Hrsg.]
Blätter für Gemäldekunde — 1.1904-1905

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Heft 2
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Frimmel, Theodor von: Ein Pentiment bei Raffael
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https://doi.org/10.11588/diglit.20640#0050
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20

Nr. 2.

BLÄTTER FÜR GEMÄLDEKUNDE.

teilung für verfehlt, für schief. In die
Florentiner Zeit Raffaels, etwa so mitten
hinein zwischen die belle jardiniere und
die Madonna im Grünen, paßt das
Werk freilich nicht, aber zu Francesco
Francia paßt es noch weniger. Nicht
die mindeste Schwierigkeit liegt dagegen
vor, die drei Grazien in die Reihe der
Raffaelschen Werke zu stellen, die um
1500 entstanden sind, also nahe an den
kleinen Sankt Michael im Louvre, an
den Sankt Georg ebendort, an die
Krönung der Maria im Vatikan, an
das Kreuzbild bei Mond in London
und den Traum des Ritters in der
National Gallery in London. Ein
später Anklang, ein leises Erinnern an
die Grazien kommt an der Evagestalt
vor, die Raffael in der Stanza della
segnatura des Vatikan gemalt hat.’1')
Mit Ausnahme Springers haben sich
denn auch alle neueren und die mei-
sten älteren Kunstforscher zugunsten
des Raffaelschen Ursprungs ausgespro-
chen, was ich erwähne, nicht um die
Stimmen zu zählen, sondern um zu
erhärten, daß kein überzeugendes Argu-
ment gegen die Autorschaft Raffael
vorgebracht worden ist. Bei alledem
wird nicht verschwiegen, daß manche
Schwächen in der Zeichnung, besonders
der Füße, die Autorschaft des reifen
Raffael ausschließen und daß ein be-
glaubigendes Zeugnis aus der Zeit des
Künstlers nicht vorliegt.

Bei einer Federzeichnung der Gra-
zien, die ebenfalls auf das antike Vor-
bild in Siena hinweist und die man
lange dem Raffael zugeschrieben hat,
läßt sich nun aber die hohe Herkunft
nicht halten. Ich meine das bekannte
Blatt aus dem sogenannten venezia-
nischen Skizzenbuche in der Acca-
demia zu Venedig, das so oft kritisch
besprochen worden ist. Das erwähnte

*) Vergleichende Studien über die Ge-
sichtstypen der drei Grazien bei Koopmanns:
„Raffaels erste Arbeiten“ (1891, S. 20 ff, 28).

Skizzenbuch tauchte um 1800 in Parma
auf, gelangte an den Mailänder Sammler
Giuseppe Bossi, dann an Abbate Gelotti
und 1822 in den Besitz der veneziani-
schen Akademie der bildenden Künste.
Gelotti veröffentlichte es zuerst 1829 in
großen Stichen unter dem Titel „Disegni
originali di Raffaelo, per la prima
volta pubblicati esistenti nella imperial
regia Accademia di belle arti di Venezia“.
Als Bossi die Blätter kaufte, war nur
bei einigen von Raffaels Autorschaft
die Rede, und heute kann man in
keinem der Blätter Raffaels Hand an-
erkennen.'1')

Wer anders diese Zeichnungen ge-
fertigt hat, soll diesmal nicht erörtert
werden, auch wenn für einige Blätter
die Handdes Alessandro Araldi wahr-
scheinlich ist.*) **) Für uns genügt es,
daran zu erinnern, daß heute niemand
mehr an Raffael denkt und daß also
auch die Zeichnung der drei Grazien im
venezianischen Skizzenbuch nur ganz
äußerlich mit der Frage nach dem Bild-
chen in Chantilly zusammenhängt. Dann
gibt es noch eine wirklich Raffaelsche
Zeichnung in Windsor, die zwar die
Grazien darstellt, aber mit dem Bild-
chen in Chantilly nicht das mindeste
zu tun hat.

Anhang.

Wir verlassen Raffael und die An-
gelegenheit der Grazien, um bei deutschen
und niederländischen Meistern noch

*) Hierzu die Arbeiten von Robert Kahl
„Das venezianische Skizzenbuch“ (1882), Oskar
Fischei „Raphaels Zeichnungen“ f 1898) und
Alexander Ämersdorffer „Kritische Studien
über das venezianische Skizzenbuch“ (1901).
Ferner Schmarsow „Raphael und Pintu-
ricchio“ und dazu A. Springer im „Reper-
torium für Kunstwissenschaft“, IV, S. 396, und
V, S. 107 f., auch Carl Brun in demselben
Repertorium, XI, S. 107 ff. Aus der älteren
Literatur: Passavant: „Raphael“, II, S. 408.

**) Über diesen vergl. „Rassegna d’arte“,
1903, S. 133 ff.
 
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