DIE REICHENAUER BUCHMALEREI
DR. ALBERT BOE
DIE GESCHICHTE DER REICHEN-
auer Buchmalerei schreiben heißt die größte
und einflußreichste europäische Malschule des
10. und 11. Jahrhunderts in ihrer Entstehung
und Entwicklung verfolgen. Die Reichenauer Er-
zeugnisse überragen alle anderen dieser Zeit an
künstlerischer Kraft und Eigenart (nur englische
Werke des 10. Jahrhunderts können vielleicht
neben ihnen bestehen).
Und doch sprechen wir erst seit verhältnismäßig
kurzer Zeit von Miniaturen der Reichenau. Man
kannte zunächst nur den Codex E g b e r 11 in
Trier. Seine Entstehung in der Augia dives war
inschnftlich gesichert, und die eigenartige Schön-
heit seiner Bilder bezeugte die Bedeutung der
Insel auf diesem Gebiet.
Aber die Trierer Handschrift blieb vereinzelt. Die
Bestände der Reichenauer Bibliothek, die bei der
Säkularisation nach Karlsruhe gekommen waren,
gaben nicht das Bild einer blühenden Malschule,
das man nach den Quellen erwartete, noch we-
niger das einer Entwicklung. Außer etlichen
schönen Initialen bringen sie nur eine einzige Mi-
niatur (das Witigowobild in CCV) und diese von
auffallend geringer Qualität.
Gleichwohl waren die Werke, die wir heute rei-
chenauisch nennen, zum großen Teil längst be-
kannt; der Prunk ihrer Ausstattung hatte schon
im 18. Jahrhundert die Augen der Reisenden auf
sie gelenkt. Aber diese Handschriften boten kei-
nerlei feste Handhabe zu einer Lokalisierung auf
Reichenau — etwa durch Einträge oder Inhalt—,
waren überdies weit verstreut und von verschie-
denster Provenienz.
So bedeutete es den ersten Schritt vorwärts, als
1887 Adolf von Oechelhäuser in seiner Habilita-
tionsschrift ,Die Miniaturen der Universitäts-
bibliothek in Heidelberg“ die Reichenauer Ent-
stehung des Petershausener Sakramentars nach-
wies und damit den ganzen, zum großen Teil schon
CKLER/BERLIN
bekannten Handschriftenkomplex um diesen Codex
— die sog. Eburnant-Gruppe — ebenfalls
für die Pirminsstiftung in Anspruch nahm.
Im Jahre 1891 folgte dann Voeges grundlegende
Arbeit .Eine deutsche Malerschule um die Wende
des 1. Jahrtausends“. Hier sind eine ganze An-
zahl eng verwandter Handschriften als Erzeug-
nisse einer Schule zusammengestellt und be-
handelt, die trotz ihrer Beziehungen zum Codex
Egberti und den Wandmalereien in Oberzell zu-
nächst nach Kö’n gesetzt wurden, weil der eine Co-
dex von einem Kölner Kanonikus (Hillmus) gestif-
tet ist. Eine neue Lokalisierung der Schule nach
Trier befriedigte ebensowenig. Erst Haseloffs
sorgfältige und scharfsinnige Untersuchungen
(Haseloff - Sauerland, Der Psalter des Erz-
bischofs Egbert von Trier) entschieden 1901 die
Frage. Sie führten zur einwandfreien Lokali-
sierung dieser sog. Voege-Gruppe, die nun den
Namen Liuthar-Gruppe bekam, auf die Rei-
chenau und erweiterten außerdem den Kreis der
Reichenauer Denkmäler um den Egbert-Psalter
und seine Verwandten: die Ruodprecht-
Gruppe.
Damit war die Hauptarbeit geleistet.
Problematisch war nur noch die Frühzeit (von
der Gründung bis zur ersten Hälfte des 10. Jahr-
hunderts). Im .Repertorium für Kunstwissen-
schaft' 1903 versuchte Swarzenski, Werke die-
ser Periode festzustellen und zugleich das kunst-
geschichtliche Verhältnis zu St. Gallen zu fixieren.
Seme Ausführungen wurden aber 1912 durch
Merton’s St. Galler.er Buchmalerei stark berich-
tigt, und Merton gibt nun als erster eine ganz
gedrängte Zusammenstellung des Reichenauer
Materials.
