Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Buttlar, Adrian von
Der englische Landsitz: 1715-1760 : Symbol eines liberalen Weltentwurfs — Mittenwald: Mäander, 1982

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.61312#0097
Lizenz: Creative Commons - Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
DER LANDSITZ ALS BEDEUTUNGSTRÄGER

IV DER LANDSITZ ALS SYMBOLISCHER ORT
1. Ökonomie und Ästhetik:
Zum Wandel der Primärfunktion
Die praktische, ökonomische und gesellschaftliche Funktion der Landsitze war seit
der Renaissance nur geringfügigen Veränderungen unterworfen. Damals hatten sich
neue große Familien als Grundbesitzer und Feudalherrn etabliert und im Laufe der Zeit
ihre wirtschaftliche Position und ihren politischen Einfluß immer weiter ausgedehnt.
Das repräsentative manor-house oder Landschloß fungierte als Familienstammsitz. Es
war mit seiner Front zumeist zum Dorf orientiert und bildete mit seinen formalen
Gärten einen ummauerten und aus der Landschaft ausgegrenzten Bezirk. Das von hier
ausstrahlende radiale Alleensystem, wie es in extremer Form z. B. im älteren Wanstead
bei London vor 1715 (Abb. 16) ausgebildet war, erweist das manor-house als „Primär-
topos“ des gesamten ländlichen Distrikts, als beherrschendes kulturelles, ökonomi-
sches und gesellschaftliches Zentrum.
Nun, nach der “Glorious Revolution” von 1688, kam es zu einer neuen Landnahme
durch aufsteigende städtische Schichten.420 Handelskapital wurde in Grundbesitz
investiert, denn Landwirtschaft, Holzwirtschaft, Vieh- und insbesondere Schafzucht
warfen im 18. Jahrhundert noch steigende Renditen ab. Die Anlage des neuen, durch
Handel und Gewerbe, durch Kolonialbesitz oder Beteiligung an den großen Übersee-
gesellschaften, teils auch durch riskante Börsengeschäfte, zielstrebige Heiratspolitik
und entsprechende Erbschaften akkumulierten Kapitals in Grundbesitz, stellte zwar
nicht die gewinnträchtigste, aber langfristig sicherste Investition dar.
Die Privatisierung von Gemeindeland (Einhegungen) auf der Basis der verschiedenen
“acts of enclosure” erreichte erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ihren Höhe-
punkt421. Wichtiger aber war noch, daß Grundbesitz vor allem den neuen sozialen
Status sicherte und nach außen dokumentierte, sowie - als Folge des Wahlsystems und
der Institutionen des “local government” - den damit verbundenen politischen Einfluß
garantierte.
Zunächst hat es den Anschein, als ginge der neue Landsitztypus noch ganz aus ari-
stokratischem, „feudalem Großgrundbesitz“ (Sedlmayr)422 hervor. Tatsächlich aber ist
die starke vertikale Mobilität innerhalb des englischen Adelssystems zu berücksich-
tigen. Es gab zwar - durch Reichtum und Einfluß abgesteckte - Klassenschranken, aber
keine hermetisch gegeneinander abgeschlossenen Stände wie etwa in Preußen. Einer-
seits war der eingesessene Hochadel zunehmend selbst am Wirtschaftsleben beteiligt,
andererseits erbte nur der erste Sohn Titel und Grundbesitz, während die anderen
“commoners” wurden und sich sogar „bürgerlichen“ Berufen widmeten. Schließlich

95
 
Annotationen