das Wort „romanischer Barock“ auf die Lippen drängt, erlaubt die Datierung der Handschrift auf Ende
des XII. oder Änfang des XIII. Jahrhunderts. Die übertriebene manierierte Bewegtheit des Gewandes,
verbunden mit stärkerer Plastik des Körpers, kommtÄnfang der 90er Jahre auf; beide nehmenÄnfang
des XIII. Jahrhunderts noch zu und finden besonders lebhaften Äusdruck in dem sog. zackigen Stil, der
zuerst im zweiten Jahrzehnt saec. XIII zu belegen ist (Psalter des Landgrafen Hermann von Thüringen)
und sich stellenweise bis weit hinein in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hält. Ich möchte Clm. 3901
ziemlich an den Änfang dieser Epoche romanischer Malerei setzen, denn es fehlen noch die kurven-
artig ausfahrenden Gesten, die Änfang des Jahrhunderts dann fast überall auftreten, z. B. bei Konrad
von Scheyern oder in der Berthold-Handschrift aus Weingarten in Holkham Hall. Die Schrift zeigt auch
noch keinerlei gotische Brechung, sondern ist durchaus romanisch. Äußerdem aber wäre es bei einer
Änsetzung von Clm. 3901 in das zweite oder dritte Jahrzehnt saec. XIII nicht gut denkbar, daß neben
den barock bewegten Initialen die teilweise ziemlich retrospektiven der Hand 2 stehen. Zwar sind auch
die Figuren dieses Künstlers plastischer als frühere und die Technik der Federzeichnung mit gemalten
Schatten ebenso ausgeprägt als bei Hand 1, aber Figur und Gewand sind doch nicht von der starken
Bewegung ergriffen wie bei Hand 1, die alten linearen Schemata sind unveränderter und steifer und
stehen denen der früheren Darstellungen näher. Der Gesamteindruck ist im ganzen weniger kraus, nur
der Paulus fol. 234 wirkt durch den Reichtum des schönen Faltenwerks etwas moderner.
Berlin Cod. germ. fol. 282
Das Werk unserer Schule, das in der zeitlichen Äbfolge an Clm. 3901 anzuschließen ist, befindet
sich nicht in München, eine reguläre Äusgabe der Miniaturen desselben kann darum hier nicht erwartet
werden. Äber es gehört so durchaus in unsere Reihe, ist entwicklungsgeschichtlich so wichtig und so
reich mit Miniaturen ausgestattet, daß es hier nicht übergangen werden kann.
Ich spreche von der bekannten Eneit-Handschrift in Berlin (Staatsbibliothek Cod. germ. fol. 2821
Da ich die nicht auf den ersten Blick ersichtliche stilistische Übereinstimmung ihrer Miniaturen mit
Regensburg-Prüfeninger Werken an anderer Stelle gezeigt zu haben glaube (Monatshefte für Kunstwissen-
schaft 1923) und eine genaue Beschreibung des Codex und seiner Miniaturen existiert (Margarete Hudig-
Frey, Die alteste Illustration derEneide des Heinrichvon Veldeke, Straßburg, Heitz 1921), kannichmich
hier damit begnügen, die Berliner Miniaturen in die regensburg-prüfeningische Stilentwicklung einzureihen.
