Bulletin du Musée National de Varsovie (37.1996)

Rüdiger Klessmann

Jan Lievens und die Utrechter
Caravaggisten *

Jan Lievens war ein Maler von Historien, Allegorien, Bildnissen und
Landschaften, ein bewundernswerter Zeichner und Schöpfer druckgraphischer
Blätter. Trotz dieser vielseitigen Begabung spielt er im allgemeinen Bewußtsein
nur eine bescheidene Rolle. Wer Lievens kennenlernen möchte, wird immer erst
auf Rembrandt verwiesen, denn beide erscheinen am Anfang ihrer Laufbahn
künstlerisch wie ein Zwillingspaar, in dem Rembrandt vermeintlich den Ton
angibt. Beide sind in Leiden aufgewachsen, wo Lievens 1607 geboren wurde;
sie gehörten derselben sozialen Schicht an und lebten in nahe benachbarten
Häusern. Rembrandt war ein Jahr älter. Nach dem Abschluß ihrer Ausbildung
als Maler, die sie zeitweise bei denselben Meistern verbrachten, schloß sich das
Freundespaar in Leiden zusammen, um für die ersten Jahre eine gemeinsame
Basis zu finden. Lievens verfügte zu dieser Zeit über mehr Erfahrungen als
Rembrandt. Es verwundert nicht, daß sie alsbald auch Rivalen wurden.

Bei einem Ausflug in die kunsthistorische Literatur kann man schnell
feststellen, daß Lievens - trotz des gemeinsamen Werdegangs - in der Regel
unter den Schülern Rembrandts zu finden ist, einem traditionellen Vorurteil
folgend, daß ein einmal als Genie erkannter Mensch stets auch die Führerrolle
übernommen hat. Die außerordentlichen Fähigkeiten von Lievens machten sich
früh bemerkbar. Schon mit acht Jahren kam der kleine Jan in die Lehre zu dem
Leidener Maler Joris van Schooten. Zu seiner weiteren Ausbildung brachte ihn
der Vater nach Amsterdam zu dem als Italienkenner berühmten Pieter Lastman,
der später auch Rembrandts Lehrer werden sollte. Mit etwa 14 Jahren kehrte
Lievens nach Leiden zurück und arbeitete von nun an im Hause seiner Eltern
selbständig als Maler, ln diesem Alter malte Lievens, das Wunderkind, ein
Bildnis seiner Mutter, das wegen seiner Meisterschaft allgemeines Aufsehen
erregte. Rembrandt begann erst in diesem Jahr als Lehrling bei dem Leidener
Historienmaler Jacob van Swanenburgh.

* Gekürzte Fassung eines Vortrags beim Caravaggisten-Symposium im Nationalmuseum Warschau
am 14.Oktober 1996.

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