Über Giebelgruppen.
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poetisch entwickelte Anlaß der Kentaurenkämpfe dargestellt, sondern diese
selbst sollten wiederum nur als der Ausdruck eines politischen Gedankens
verwertet werden, den wir nicht erst zu formulieren, sondern nur dem
Isokrates (Helen. § 25—26) zu entlehnen brauchen: Theseus hat sich als
Wohltäter Athens und der Hellenen bewährt, indem er als Bundesgenosse
der Lapithen die Kentauren züchtigte, die durch ihre Schnelligkeit und
Stärke hellenische Städte teils verwüstet hatten, teils mit Verwüstung be-
drohten. So ordnen sich beide Friese leicht einer gemeinsamen Idee unter:
Theseus und die Athener als Schützer der Unterdrückten und Rächer der
Unterdrücker.
Nur eine Erweiterung dieses Ideenkreises ist es, der auch die Metopen
zu dienen bestimmt sind. Schon früher hat man mit guten Gründen die
Tatsache gerechtfertigt, daß in den Metopen Herakles neben Theseus, ja
durch die Stelle, welche die Darstellung seiner Taten an der Vorderseite
des Tempels einnimmt, fast noch mehr als Theseus verherrlicht scheint. Die
Athener rechneten es sich zum Verdienst an, dem Herakles zuerst göttliche
Ehren erwiesen zu haben, und gerade Theseus ist es, der in dei' Anerken-
nung dieses seines Vorbildes voranging, man möchte sagen, um für die An-
erkennung seiner eigenen Taten eine desto sicherere Gewähr zu finden, ja
sogar um sich über sein Vorbild zu erheben. "Αλλος ούτος 'Ηρακλής und
ούκ ανεν Θηΰεως (Plut. Thes. c. 29): das sind die beiden Sätze, die sich
durch den ganzen Mythos des Theseus hindurchziehen und die ebenso im
Bewußtsein des athenischen Volkes leben. Herakles verrichtete seine Taten
nur gezwungen aut Befehl des Eurystheus, und manche derselben brachten
der Welt nicht einmal Nutzen, sondern nur ihm Gefahr; Theseus dagegen
unterzog sich den Gefahren aus eigenem Antrieb, um ein Wohltäter der
Hellenen und seines Vaterlandes zu werden: so belehrt uns Isokrates (a. a. 0.).
Wir brauchen aber nur ihm (Paneg. 60; Panathen. 194) und dem. Lysias
(Epitaph. 12—16) noch weiter zu folgen, um erst völlig zu verstehen, wes-
halb am Ostfries der Kampf gegen Eurystheus dargestellt war: Herakles,
der gewaltige, die menschliche Natur überragende Held, der von Zeus er-
zeugt schon als Sterblicher göttliche Kraft hatte, mußte sich der Botmäßig-
keit und schmählichen Behandlung eines Eurystheus unterwerfen. Als aber
Eurystheus es wagte, in frevelhaftem Übermute die Athener anzugreifen, da
wandte sich das Schicksal dermaßen, daß er wegen der Kinder des Helden
sein Leben mit Schmach und Schimpf endete.
Über Giebelgruppeii.*)
(1888.)
Die Masse neuen Stoffes, welcher der Archäologie in den letzten zwei
Jahrzehnten zugeführt worden ist, macht es dem einzelnen unmöglich, allen
durch diese Vermehrung angeregten Fragen die gleiche Sorgfalt zuzuwenden.
*) Sitzungsberichte der Bayer. Akad. d. W., philos.-philol. CI., 1888, II 2
S. 171—200.
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poetisch entwickelte Anlaß der Kentaurenkämpfe dargestellt, sondern diese
selbst sollten wiederum nur als der Ausdruck eines politischen Gedankens
verwertet werden, den wir nicht erst zu formulieren, sondern nur dem
Isokrates (Helen. § 25—26) zu entlehnen brauchen: Theseus hat sich als
Wohltäter Athens und der Hellenen bewährt, indem er als Bundesgenosse
der Lapithen die Kentauren züchtigte, die durch ihre Schnelligkeit und
Stärke hellenische Städte teils verwüstet hatten, teils mit Verwüstung be-
drohten. So ordnen sich beide Friese leicht einer gemeinsamen Idee unter:
Theseus und die Athener als Schützer der Unterdrückten und Rächer der
Unterdrücker.
Nur eine Erweiterung dieses Ideenkreises ist es, der auch die Metopen
zu dienen bestimmt sind. Schon früher hat man mit guten Gründen die
Tatsache gerechtfertigt, daß in den Metopen Herakles neben Theseus, ja
durch die Stelle, welche die Darstellung seiner Taten an der Vorderseite
des Tempels einnimmt, fast noch mehr als Theseus verherrlicht scheint. Die
Athener rechneten es sich zum Verdienst an, dem Herakles zuerst göttliche
Ehren erwiesen zu haben, und gerade Theseus ist es, der in dei' Anerken-
nung dieses seines Vorbildes voranging, man möchte sagen, um für die An-
erkennung seiner eigenen Taten eine desto sicherere Gewähr zu finden, ja
sogar um sich über sein Vorbild zu erheben. "Αλλος ούτος 'Ηρακλής und
ούκ ανεν Θηΰεως (Plut. Thes. c. 29): das sind die beiden Sätze, die sich
durch den ganzen Mythos des Theseus hindurchziehen und die ebenso im
Bewußtsein des athenischen Volkes leben. Herakles verrichtete seine Taten
nur gezwungen aut Befehl des Eurystheus, und manche derselben brachten
der Welt nicht einmal Nutzen, sondern nur ihm Gefahr; Theseus dagegen
unterzog sich den Gefahren aus eigenem Antrieb, um ein Wohltäter der
Hellenen und seines Vaterlandes zu werden: so belehrt uns Isokrates (a. a. 0.).
Wir brauchen aber nur ihm (Paneg. 60; Panathen. 194) und dem. Lysias
(Epitaph. 12—16) noch weiter zu folgen, um erst völlig zu verstehen, wes-
halb am Ostfries der Kampf gegen Eurystheus dargestellt war: Herakles,
der gewaltige, die menschliche Natur überragende Held, der von Zeus er-
zeugt schon als Sterblicher göttliche Kraft hatte, mußte sich der Botmäßig-
keit und schmählichen Behandlung eines Eurystheus unterwerfen. Als aber
Eurystheus es wagte, in frevelhaftem Übermute die Athener anzugreifen, da
wandte sich das Schicksal dermaßen, daß er wegen der Kinder des Helden
sein Leben mit Schmach und Schimpf endete.
Über Giebelgruppeii.*)
(1888.)
Die Masse neuen Stoffes, welcher der Archäologie in den letzten zwei
Jahrzehnten zugeführt worden ist, macht es dem einzelnen unmöglich, allen
durch diese Vermehrung angeregten Fragen die gleiche Sorgfalt zuzuwenden.
*) Sitzungsberichte der Bayer. Akad. d. W., philos.-philol. CI., 1888, II 2
S. 171—200.
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