Das Streben der Miniatoren von Clm. 13074 und 3901 ging einerseits auf Plastik der Formgebung,
andererseits auf Belebung und malerische Bereicherung der Erscheinung. Dieselben Tendenzen zeigt
auch die Eneit in Berlin, aber sie sind viel stärker geworden, der Wunsch nach Plastik noch mehr als
der nach Lebendigkeit. In den beiden obengenannten Handschriften bewegten sie sich noch in harmo-
nischem Spiel, in der Eneit aber geraten sie in eine Ärt Konflikt. Die ganz wildeBewegung des Gewandes
steht dem Wunsche, die Körper mit klar umrissenen Formen plastisch zur Geltung zu bringen, natur-
gemäß im Wege. Äuf keine der beiden Qualifäten aber will der Künstler verzichten. Er findet deshalb
diesen Äusweg: die malerische Bewegtheit wird auf die stoffreichen, langen Frauenärmel und auf die
palliumartigen Tücher der Männer, auf die seitlich der Beine und zwischen ihnen herunterhängenden
Gewandteile und den Bausch über dem Gürtel beschränkt. Daneben aber stehen dann Teile, die oft fast
ohne Innenzeichnung bleiben (vornehmlich Oberkörper und Ärme), an denen das Gewand eng wie eine
Haut anliegt und die infolgedessen in ihrer plastischen Erscheinung klar hervortreten. Die Ärt, wie der
Künstler dabei vorgeht, erscheint fast naiv. Die Konturen der Teile, bei denen das Gewand eng anliegt,
besonders der Beine, werden glatt durchgezogen und dann in denkbar unorganischer Weise ganze Bündel
flalternder Tütenfalten seitlich angefügt und bewegte Faltenkomplexe dazwischen gezeichnet. So stehen
dieFiguren oderTeile derselben manchmal wie in einem Trikot vor einerFolie bewegter Faltenmassen.
Die besten Beispiele dafür sind Dido, die sich ins Schwert stürzt, und die stehende Lavinia.
Älso ein Nebeneinander mehr als ein Ineinander malerisch bewegter und plastisch klar ersichtlicher
Teile, ein unvermittelter Kontrast zwischen beiden und infolgedessen ein durchaus unnatürliches, aber
reiches Gesamtbild. Dieser Versuch, beidem gerecht zu werden, der Plastik der Form sowohl, als der
Freude an reicher Bewegtheit, ist eine durchaus individuelle Leistung des Eneit-Künstlers. In anderen
gleichzfcitigen Miniaturen trifft man nie dieses streng getrennte äußerliche Nebeneinandersetzen bewegter
und unbewegter Teile und noch weniger das Durchzeichnen der Körperkonturen durch die Gewandung
in dieser rücksichtslos skelettierenden Ärt.
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des XII. oder Änfang des XIII. Jahrhunderts. Die übertriebene manierierte Bewegtheit des Gewandes,
verbunden mit stärkerer Plastik des Körpers, kommtÄnfang der 90er Jahre auf; beide nehmenÄnfang
des XIII. Jahrhunderts noch zu und finden besonders lebhaften Äusdruck in dem sog. zackigen Stil, der
zuerst im zweiten Jahrzehnt saec. XIII zu belegen ist (Psalter des Landgrafen Hermann von Thüringen)
und sich stellenweise bis weit hinein in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hält. Ich möchte Clm. 3901
ziemlich an den Änfang dieser Epoche romanischer Malerei setzen, denn es fehlen noch die kurven-
artig ausfahrenden Gesten, die Änfang des Jahrhunderts dann fast überall auftreten, z. B. bei Konrad
von Scheyern oder in der Berthold-Handschrift aus Weingarten in Holkham Hall. Die Schrift zeigt auch
noch keinerlei gotische Brechung, sondern ist durchaus romanisch. Äußerdem aber wäre es bei einer
Änsetzung von Clm. 3901 in das zweite oder dritte Jahrzehnt saec. XIII nicht gut denkbar, daß neben
den barock bewegten Initialen die teilweise ziemlich retrospektiven der Hand 2 stehen. Zwar sind auch
die Figuren dieses Künstlers plastischer als frühere und die Technik der Federzeichnung mit gemalten
Schatten ebenso ausgeprägt als bei Hand 1, aber Figur und Gewand sind doch nicht von der starken
Bewegung ergriffen wie bei Hand 1, die alten linearen Schemata sind unveränderter und steifer und
stehen denen der früheren Darstellungen näher. Der Gesamteindruck ist im ganzen weniger kraus, nur
der Paulus fol. 234 wirkt durch den Reichtum des schönen Faltenwerks etwas moderner.
