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Tadeusz Dobrzeniecki

CRUCIFIXUS DOLOROSUS
CHRISTUSAM LEBENSBAUM
IM NATIONALMUSEUM WARSCHAU

Der in der Galerie MittelaIterliche Kunst befindliche Kruzif^us1 (Abb. 1,2, 6, 7,11)
aus der Breslauer Corpus-Christi-Kirche gehórt zu einer zahlreichen Gruppe von
Werken, der der 1304 geweihte Kruzifixus in der Kirche St. Maria im Kapitol zu Koln
den Anfang gab.

Die erste Quelle zum ideellen Kruzifixus-Gehalt findet man in Genesis II, 9:
Produxit Dominus Deus de humo omne lignum pulchrum visu et ad vescendum
suave; lignum etiam vitae in medio paradisi lignumque scientiae boni et mali.

Die Vorgeschichte und die Herkunft des Kruzifixus sind in der Erzahlung uber Seth
und den Lebensbaum uberliefert2. Diese Erzahlung, obwohl durch Kompilation
verschiedener biblischer und apokrypher Motive entstanden, weist jedoch einen
klaren, theologisch koharenten Leitgedanken auf: Da der Fali des Menschen durch
einen Paradiesesbaum verursacht wurde, wird auch die Erlósung an einem Baum-
kreuz vollbracht werden3. Diese Konzeption erwies sich ais dermalien effizient, dali sie
zwei anfanglich voneinander unabhangige Legenden zu einem einheitlichen Ganzen
verschmelzen liefi: 10 die von der Reise Seths, eines Sohnes Adams, ins Paradies und
2° die Geschichte des Baumes, aus dem das Kreuz Christi gemacht wurde.

Fur die Suche nach Belegen fur die ausschlaggebende Rolle der genannten
Erzahlung bei der Entstehung der besonderen Form desgotischen Kruzifixes sowie fur
das richtige Verstehen dieser Belege ist es erforderlich, der historischen Entwicklung
der inhaltlichen Motive dieser Erzahlung nachzugehen.

Die in der griechischen Fassung erhalten gebliebene aramaische Apokalypse des
Mose (verfalit um das Jahr 20-70 in Alexandrien) enthalt den fruhesten Bericht uber
die Reise Seths ins Paradies ais eine Episode aus dem Leben von Adam und Eva. Im 4.
Jh. entstand sicherlich die lateinische Entsprechung dieses Werkes: Vita Adae et Evae,
wo der kranke Adam alle seine Sohne zu sich ruft und Seth und Eva bittet, von Gott
das Ól vom paradiesischen Lebensbaum zu erflehen. Eva und Seth kommen in das
Paradies, doch der Erzengel Michael verweigert ihnen das „Ól des Lebens", wobei er
verspricht, dali dieses den Frommen am Ende der Tage zuteil werden wurde. Die
Legende von der Reise Seths ins Paradies kehrt im fruhchristlichen Apokryphen
Evangelium nach Nikodemus, eines Jungers Christi, wieder, das — ganz oder

1. Inv. śr. 5, Lindenholz, Polychromie auf Kreidegrund; die Ruckseite der Skulptur unbearbeitet; AusmaBe:
Hóhe 1,55 m, Spanne 1,25 m. Standig ausgestellt in der Galerie Mittelalterliche Kunst, Nationalmuseum
Warschau.

2. E.C. Quinn, The Quest of Seth for the Oil of Life, Chicago, 1962.

3. T. Dobrzeniecki, „Legenda o Secie i Drzewie Życia w sztuce średniowiecznej”, Rocznik Muzeum
Narodowego w Warszawie, X, 1966, S. 165-198. Aus diesem Aufsatz stammt die hier angefuhrte
Entwicklungsgeschichte dieser Legende, ebenda die detaillierte Bibliographie zu diesem Thema. Zitat aus
Vita Beate Marie Virginis et Salvatoris rhytmica- nach Ausgabe der Bibliothek des Literarischen Vereins in
Stuttgart, Tubingen, 1988.

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