Über tektonischen Stil in griechischer Plastik und Malerei.
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setzt werde; es soll nicht den Eindruck erwecken, als ob es uns enteile; es
sucht die Beziehung zu uns, indem es uns anblickt. Man vergleiche nur
einige Sphinxdarstellungen (besonders die marmorne von Spata), die offenbar
einzeln auf Säulen oder Pfeilern als Grabmonumente aufgestellt waren (Mitt,
d. ath. Inst. IV S. 68; T. 5; Brunn-Bruckmann, Taf. 66a): auch sie blicken
nicht in der Längenrichtung des Körpers, sondern wenden den Kopf nach
der Seite, offenbar dem Beschauer entgegen. Ja in einer kleinen olympischen
Bronze [Ausgrab, von Olympia IV T. 48, Nr. 819] haben offenbar ähnliche
Rücksichten den Künstler sogar veranlaßt, die Sphinx mit einem Doppel-
gesicht auszustatten, um sie nach zwei entgegengesetzten Richtungen blicken
zu lassen.
Wir werden aber zur Erklärung der Stellung des Oberkörpers noch
einen anderen Umstand in Betracht ziehen müssen: die Gestalt ist geflügelt.
Bei einer ruhig stehenden menschlichen Gestalt wie bei einer Sphinx hätten
die Elügel mehr oder weniger gehoben und mit ihren Spitzen der Längen-
richtung des Körpers folgend gestellt werden können; bei einer laufenden
mußten sie wie zum Fluge ausgebreitet sein. Denken wir uns nun Kopf
und Oberkörper in der Richtung der Bewegung des Unterkörpers, so würden
die Flügel durch ihre den Körper kreuzende Stellung nicht nur einen Ein-
druck fast wie Windmühlenflügel machen, sondern ihre technische Ausführung
würde derartige Schwierigkeiten verursachen, daß sogar eine vorgeschrittene
Kunst wahrscheinlich zu dem Auskunftsmittel hätte greifen müssen, sie aus
besonderen Stücken dem Körper anzufügen. Die delische Statue ist aber,
auch wenn wir von der Behandlung der Flächen im einzelnen noch ganz
absehen, nicht, man gestatte den Ausdruck, in einen gerundeten Marmorblock
hineingedacht, sondern per forza di levare aus einer starken Platte heraus-
gearbeitet. Diese Entstehung drängt sich dem Beschauer so entschieden
auf, daß er unwillkürlich den dadurch bedingten tektonischen Forderungen
bei der Beurteilung Rechnung trägt. Hierbei darf ich wohl an die Be-
merkung erinnern, zu der ich im vorigen Jahre [S. 102] durch die Kompo-
sition der melischen Bellerophon- und Perseusreliefs veranlaßt wurde: „wie
der Künstler, was im Raume aufeinanderfolgen sollte, übereinander ordnet,
so vergessen wir auch die zeitliche Aufeinanderfolge und fassen das Ganze
in einen einheitlichen Gedanken . . . zusammen“. In durchaus analoger Weise
hat hier der Künstler von einer einfachen Nachahmung der Wirklichkeit ab-
gesehen und strebt vielmehr nach Deutlichkeit im Ausdrucke seiner Gedanken.
Wir sollen erkennen, einesteils daß die Figur in schnellem Laufe begriffen
ist, anderenteils, daß dieser Lauf durch die Bewegung der Flügel unterstützt
wird, wobei er uns überläßt, diese beiden getrennt behandelten Motive in
unserer Phantasie zu einer Einheit zusammenzufassen.