Berlin Cod. germ. fol. 282
Das Werk unserer Schule, das in der zeitlichen Äbfolge an Clm. 3901 anzuschließen ist, befindet
sich nicht in München, eine reguläre Äusgabe der Miniaturen desselben kann darum hier nicht erwartet
werden. Äber es gehört so durchaus in unsere Reihe, ist entwicklungsgeschichtlich so wichtig und so
reich mit Miniaturen ausgestattet, daß es hier nicht übergangen werden kann.
Ich spreche von der bekannten Eneit-Handschrift in Berlin (Staatsbibliothek Cod. germ. fol. 2821
Da ich die nicht auf den ersten Blick ersichtliche stilistische Übereinstimmung ihrer Miniaturen mit
Regensburg-Prüfeninger Werken an anderer Stelle gezeigt zu haben glaube (Monatshefte für Kunstwissen-
schaft 1923) und eine genaue Beschreibung des Codex und seiner Miniaturen existiert (Margarete Hudig-
Frey, Die alteste Illustration derEneide des Heinrichvon Veldeke, Straßburg, Heitz 1921), kannichmich
hier damit begnügen, die Berliner Miniaturen in die regensburg-prüfeningische Stilentwicklung einzureihen.
Das Streben der Miniatoren von Clm. 13074 und 3901 ging einerseits auf Plastik der Formgebung,
andererseits auf Belebung und malerische Bereicherung der Erscheinung. Dieselben Tendenzen zeigt
auch die Eneit in Berlin, aber sie sind viel stärker geworden, der Wunsch nach Plastik noch mehr als
der nach Lebendigkeit. In den beiden obengenannten Handschriften bewegten sie sich noch in harmo-
nischem Spiel, in der Eneit aber geraten sie in eine Ärt Konflikt. Die ganz wildeBewegung des Gewandes
steht dem Wunsche, die Körper mit klar umrissenen Formen plastisch zur Geltung zu bringen, natur-
gemäß im Wege. Äuf keine der beiden Qualifäten aber will der Künstler verzichten. Er findet deshalb
diesen Äusweg: die malerische Bewegtheit wird auf die stoffreichen, langen Frauenärmel und auf die
palliumartigen Tücher der Männer, auf die seitlich der Beine und zwischen ihnen herunterhängenden
Gewandteile und den Bausch über dem Gürtel beschränkt. Daneben aber stehen dann Teile, die oft fast
ohne Innenzeichnung bleiben (vornehmlich Oberkörper und Ärme), an denen das Gewand eng wie eine
Haut anliegt und die infolgedessen in ihrer plastischen Erscheinung klar hervortreten. Die Ärt, wie der
Künstler dabei vorgeht, erscheint fast naiv. Die Konturen der Teile, bei denen das Gewand eng anliegt,
besonders der Beine, werden glatt durchgezogen und dann in denkbar unorganischer Weise ganze Bündel
flalternder Tütenfalten seitlich angefügt und bewegte Faltenkomplexe dazwischen gezeichnet. So stehen
dieFiguren oderTeile derselben manchmal wie in einem Trikot vor einerFolie bewegter Faltenmassen.
Die besten Beispiele dafür sind Dido, die sich ins Schwert stürzt, und die stehende Lavinia.
Älso ein Nebeneinander mehr als ein Ineinander malerisch bewegter und plastisch klar ersichtlicher
Teile, ein unvermittelter Kontrast zwischen beiden und infolgedessen ein durchaus unnatürliches, aber
reiches Gesamtbild. Dieser Versuch, beidem gerecht zu werden, der Plastik der Form sowohl, als der
Freude an reicher Bewegtheit, ist eine durchaus individuelle Leistung des Eneit-Künstlers. In anderen
gleichzfcitigen Miniaturen trifft man nie dieses streng getrennte äußerliche Nebeneinandersetzen bewegter
und unbewegter Teile und noch weniger das Durchzeichnen der Körperkonturen durch die Gewandung
in dieser rücksichtslos skelettierenden Ärt.
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