Troische Miszellen. Briseis und Peleus.
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ihm verlangen dürfen, daß er mit der Wahl einen bestimmten Gedanken
verband; und wir dürfen vermuten, daß bei der Allgemeinheit und der
durchaus typischen Behandlung der dargestellten, fast aktionslosen Situation
dieser Gedanke in einer Beziehung des Innenbildes zu den Außenbildern
liegen wird. Das hat auch Heydemann gefühlt, und er sagt deshalb: „Der
Troische Krieg ist längst vorüber, die Helden sind in ihr Vaterland heim-
gekehrt; die Gefangenen aber, welche der Tod verschont hat, genießen die
schöne Milde der Sieger; dies ist der Grundgedanke des Innenbildes.“ Aber
weshalb wählte der Künstler zu diesem Zwecke die Briseis? Gerade sie
durfte, sofern dieser Gedanke ausgedrückt werden sollte, nicht mit einer
der nach der Einnahme Ilions als Beute verteilten Frauen, einer Andro-
mache, einer Kassandra auf eine Linie gestellt werden. Sie lebte mit
Achill in einem tatsächlichen ehelichen Verhältnis, man möchte sagen, in
einer Gewissensehe, für welche eine spätere Legitimierung in Aussicht ge-
stellt war (II. 19, 298). Wenn sie also Neoptolemos mit sich in das groß-
väterliche Haus führt, so ist dort ihre Stellung dem Wesen nach die der
Witwe des Achilleus. Neoptolemos aber, obwohl er sie wie eine Mutter
ehrt, ist doch nicht ihr eigener Sohn; ja noch mehr, wir dürfen in unserer
Phantasie ergänzen, daß sie auch dieser Stütze bald beraubt wurde, da
Neoptolemos noch vor Peleus vom Tode ereilt wurde. Peleus, der über-
lebende, ist allerdings der Gatte der Thetis, die als Unsterbliche ihm nicht
im Tode vorangehen kann. Aber nachdem der aus dieser widerwillig ein-
gegangenen Ehe entsprossene Sohn dem Schicksal verfallen war, was konnte
da die Göttin noch an den greisen Peleus fesseln? Sie ist, wenigstens vom
poetischen Standpunkte aus, die Unsterbliche, die Nereide. So bleibt dem
Peleus nur Briseis, die Geliebte des Sohnes, der Briseis nur Peleus, der
Vater des Geliebten. Schon so betrachtet gewinnt das Bild des Brygos
einen wehmütigen Inhalt. Doch damit noch nicht genug! Die Hoffnung
auf eine freudige Zukunft ist der Briseis nicht weniger als dem Peleus ab-
geschnitten. Um so enger leben sie vereint in der Erinnerung an die Ver-
gangenheit. Oft mögen beide laut geklagt haben über das Schicksal des
Sohnes, des Geliebten. Aber auch dieser laute Schmerz wird gemildert
durch die Zeit. Von der geliebten Person als dem Mittelpunkte der Er-
innerung wendet sich die Aufmerksamkeit auf weitere Kreise der Umgebung,
auf die Folgen der früheren Großtaten, auf das Ganze des Krieges, in dessen
Mittelpunkt die Persönlichkeit des Achilleus stand. So tritt nun Briseis vor
Peleus als liebevolle Pflegerin seines Alters; sie bietet dem Greise einen
stärkenden Trunk; aber auch Geist und Gemüt soll von Schmerz und Kum-
mer zwar nicht befreit, aber doch erleichtert werden, und darum erzählt
Briseis dem Peleus die Geschichte von Ilions Untergang. Was
sie erzählt, das sehen wir in dem Außenbilde wirklich dargestellt; und da
Briseis es ist, welche es schildert, so tritt zugleich vor unsere Phantasie
die Gestalt des Achilleus, der zwar an dem Schlüsse der Katastrophe nicht
selbst, sondern nur durch seinen Sohn teilnahm, aber das Ende durch seine
früheren Taten vorbereitet hatte. So erweitert sich die Darstellung der
Schale des Brygos von einer Iliupersis zur Idee einer ganzen und vollen Ilias.