Den beiden Statuen von Delos und der von Samos ist also gemeinsam,
daß auf ihre Gestaltung tektonische Prinzipien von entscheidendem Einflüsse
gewesen sind. Untereinander verglichen, stehen sich die beiden delischen
näher und treten in einen Gegensatz zu der von Samos. Wir werden es
nicht wohl als Zufall betrachten dürfen, daß der eine Künstler von einem
runden Stamme, die anderen von einem vierkantigen Balken oder einer
starken Platte ausgingen: es liegt vielmehr nahe, schon diese Wahl auf
zeitlich oder örtlich verschiedene Grundanschauungen zurückzuführen. Hier-
bei werden wir von vornherein geneigt sein, in der Statue von Samos ein
Brunn. Kleine Schriften. II. 9
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setzt werde; es soll nicht den Eindruck erwecken, als ob es uns enteile; es
sucht die Beziehung zu uns, indem es uns anblickt. Man vergleiche nur
einige Sphinxdarstellungen (besonders die marmorne von Spata), die offenbar
einzeln auf Säulen oder Pfeilern als Grabmonumente aufgestellt waren (Mitt,
d. ath. Inst. IV S. 68; T. 5; Brunn-Bruckmann, Taf. 66a): auch sie blicken
nicht in der Längenrichtung des Körpers, sondern wenden den Kopf nach
der Seite, offenbar dem Beschauer entgegen. Ja in einer kleinen olympischen
Bronze [Ausgrab, von Olympia IV T. 48, Nr. 819] haben offenbar ähnliche
Rücksichten den Künstler sogar veranlaßt, die Sphinx mit einem Doppel-
gesicht auszustatten, um sie nach zwei entgegengesetzten Richtungen blicken
zu lassen.
Wir werden aber zur Erklärung der Stellung des Oberkörpers noch
einen anderen Umstand in Betracht ziehen müssen: die Gestalt ist geflügelt.
Bei einer ruhig stehenden menschlichen Gestalt wie bei einer Sphinx hätten
die Elügel mehr oder weniger gehoben und mit ihren Spitzen der Längen-
richtung des Körpers folgend gestellt werden können; bei einer laufenden
mußten sie wie zum Fluge ausgebreitet sein. Denken wir uns nun Kopf
und Oberkörper in der Richtung der Bewegung des Unterkörpers, so würden
die Flügel durch ihre den Körper kreuzende Stellung nicht nur einen Ein-
druck fast wie Windmühlenflügel machen, sondern ihre technische Ausführung
würde derartige Schwierigkeiten verursachen, daß sogar eine vorgeschrittene
Kunst wahrscheinlich zu dem Auskunftsmittel hätte greifen müssen, sie aus
besonderen Stücken dem Körper anzufügen. Die delische Statue ist aber,
auch wenn wir von der Behandlung der Flächen im einzelnen noch ganz
absehen, nicht, man gestatte den Ausdruck, in einen gerundeten Marmorblock
hineingedacht, sondern per forza di levare aus einer starken Platte heraus-
gearbeitet. Diese Entstehung drängt sich dem Beschauer so entschieden
auf, daß er unwillkürlich den dadurch bedingten tektonischen Forderungen
bei der Beurteilung Rechnung trägt. Hierbei darf ich wohl an die Be-
merkung erinnern, zu der ich im vorigen Jahre [S. 102] durch die Kompo-
sition der melischen Bellerophon- und Perseusreliefs veranlaßt wurde: „wie
der Künstler, was im Raume aufeinanderfolgen sollte, übereinander ordnet,
so vergessen wir auch die zeitliche Aufeinanderfolge und fassen das Ganze
in einen einheitlichen Gedanken . . . zusammen“. In durchaus analoger Weise
hat hier der Künstler von einer einfachen Nachahmung der Wirklichkeit ab-
gesehen und strebt vielmehr nach Deutlichkeit im Ausdrucke seiner Gedanken.
Wir sollen erkennen, einesteils daß die Figur in schnellem Laufe begriffen
ist, anderenteils, daß dieser Lauf durch die Bewegung der Flügel unterstützt
wird, wobei er uns überläßt, diese beiden getrennt behandelten Motive in
unserer Phantasie zu einer Einheit zusammenzufassen.
Den beiden Statuen von Delos und der von Samos ist also gemeinsam,
daß auf ihre Gestaltung tektonische Prinzipien von entscheidendem Einflüsse
gewesen sind. Untereinander verglichen, stehen sich die beiden delischen
näher und treten in einen Gegensatz zu der von Samos. Wir werden es
nicht wohl als Zufall betrachten dürfen, daß der eine Künstler von einem
runden Stamme, die anderen von einem vierkantigen Balken oder einer
starken Platte ausgingen: es liegt vielmehr nahe, schon diese Wahl auf
zeitlich oder örtlich verschiedene Grundanschauungen zurückzuführen. Hier-
bei werden wir von vornherein geneigt sein, in der Statue von Samos ein
Brunn. Kleine Schriften. II. 9