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Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule u. Haus — 55.1913

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Nr. 11 (November 1913)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44561#0427
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Nr. N

397

Christliches Kunstblatt für Kirche, Zchule und Haus

menschlichen Tätigkeiten verschiedenes Geistesvermögen: dies ist das Genie, d. h.
das vermögen der originalen ästhetischen Erzeugung, die nicht nach vorbestimmten
Regeln geschieht. Kant stellt das Genie über die Kritik. Das Genie gibt erst
das Matz der Dinge, die ästhetischen Regeln. Die nachfolgende Kritik ist ab-
hängig von ihnen. Kant als Ästhetiker ist also wesentlich bescheidener dem
Künstlertum gegenüber als manche andere Philosophen. Gerade in der Kritik
des Schaffens religiöser Kunst wird uns die Maxime Kants für Wertung des
Genies willkommen sein. Das Genie ist exemplarisch, sein Schaffen ist bewußt
und notwendig und doch absichtslos wie eine Naturgewalt. Kant beschränkt
das Vorkommen des Genies auf die Kunst. Das Genie kann Kunst als etwas
völlig Naturhaftes nur produzieren, wenn es eine Intelligenz ist, die
völlig als Natur wirkt. Diese Wirkung eines Menschenwesens im Sinne
der Naturnotwendigkeit ist Tatsache, aber unbegreiflich, im Gegensatz zu Leistungen
der Wissenschaft, die auch von „größten Köpfen" vollbracht werden als etwas
Begreifliches. — Windelband will diese Beschränkung nicht gelten lassen. Wir
werden aber, namentlich wenn wir Religion und Kunst als wesensverwandte
Dinge nehmen, Kunst dann im Sinn des vom sittlichen Bewußtsein des Genies
geschaffenen und erkämpften Erhabenen, gerade von theologischer Seite aus Kant
zustimmen. Kants Anschauung, daß der Künstler mit jedem Schritt ein neues
unlernbares Geheimnis produziere, auch in noch überragender auf die Produktion
des religiösen Genies übertragen. Kant sagt, die wissenschaftlichen Leistungen
der „großen Köpfe" seien nur quantitativ von denen des gewöhnlichen Menschen
verschieden. In den Werken Newtons sei nichts, was der gewöhnliche verstand
nicht nachrechnend begreife. Wissenschaftliche Größe sei zu erwerben, die künst-
lerische Größe nicht, denn sie ist eine Gabe der Natur. Windelband sagt, Kant
sei der beste Beweis gegen seinen eigenen Geniebegriff. Dagegen möchte ich
sagen, daß Kants Genialität von religiös-ethischer Intuition ist, die in das Reich
des Übersinnlichen hinübergreift, gerade dadurch, daß er die subjektiven Schranken
des Erkennens feststellt. Newton und mit ihm alle wissenschaftlich Großen brechen
nur Bahn im Reiche des sinnlich Erreichbaren. Nicht nur aus dem religiösen
Propheten, sondern auch — und das will ja Kant allein gelten lassen — aus
dem Künstler (Dichter, Maler, Musiker) kommen naturnotwendige intelligente
Wirkungen, die den Sieg des übersinnlichen Wesens des Menschen verkündigen
und verwirklichen.
Daß Goethe und vor allem Schiller in Kants ästhetischen Definitionen die
ganze Wahrheit fanden, ist der beste Beweis für Kants Kongenialität mit dem
Wesen der Künstlerschaft. Und wenn z. B. Windelband anerkennt, daß bis auf
den heutigen Tag Kant das Tiefste gesagt hat über Ursprung der ästhetischen
Auffassung und Produktionsweise des künstlerischen Genies, so halten wir Theologen
uns bei diesem fachhistorischen Urteil mehr noch als an die reine Ästhetik Kants
an seine Begriffswelt von der Bedeutung des Erhabenen, dankbar, daß wir für
unsre Theorie von den produktiven Lebenswerten der Kunst Kant zum Kron-
 
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