Eine zusammenfassende Darstellung der Rei-
chenauer Miniaturmalerei fehlt noch. Als Ver-
such einer solchen mögen die folgenden Ausfüh-
DR. ALBERT BOE
DIE GESCHICHTE DER REICHEN-
auer Buchmalerei schreiben heißt die größte
und einflußreichste europäische Malschule des
10. und 11. Jahrhunderts in ihrer Entstehung
und Entwicklung verfolgen. Die Reichenauer Er-
zeugnisse überragen alle anderen dieser Zeit an
künstlerischer Kraft und Eigenart (nur englische
Werke des 10. Jahrhunderts können vielleicht
neben ihnen bestehen).
Und doch sprechen wir erst seit verhältnismäßig
kurzer Zeit von Miniaturen der Reichenau. Man
kannte zunächst nur den Codex E g b e r 11 in
Trier. Seine Entstehung in der Augia dives war
inschnftlich gesichert, und die eigenartige Schön-
heit seiner Bilder bezeugte die Bedeutung der
Insel auf diesem Gebiet.
Aber die Trierer Handschrift blieb vereinzelt. Die
Bestände der Reichenauer Bibliothek, die bei der
Säkularisation nach Karlsruhe gekommen waren,
gaben nicht das Bild einer blühenden Malschule,
das man nach den Quellen erwartete, noch we-
niger das einer Entwicklung. Außer etlichen
schönen Initialen bringen sie nur eine einzige Mi-
niatur (das Witigowobild in CCV) und diese von
auffallend geringer Qualität.
Gleichwohl waren die Werke, die wir heute rei-
chenauisch nennen, zum großen Teil längst be-
kannt; der Prunk ihrer Ausstattung hatte schon
im 18. Jahrhundert die Augen der Reisenden auf
sie gelenkt. Aber diese Handschriften boten kei-
nerlei feste Handhabe zu einer Lokalisierung auf
Reichenau — etwa durch Einträge oder Inhalt—,
waren überdies weit verstreut und von verschie-
denster Provenienz.
So bedeutete es den ersten Schritt vorwärts, als
1887 Adolf von Oechelhäuser in seiner Habilita-
tionsschrift ,Die Miniaturen der Universitäts-
bibliothek in Heidelberg“ die Reichenauer Ent-
stehung des Petershausener Sakramentars nach-
wies und damit den ganzen, zum großen Teil schon
CKLER/BERLIN
bekannten Handschriftenkomplex um diesen Codex
— die sog. Eburnant-Gruppe — ebenfalls
für die Pirminsstiftung in Anspruch nahm.
Im Jahre 1891 folgte dann Voeges grundlegende
Arbeit .Eine deutsche Malerschule um die Wende
des 1. Jahrtausends“. Hier sind eine ganze An-
zahl eng verwandter Handschriften als Erzeug-
nisse einer Schule zusammengestellt und be-
handelt, die trotz ihrer Beziehungen zum Codex
Egberti und den Wandmalereien in Oberzell zu-
nächst nach Kö’n gesetzt wurden, weil der eine Co-
dex von einem Kölner Kanonikus (Hillmus) gestif-
tet ist. Eine neue Lokalisierung der Schule nach
Trier befriedigte ebensowenig. Erst Haseloffs
sorgfältige und scharfsinnige Untersuchungen
(Haseloff - Sauerland, Der Psalter des Erz-
bischofs Egbert von Trier) entschieden 1901 die
Frage. Sie führten zur einwandfreien Lokali-
sierung dieser sog. Voege-Gruppe, die nun den
Namen Liuthar-Gruppe bekam, auf die Rei-
chenau und erweiterten außerdem den Kreis der
Reichenauer Denkmäler um den Egbert-Psalter
und seine Verwandten: die Ruodprecht-
Gruppe.
Damit war die Hauptarbeit geleistet.
Problematisch war nur noch die Frühzeit (von
der Gründung bis zur ersten Hälfte des 10. Jahr-
hunderts). Im .Repertorium für Kunstwissen-
schaft' 1903 versuchte Swarzenski, Werke die-
ser Periode festzustellen und zugleich das kunst-
geschichtliche Verhältnis zu St. Gallen zu fixieren.
Seme Ausführungen wurden aber 1912 durch
Merton’s St. Galler.er Buchmalerei stark berich-
tigt, und Merton gibt nun als erster eine ganz
gedrängte Zusammenstellung des Reichenauer
Materials.
Eine zusammenfassende Darstellung der Rei-
chenauer Miniaturmalerei fehlt noch. Als Ver-
such einer solchen mögen die folgenden Ausfüh-