Wenn sich der Gedankeninhalt des Ganzen in einer einzigen Zeile zu-
sammenfassen läßt, so wird sich meiner Deutung wenigstens Einfachheit
nicht absprechen lassen. Wie ich aber bei der Erklärung der Schale des
Brunn, Kleine Schriften. III. 9
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ihm verlangen dürfen, daß er mit der Wahl einen bestimmten Gedanken
verband; und wir dürfen vermuten, daß bei der Allgemeinheit und der
durchaus typischen Behandlung der dargestellten, fast aktionslosen Situation
dieser Gedanke in einer Beziehung des Innenbildes zu den Außenbildern
liegen wird. Das hat auch Heydemann gefühlt, und er sagt deshalb: „Der
Troische Krieg ist längst vorüber, die Helden sind in ihr Vaterland heim-
gekehrt; die Gefangenen aber, welche der Tod verschont hat, genießen die
schöne Milde der Sieger; dies ist der Grundgedanke des Innenbildes.“ Aber
weshalb wählte der Künstler zu diesem Zwecke die Briseis? Gerade sie
durfte, sofern dieser Gedanke ausgedrückt werden sollte, nicht mit einer
der nach der Einnahme Ilions als Beute verteilten Frauen, einer Andro-
mache, einer Kassandra auf eine Linie gestellt werden. Sie lebte mit
Achill in einem tatsächlichen ehelichen Verhältnis, man möchte sagen, in
einer Gewissensehe, für welche eine spätere Legitimierung in Aussicht ge-
stellt war (II. 19, 298). Wenn sie also Neoptolemos mit sich in das groß-
väterliche Haus führt, so ist dort ihre Stellung dem Wesen nach die der
Witwe des Achilleus. Neoptolemos aber, obwohl er sie wie eine Mutter
ehrt, ist doch nicht ihr eigener Sohn; ja noch mehr, wir dürfen in unserer
Phantasie ergänzen, daß sie auch dieser Stütze bald beraubt wurde, da
Neoptolemos noch vor Peleus vom Tode ereilt wurde. Peleus, der über-
lebende, ist allerdings der Gatte der Thetis, die als Unsterbliche ihm nicht
im Tode vorangehen kann. Aber nachdem der aus dieser widerwillig ein-
gegangenen Ehe entsprossene Sohn dem Schicksal verfallen war, was konnte
da die Göttin noch an den greisen Peleus fesseln? Sie ist, wenigstens vom
poetischen Standpunkte aus, die Unsterbliche, die Nereide. So bleibt dem
Peleus nur Briseis, die Geliebte des Sohnes, der Briseis nur Peleus, der
Vater des Geliebten. Schon so betrachtet gewinnt das Bild des Brygos
einen wehmütigen Inhalt. Doch damit noch nicht genug! Die Hoffnung
auf eine freudige Zukunft ist der Briseis nicht weniger als dem Peleus ab-
geschnitten. Um so enger leben sie vereint in der Erinnerung an die Ver-
gangenheit. Oft mögen beide laut geklagt haben über das Schicksal des
Sohnes, des Geliebten. Aber auch dieser laute Schmerz wird gemildert
durch die Zeit. Von der geliebten Person als dem Mittelpunkte der Er-
innerung wendet sich die Aufmerksamkeit auf weitere Kreise der Umgebung,
auf die Folgen der früheren Großtaten, auf das Ganze des Krieges, in dessen
Mittelpunkt die Persönlichkeit des Achilleus stand. So tritt nun Briseis vor
Peleus als liebevolle Pflegerin seines Alters; sie bietet dem Greise einen
stärkenden Trunk; aber auch Geist und Gemüt soll von Schmerz und Kum-
mer zwar nicht befreit, aber doch erleichtert werden, und darum erzählt
Briseis dem Peleus die Geschichte von Ilions Untergang. Was
sie erzählt, das sehen wir in dem Außenbilde wirklich dargestellt; und da
Briseis es ist, welche es schildert, so tritt zugleich vor unsere Phantasie
die Gestalt des Achilleus, der zwar an dem Schlüsse der Katastrophe nicht
selbst, sondern nur durch seinen Sohn teilnahm, aber das Ende durch seine
früheren Taten vorbereitet hatte. So erweitert sich die Darstellung der
Schale des Brygos von einer Iliupersis zur Idee einer ganzen und vollen Ilias.
Wenn sich der Gedankeninhalt des Ganzen in einer einzigen Zeile zu-
sammenfassen läßt, so wird sich meiner Deutung wenigstens Einfachheit
nicht absprechen lassen. Wie ich aber bei der Erklärung der Schale des
Brunn, Kleine Schriften. III. 9