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DER EROTISCHE KÖRPER
Ärmel, die kniende trägt nur eine camicia, hat aber schon die Ärmel
des gelben Kleides angezogen, das über der Schulter ihrer Kollegin
liegt.356 Mit dem hochgeschobenen camicia-Aimel leitet sie auf das
Thema Entdecken-Verhüllen über. Sie hält nämlich mit ihrer rechten
Hand den Deckel der Truhe halb offen, den die Kniende mit ihrem
Kopf stützt. Ebenso thematisiert der halb hochgeschlagene Vorhang
vor der ihrerseits die Bildfläche halbierenden Wand die Frage der
Sichtbarkeit. Das Bild, das im Unterschied zu Giorgiones «Venus»
durch eine begehbare, «reale» Raumsituation überzeugte und so das
Geschehen im Alltag des Cinquecento verankerte, ist in Wahrheit
durch formale und thematische Analogien strukturiert, ähnlich wie
bei Giorgiones Korrespondenz zwischen Körper- und Landschaftsfor-
men. Das Gemälde folgt seiner eigenen künstlerischen Ordnung und
nur scheinbar der der Natur.
Ein intimeres Netz von Analogien entfaltet Tizian am Körper
der Frau. Arasse weist darauf hin, daß die Achselhöhle von Giorgio-
nes Venus frei zu sehen ist, allerdings ist sie wie ihr Geschlecht völlig
unbehaart. Tizian verändert dies auf signifikante Weise: Die Achsel-
höhle der Figur ist wegen der anderen Armposition nicht zu sehen,
doch läßt er wie in Stellvertretung des Achselhaares üppiges Haupt-
haar über sie fallen. Schambehaarung malt auch er nicht, doch sugge-
riert er sie dem Betrachter durch den tiefen Schatten, den er an diese
Stelle legt. In gleicher Entfernung wie von der «behaarten Achsel» zu
ihrem Geschlecht liegt auf der anderen Seite der Schoßhund mit sei-
nem dichten Fell. So kann Tizian, ohne intime Behaarung zu zeigen,
das Thema voll entfalten.357
Eine weitere Verschiebung läßt sich Arasses Beobachtungen
hinzufügen: Ist mit ihrer linken Hand eine leichte kraulende Bewe-
gung angedeutet - wiederum anders als bei Giorgione, wo die Hand
stiller ruht - kann man doch nicht sehen, was sie berührt. Dafür ist
gut sichtbar, wie sie mit der anderen Hand, die sich auf der gleichen
Höhe undin einer ähnlichen Position befindet, in das kleine Blumen-
bouquet greift, aus dem sich eine Blüte gelöst hat. Durch diese Paral-
DER EROTISCHE KÖRPER
Ärmel, die kniende trägt nur eine camicia, hat aber schon die Ärmel
des gelben Kleides angezogen, das über der Schulter ihrer Kollegin
liegt.356 Mit dem hochgeschobenen camicia-Aimel leitet sie auf das
Thema Entdecken-Verhüllen über. Sie hält nämlich mit ihrer rechten
Hand den Deckel der Truhe halb offen, den die Kniende mit ihrem
Kopf stützt. Ebenso thematisiert der halb hochgeschlagene Vorhang
vor der ihrerseits die Bildfläche halbierenden Wand die Frage der
Sichtbarkeit. Das Bild, das im Unterschied zu Giorgiones «Venus»
durch eine begehbare, «reale» Raumsituation überzeugte und so das
Geschehen im Alltag des Cinquecento verankerte, ist in Wahrheit
durch formale und thematische Analogien strukturiert, ähnlich wie
bei Giorgiones Korrespondenz zwischen Körper- und Landschaftsfor-
men. Das Gemälde folgt seiner eigenen künstlerischen Ordnung und
nur scheinbar der der Natur.
Ein intimeres Netz von Analogien entfaltet Tizian am Körper
der Frau. Arasse weist darauf hin, daß die Achselhöhle von Giorgio-
nes Venus frei zu sehen ist, allerdings ist sie wie ihr Geschlecht völlig
unbehaart. Tizian verändert dies auf signifikante Weise: Die Achsel-
höhle der Figur ist wegen der anderen Armposition nicht zu sehen,
doch läßt er wie in Stellvertretung des Achselhaares üppiges Haupt-
haar über sie fallen. Schambehaarung malt auch er nicht, doch sugge-
riert er sie dem Betrachter durch den tiefen Schatten, den er an diese
Stelle legt. In gleicher Entfernung wie von der «behaarten Achsel» zu
ihrem Geschlecht liegt auf der anderen Seite der Schoßhund mit sei-
nem dichten Fell. So kann Tizian, ohne intime Behaarung zu zeigen,
das Thema voll entfalten.357
Eine weitere Verschiebung läßt sich Arasses Beobachtungen
hinzufügen: Ist mit ihrer linken Hand eine leichte kraulende Bewe-
gung angedeutet - wiederum anders als bei Giorgione, wo die Hand
stiller ruht - kann man doch nicht sehen, was sie berührt. Dafür ist
gut sichtbar, wie sie mit der anderen Hand, die sich auf der gleichen
Höhe undin einer ähnlichen Position befindet, in das kleine Blumen-
bouquet greift, aus dem sich eine Blüte gelöst hat. Durch diese Paral-