Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule u. Haus — 50.1908

DOI Heft:
Nr. 3 (März 1908)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.44122#0095
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
76

Leidenschaft Rogers, der kräftigen, schönen Prosa van Eycks, der charakteri-
sierenden Erregtheit des van der Goes das Freundliche, Sonnige, Liebens-
würdige als das ganz Neue heransgefühlt. Das liegt wohl nicht allein am
Blut, das durch seine Adern floß, sondern auch an der künstlerischen Schulung
oder doch Erziehung, die Memling genoß, bevor er die flandrische Kunst in
ihrer Heimat aufsuchte. Darüber läßt sich heute schwer etwas Sicheres sagen.
Aber Kämmerers Ansicht, daß er von dem Kölner Stephan Lochner Unter-
weisung oder doch Anregung empfangen, besitzt einigen Anspruch auf Richtig-
keit. Die schlichte freundliche Stille des Kölners findet in Memlings Werk
manchen Anklang.
Die Zahl der Gemälde kann trotz der Kunstforschung, die heute gerade in
der allflandrischen Bilderbcnennung fürchterliche Musterung hält, als recht be-
trächtlich gelten. Eine große Zahl von Galerien nennt einen oder mehrere
Memling ihr Eigentum. Aber man mutz Brügge besucht haben, um ihn ganz
lieben zn können.
Das Brügge seiner Zeit war neben Venedig die erste Handelsstadt Europas.
Es zählte damals 150 000 Seelen. Die Herzöge von Burgund herrschten
mit großer Pracht und Gewalt, und mit ihnen rang unausgesetzt ein zäher,
selbstherrischer Bürgersinn. Der Reichtum der Stadt war groß. Heute ist sie
still geworden. Aber fast scheint es, als ob man in der gleichen Zeit bliebe,
wenn man aus der steilen und schweren Liebfrauenkirche heraustritt und sich
durch den Torgang zu dem Memlingsaal des Johannesspitals wendet. Das ist
nicht ganz leicht, Memling in der Mitte einer rauschenden und geschäftigen Stadt
sich vorzustellen. Aber wir denken uns, wie die Stadt heute still geworden, hat
sie auch damals stille Inseln gehabt. Hier in diesem Haus der Mildtätigkeit
war der rechte Platz für die Arbeit eines solchen Meisters.
Aus dem heutigen Brügge schreiten wir rascher lind unmittelbar zur Kunst
Memlings, als wenn nur den Umweg über unser Wissen von der Geschichte
und dem Gepränge der alten Stadt nehmen. Seine Sprache hat man immer
verstanden, und es wurde auch uns vererbt, daß man Memling lieben muß,
ohne zum geschichtlichen Begreifen gezwungen zu sein. Bei ihm sieht man nicht
die Zeit, die Kultur, das Kostüm, sondern allein jene über die Jahrhunderte
gleichen Menschenwerte einer reinen und frohen Seele, einer reinlichen Emp-
findung, einer poetischen Durchfühlung des Stoffes.
Diese Worte sollen nicht sagen, daß es sich um einen allzu weichen oder-
weiblichen Charakter handelt. Die so weichen Naturen pflegen enge zu sein und
nur über wenige Melodien zu verfügen, denen sie sich immer wieder mit
träumendem Sehnen überlassen. Memling aber ist nm den Stoff nicht verlegen.
Allerdings wiederholt und variiert auch er sich zu verschiedenen Malen. Das
ist aber nicht verwunderlich bei einem gesuchten Künstler, der den Wünschen der
Auftraggeber nachkommen mutz. Denn man malte damals noch nicht für den
freien Kunstmarkt, sondern allein für die Wünsche des Bestellers. Daß man
mit dem Wort Lieblichkeit nicht das ganze Wesen des Künstlers auszuschöpfen
vermag, das lehrt ein Blick auf die festen und kräftigen Bildnisse von Männern
 
Annotationen