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einzigen großen Künstlergeiste zur Aufgabe geworden wäre. Jahrhunderte lang
haben verschieden geartete Geister und Hände geschaffen am Camposanto von
Pisa, und neben den gewaltigen Todes- und Weltgerichtsbildern des Oreagna
lachen die heitern Darstellungen Benozzo Gozzolis, feiert Noah die erste Wein-
lese und baut Nimrod den Babylonischen Thurm — und erzählt jener unbe-
kannte alte Meister in reizender Naivetät die Geschichten Hiobs. In strengerer
Einheit pflegt sich der malerische Schmuck altdeutscher, schweizerischer, franzö-
sischer Friedhöfe zusammenzusassen, aber es ist auch eben nur die eine, schaurig
monotone Melodie des Todtentanzes mit ihren immer wiederkehrenden Modu-
lationen — höchstens daß ein Bild des Gekreuzigten aus die lange Kette der
Tanzenden herabblickt, daß eine Darstellung des Fegfeuers oder des jüngsten
Gerichts in mehr oder minder nahem Zusammenhang sich anschließt.
Was Raphael im Vatikan, was Michel Angelo (in der Sixtinischen Kapelle)
und andere große Meister vor ihm an bedeutsamen Bildersolgen auf Wände
und Decken getragen, geht seinerseits von dem Grundgedanken der Gruft
nicht aus, und dient, wenn nicht der Pracht des weltlichen Herrscherthums, doch
dem Glanz der triumphirenden Kirche.
So dürfen wir — und das war der Hinblick, in dem diese einleitenden
Betrachtungen sich unwiderstehlich uns aufdrängten — mit Fug die Behauptung
aussprechen, daß der größte deutsche, ja europäische Künstler der Gegenwart
in dem Schmuck der Berliner Friedhofhalle eine Ausgabe gefunden hat, wie sie
in solchem räumlichen und gedanklichen Umfange noch von keinem der glor-
reichsten Vorgänger gelöst war. Und wenn wir jetzt schüchtern und doch freudig
daran gehen, das Werk des Meisters in seiner Ganzheit und Gliederung näher
zu besprechen, so dürfen wir wohl vornweg auch des unvergeßlichen Fürsten in
Ehren gedenken, der diese Aufgabe gedacht und gestellt hat. Es war ein Ge-
danke, des christlichen Monarchen, wie des Freundes und Kenners christlicher
Kunst in gleichem und höchstem Grade würdig, — und es sollte ihm auch be-
schieden sein, die Ausführung dieses Gedankens in die würdigste Hand zu legen.
Mag es immerhin zweifelhaft sein, ob jener Dom und seine Gräberhallen sich
erheben, ihre Wände sich mit dem feierlichen Schmuck dieser Bilder bekleiden
werden, — die vervielfältigende Schwesterkunst wenigstens wird das anvertraute
Samenkorn des Entwurfs nicht verloren gehen lassen, und jene leichten Umrisse
werden Stein und Mauerwerk überdauern.
Aber richten wir uns wenigstens in Gedanken diese Halle auf, denken wir
sie uns, wie sie der Geist des Künstlers in seinen Schöpferstunden vollendet ge-
sehen. Auch räumlich schon ist hier ein Außerordentliches geboten: ein weites
Quadrat dehnen sich ihre Wände aus, hundert und achtzig Fuß eine jede.
Durch die westliche führt nahe am Dom der Eingang von Außen her, durch
die Mitte der südlichen ein anderer in den Dom selber, in der Mitte der öst-
lichen ein dritter hinab in die königliche Gruft der Hohenzollern — alle drei
die Vertheilung des Bilderschmucks verschiedenartig mitbedingend. So hat die
Südwand über dem Domportal und gegenüber an entsprechender Stelle auch
die Nordwand ein Mittelbilld, dem zur Rechten und Linken je zwei große
Darstellungen — wir wollen sie Hauptbilder nennen — von Lünetten über-
 
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