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Verfasser stellt sich damit in die Reihe der „exakten" Forscher, welche auch in
der Kunstgeschichte an Stelle der Spekulation und Construktion die Frage nach
dem thatsächlichen Bestände und urkundlichen Belege treten lassen wollen. Nach
zwei Punkten hin hat H. Graf seine Forschung gerichtet. Zuerst versucht er
„zur Geschichte des Strebebogens," dieses Hauptelements des gothischen
Kirchenbaues, ohne welches die vollkommene Auslösung der Massen und das freie,
lichte Emporsteigcn nicht möglich geworden wäre, eine Ergänzung dessen zu
geben, was bereits Wollet-le-duc in seinem Vicllionrmirs ramonnö 1854 nach-
gewiesen hat. Dieser berühmte französische Baumeister und Forscher hat den
Strebebogen abgeleitet aus den frühesten Versuchen einer Mittelschiffwölbung
im mittleren und südlichen Frankreich, welche in der Zweiten Hälfte des Ilten
Jahrhunderts beginnend bereits den statischen Gedanken des Strebebogens, wenn
auch noch in schwerer Masse, in sich schloß und nach einem Jahrhundert im
Bau der Abteikirche von St. Denis endlich in klarer Ausprägung als gothischen,
„d. h. französischen" Styl darstellte. Ursprungsland der Gothik, als deren
eigentliches Zeichen nicht blos der Spitzbogen, sondern vielmehr der Strebe-
bogen angesehen werden soll, ist unwidersprechlich das alte Francien (in
welchem deutsch-fränkisches mit keltisch-roumnischem Element noch nicht so ver-
schmolzen war, wie fetzt), kraft der Stelle in der Kronik des Kollegiatstists zu
Wimpfen im Thal, worin der Mönch Burckhard von Hall berichtet, daß diese
Kirche von 1259 an durch einen Baumeister, der kurz zuvor von Paris gekom-
men war, oxsrs Irauci^eiro, nach der in Francien entstandenen Bauweise
erbaut sei. War aber nun eben der Strebebogen, als das structive Mittel,
welches die Leistung der mittelalterlichen Baukunst erst zur vollen Entfaltung
gelangen ließ, die „Erfindung" eines Einzelnen oder einer einzelnen Bauhütte,
als geniale That, wie unsere bedeutendsten Kunstgeschichtschreiber aunahmeu?
Nein, behauptet vr. Graf, der Strebebogen ist nicht frei erfunden, sondern
gewissermaßen naturnothweudig erwachsen wie Blüte und Frucht aus Wurzel
und Stamm der Pflanze. Und dieß sucht er nachzuweisen, indem er an Viollet-
le-duc anknüpfend, welcher den Ursprung des Strebebogens in den Halbtonnen-
überwölbungen der Seitenschiffe so mancher auvergnatischen Kirchen sah, die
Frage stellt: „Aus welchem geschichtlichen Zusammenhänge hat sich die technische
Möglichkeit jenes südfranzösischen Halbtonnensystems ergeben, das wir als eine
Vorstufe des gothischen Strebebogensystems zu erkennen haben?" Die in der
zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts erbaute Kirche Notre-Name du Port in
Cleruwnt-Ferrand, der Hauptstadt der Auvergne, gilt als Anfang und Vorbild
der Stützung des Mittelschiffgewölbeschubs durch Halbtonnengewölbe über den
!L>eitenschisfen. Wenn man nur an denjenigen Punkten der weiterhin im Kreuz
überwölbten Mittelschiffe, welche allein der Stützung bedürfen, das Halbtonnen-
gewölbe über den Seitenschiffen stehen und die übrigen, nutzlosen Theile Weg-
fällen ließ, fo stand der Strebebogen da „gewissermaßen naturnothwendig er-
wachsen." Der Strebebogen also keine Erfindung, sondern ein Gewächs? Auch
hier Naturentwickluug, keine Schöpferthat? Doch wohl nicht! Denn der Ban-
meister, welcher zuerst gefunden hätte, daß man kein Halbtonnengewölbe als
 
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