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Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule u. Haus — 51.1909

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Nr. 11 (November 1909)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44121#0355
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Maienzeit, Pfingstzeit, Erntezeit, Winterzeit, Osterzeit wird in der katho-
lischen Kirche in Symbolen gefeiert. Und dafür hat gerade das Landvolk,
das mit der Natur lebt in all ihren Phasen, das von der Mutter Erde
so sinnlich greifbar Segen und Fluch, Glück und Unglück empfängt, — ein
feines Gefühl. Die Unberechenbarkeit alles Erntegedeihens, die tausend
unvorhergesehenen Zufälligkeiten, das Wunder des Wachstums aus dunklem
Schoße, die unbewußte Schönheit des Halms, der Garbe, der Blumen,
der Trauben, der Apfel und Birnen — das alles entsteht in wunderbarem
Wesen all Jahr vor den Augen des Landmanns. Er ist von Kindesbeinen
mit diesem Weben und Wogen verwachsen — er lebt und stirbt ein jed
Jahr damit — warum sollte er nicht eine innerlichste Beziehung des Ge-
mütes, der „Religion" zu der Kirche haben von Jugend auf, die ihm diese
Wunder des Lebens deutet, symbolisiert, segnet, in rhythmisch geprägten
Formen Liturgien und Festen darbringt?
Wir Protestanten sind mit unsrem Urteil schnell fertig: Das ist eben
Heidentum — das ist Naturreligion! —
Läßt sich aber Religion und Natur überhaupt ganz scheiden? Hat
nicht nur der Bauer, sondern auch der Handwerker, der Arbeiter, der
Soldat, jeder arbeitende Mensch — eine wunderbare Verbindung mit den
Objekten und Mitteln seiner Arbeit? Ist es nicht wie ein wunderbarer Zu-
sammenhang zwischen Roß und Reiter? Bringen wir nicht unwillkürlich
die wunderbare Gestalt von Zeppelins Luftschiff in einen Zusammenhang
mit dem Geist des Erfinders — Gestalt und Kraft in wunderbarer naturhaft-
seelischer Beziehung?
Ls sagte mir einmal eine sehr intelligente, hochgebildete Dame, die vom
Katholizismus zum Protestantismus übergetreten war: „Je mehr Sie dem
Volk in Ihrer Religion das Wunderbare nehmen, um so mehr werden Sie
den Boden verlieren." Ich verstand das Wort damals nicht, oder falsch.
And die meisten werden es auch so tun und sagen: Also sollten wir das Volk
wieder ins Reich des Dämonenglaubens hinabstürzen. Nein! '
Ich glaube, daß man über den Unterschied zwischen Aberglauben,
Dämonenglauben, rohem Wunderglauben — und einem geläuterten, aber
religiös bestimmten Glauben an den wunderbaren Zusammenhang zwischen
Natur und Geistesleben noch nicht klar genug nachgedacht hat. Man wundert
sich, warum im Katholizismus die intelligentesten Männer teilhaben können
an der Symbolik und dem Wunderglauben ihrer Kirche. Wir haben keinen
Grund, sie alle für jesuitische Diplomaten zu halten. Sie haben die Form
geläuterter Naturmystik, die es auch im Protestantismus gibt, und die
vielleicht eines Tages als Reaktion gegen das Abergewicht des äußeren
Intellektualismus wieder durchbricht. Was hält Peter Rosegger noch in
Zusammenhang mit seiner Kirche? — deren Natnrmystik. Es ist nicht
Schwäche, es ist eine Naturanlage der Seele des Dichters.
Da nun nicht ein jeder ein Dichter ist, so dürften wir damit auch
den Schlüssel für unsre Kirche gewonnen haben. Man muß in unsrer evan-
 
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